Exportüberschüsse und die Kritik der USA: Was die Liberalen seit Adam Smith vergessen haben
4. November 2013 | Patrick Schreiner
Deutschland feiert wieder und wieder seine hohen Exportüberschüsse. Dass diese aber eine wesentliche Ursache der aktuellen Finanzkrise und Eurokrise waren und sind – davon will die Bundesregierung nichts wissen, trotz der internationalen Kritik, wie sie beispielsweise aktuell und prominent vom US-amerikanischen Finanzministerium vorgetragen wurde. Dabei würde ausgerechnet ein Blick in das Hauptwerk des in Sonntagsreden gerne zitierten liberalen Vordenkers Adam Smith zeigen, wie sehr Merkel, Rösler, Schäuble und Co. mit ihrer Exportideologie danebenliegen.
Es ist mittlerweile eine ganze Zeit her, seit die damalige französische Finanz- und Wirtschaftsministerin Christine Lagarde stärkere Anstrengungen Deutschlands zum Abbau der seiner Exportüberschüsse verlangt hat. Eine Forderung, die seither wieder und wieder von verschiedenster Seite erhoben wurde - jetzt eben aktuell vom US-amerikanischen Finanzministerium. Mit Händen und Füßen aber wehrten sich Vertreterinnen und Vertreter von Bundesregierung und deutscher Wirtschaft schon zu Zeiten Lagardes gegen einen Abbau der hiesigen Exportüberschüsse:
Dort, wo wir stark sind, werden wir unsere Stärken nicht aufgeben, weil von unseren Exportgütern mehr gekauft werden als vielleicht von anderen Ländern (Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU)
Die deutsche Exportwirtschaft ist äußerst leistungs- und wettbewerbsfähig. Und das ist sehr positiv, wir begrüßen das. (Sprecherin von Wirtschaftsminister Philipp Rösler, FDP)
Ein Leistungsbilanzüberschuss alleine ist zunächst einmal kein Grund für Europa zu handeln. (Regierungssprecher Steffen Seibert)
Statt den schwarzen Peter Deutschland in die Schuhe zu schieben, sollten sich Staaten mit Wettbewerbsproblemen darauf konzentrieren, ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit durch eine konsequente Reformpolitik und eine an der Produktivität orientierte Lohnpolitik zu verbessern. (Werner Schnappauf, BDI-Hauptgeschäftsführer)
Man kann doch einer Volkswirtschaft nicht vorwerfen, dass sie eine hohe Wettbewerbsfähigkeit besitzt. Es wäre fatal, wenn Deutschland seinen Exportüberschuss zurückfährt, nur weil andere EU-Staaten ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. (Marie-Christine Ostermann, Präsidentin Die Familienunternehmer)
Und auch aktuell schlägt man gegen die Kritik aus den USA in die gleiche Kerbe:
Das amerikanische Finanzministerium weiß nicht, wovon es spricht. (Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln)
Die Kritik ist nicht nachvollziehbar. (Bundeswirtschaftsministerium)
Es wurde nun schon oft genug erklärt, weshalb Exportüberschüsse eben gerade kein Ausweis von Erfolg, sondern von schädlichen Ungleichgewichten und Mängeln in der europäischen und letztlich globalen Wirtschaftsordnung darstellen. Dies gilt auch für die eng damit zusammenhängende Vorstellung, Staaten stünden in Konkurrenz zueinander und müssten auf ihre „Wettbewerbsfähigkeit“ achten. Ich möchte diese Argumente hier nicht wiederholen, sondern verweise in diesem Zusammenhang auf je einen gelungenen Artikel der Nachdenkseiten sowie auf maskenfall.de. Erinnert sei zudem auf meine Ausführungen zur neuen Lohndebatte sowie zum Zusammenhang von Ungleichheit und Krise.
Die oben genannten Zitate verdeutlichen eine deutsche Erzählung, die in etwa wie folgt geht: Wenn ein Land sich genug anstrenge, könne es seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Exportüberschüsse seien vor dem Hintergrund internationaler Konkurrenz zwischen Wirtschaftsstandorten Anzeichen von Wettbewerbsfähigkeit und damit von zurückliegenden Anstrengungen. Ein Land, das Exportüberschüsse erziele, werde mit höherem Wohlstand belohnt, den es sich verdient habe. Deutschland habe sich durch die Agenda 2010, durch Lohnzurückhaltung und/oder durch den Aufbau einer hochinnovativen mittelständischen Industrie nach vorne gebracht; dies seien seine Anstrengungen gewesen, für die es heute belohnt werde. Und würden die anderen Länder im Euroraum genauso agieren, könnten sie gleichfalls wettbewerbsfähiger werden und Exportüberschüsse erzielen. Mehr Anstrengungen und Anpassungsleistungen seien also nicht durch Deutschland, sondern durch die anderen Eurostaaten zu erbringen.
Eine fixe Idee hinter dieser Erzählung vom deutschen Exporterfolg ist nun auch jene: Wer Exportüberschüsse erziele, der vergrößere seinen Wohlstand. Ein solches Land mache „Gewinne“, seine Wirtschaftsakteure (Unternehmen, Privathaushalte) verfügten dank der Exportüberschüsse über Geldüberschüsse. Diese seien Ausweis von Wohlstand. Eine schöne volkswirtschaftliche Darstellung und Kritik dieser seltsamen Haltung hat Mark Schieritz vor einiger Zeit in einem Artikel für Die Zeit entwickelt.
Und genau diese Orientierung auf Export- und Geldüberschüsse ist es, die linke Kritikerinnen und Kritiker bewegt, die deutsche Erzählung von den Exportüberschüssen als „neomerkantilistisch“ zu bezeichnen. Wikipedia definiert Merkantilismus wie folgt:
Der Merkantilismus war in Europa die vorherrschende wirtschaftliche Lehrmeinung der Frühmoderne (vom 16. bis zum 18. Jahrhundert). […] Gemeinsam ist dieser wirtschaftspolitischen Praxis das Streben nach Überschüssen im Außenhandel zur wirtschaftlichen Entwicklung des eigenen Staats. Die Kapitalmenge, die durch die staatlichen Goldreserven repräsentiert wird, werde am besten durch eine aktive Handelsbilanz mit hohen Exporten und niedrigen Importen erhöht. Regierungen unterstützten demnach diese Ziele, indem sie Exporte aktiv förderten und Importe durch Anwendung von Zöllen hemmten.
Das Interessante ist, dass dogmengeschichtlich der Liberalismus als die ideologische Grundlage von Marktwirtschaft und ökonomischem Freiheitsdenken in scharfer Abgrenzung gegenüber dem Merkantilismus entstand. Nicht Importhemmnisse und Exportförderung, sondern ein freier Außenhandel war diesem Liberalismus das Ziel. Denn, und das ist der entscheidende Punkt: Man hatte erkannt, dass das Ansammeln von Geld/Kapital (damals noch in Form von Gold und Silber) eben gerade keinen Wohlstand darstellt.
Dies wusste gerade auch Adam Smith, der bis heute von CDU, FDP, Wirtschaft und Co. gerne zitierte Vordenker und Ahnvater von Liberalismus und Neoliberalismus. Kritisch und skeptisch vermerkt er:
Es ist eine weit verbreitete Ansicht, Reichtum bestehe in Geld, Gold oder Silber. Sie hat sich ganz natürlich aus der doppelten Funktion des Geldes gebildet: Es vermittelt den Tausch und mißt den Wert. Besitzen wir Geld, können wir damit, als Folge seiner Tauschmitteleigenschaft, alles, was wir wünschen, leichter als mit irgendeiner anderen Ware beschaffen. Es wird demnach immer unser Hauptanliegen sein, Geld zu bekommen. Hat man es, kann man ohne weiteres alles dafür kaufen. Seine Eigenschaft als Wertmaß erlaubt uns, den Wert aller anderen Güter nach der Geldmenge zu bestimmen, gegen die wir sie tauschen können. So sagen wir, ein reicher Mann sei viel, ein armer nur wenig Geld wert. Von einem sparsamen Menschen, der sehr reich werden möchte, heißt es, er liebe das Geld, von einem sorglosen, großzügigen oder verschwenderischen sagt man, Geld sei ihm gleichgültig. Reich werden heißt, Geld erwerben, weshalb auch in der Umgangssprache die Worte Reichtum und Geld stets synonym gebraucht werden. Wie von einem reichen Mann, so wird auch von einem reichen Land angenommen, es habe Geld im Überfluß. Daher hält man das Aufhäufen von Gold und Silber überall für den schnellsten Weg, um es reich zu machen. (Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. 8. Auflage. München 1999. S. 347-348)
Dieses merkantilistisches Denken, stellt Smith fest, war damals in ganz Europa verbreitet, ökonomisch aber erfolglos:
Alle europäischen Völker haben sich bemüht, diesen Grundgedanken folgend, Mittel und Wege zu finden, um Gold und Silber in ihren Ländern anzusammeln, wenn auch ohne sonderlichen Erfolg. (Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. 8. Auflage. München 1999. S. 349)
Ein solches Denken ist absurd, wie Smith nach über 200 Seiten Analyse des Merkantilismus feststellt. Nicht das Ansammeln von Geld/Kapital/Gold/Silber, sondern die Menge der zur Verfügung stehenden Konsumgüter bestimmt den Wohlstand einer Volkswirtschaft. Entsprechend sind nicht die Interessen der Unternehmen (Angebotsseite), sondern die Interessen der Konsumenten (Nachfrageseite) in den Mittelpunkt zu stellen:
Der Verbrauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion, daher sollte man die Interessen des Produzenten eigentlich nur soweit beachten, wie es erforderlich sein mag, um das Wohl des Konsumenten zu fördern. Diese Maxime leuchtet ohne weiteres ein, so daß es töricht wäre, sie noch beweisen zu wollen. (Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. 8. Auflage. München 1999. S. 558)
Vom Streben nach Überschüssen in der Handelsbilanz hält Smith konsequenterweise und richtigerweise nichts.
Es wäre wünschenswert, wenn die Liberalen und Neoliberalen von heute sich dieser zentralen Argumentation ihres wichtigsten Vordenkers erinnern würden. Viel zu selten tun sie das. Aber es gibt Lichtblicke. Im Juli 2013 hat Patrick Welter in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung den „Mythos vom Exportweltmeister“ unter Rückgriff auf die liberalen Urahnen Adam Smith und David Ricardo auseinandergenommen:
Das jährliche öffentliche Getöse um die „Exportweltmeisterschaft“ oder die politischen Verrenkungen um die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes belegen eindrucksvoll, wie sehr das außenwirtschaftliche Denken in den Kategorien Sieg oder Niederlage verhaftet ist. Bei näherer Betrachtung ist das ganz einfach Unfug. (Patrick Welter: Der Mythos vom Exportweltmeister. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7.7.2013)
Recht hat er. Genauso wie das US-amerikanische Finanzministerium. Man kann gespannt sein, ob sich durch den voraussichtlichen Eintritt der SPD in die Bundesregierung an dieser bundesdeutschen Wirtschaftsideologie etwas ändern wird...
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.