Der Volksbegriff der Rechten unterscheidet sich grundsätzlich von dem der Linken
16. März 2017 | Kolja Möller
»We, the people«, »Alle Gewalt geht vom Volke aus« - so steht es am Anfang demokratischer Verfassungstexte. Aber wer ist das Volk? Woraus besteht es? Aus allen, die einen gemeinsamen Lebensstil teilen, aus den Inhabern gültiger Personalausweise, oder ist das Volk nur der lyrische Grund der Verfassung - und sonst nichts? Gegenwärtig konstruiert sich der rechte Populismus erfolgreich sein Volk herbei. Von der AfD bis zur französischen Front National besteht eine folgenreiche Annahme: Das Volk existierte schon immer erkennbar. Es besteht aus einer nationalen Mittelschicht, die durch scheinbar normale Grenzen und innere Homogenität definiert ist.
Das Volk der Rechten ist eine Ansammlung rigider Grenzregimes. Da sind erstens die territorialen Grenzen des Nationalstaats. Das schon präexistente, homogene Staatsvolk braucht einen eigenen, abgeschotteten Raum, um seine kulturelle Lebensweise verfolgen zu können.
Das zweite Grenzregime ist die Geschlechterordnung. Die Rechtspopulisten unterstellen eine natürliche Grenze zwischen Männern und Frauen und erheben die Lebensweise der bürgerlichen Kleinfamilie (Vater, Mutter, Kinder) zum Leitbild. Deshalb polemisieren sie gegen die bodenständigen Einsichten (»abgehobener«?) wissenschaftlicher Forschung. Sie hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder gezeigt, dass die Grenzen zwischen den Geschlechtern nicht »natürlich« sind und immer schon vorliegen, sondern Teil historisch gewachsener Praktiken des Unterscheidens sind.
Das dritte Grenzregime ist die Grenze zwischen Hand- und Kopfarbeit: Die scharfen Attacken aufs Vernünfteln und die Intellektuellen insgesamt sind nur auf den ersten Blick gegen eine vermeintliche Elite gerichtet. Bei Lichte betrachtet haben die Rechtspopulisten überhaupt kein Problem mit Eliten, Führungsfiguren oder Intellektuellen. Die AfD beispielsweise ist eine - wenigstens wenn man sich die Biografien ihrer Bundesvorstandmitglieder vor Augen hält - lupenreine Akademikerpartei. Doch die Grenze zwischen Hand- und Kopfarbeit ist für sie bedeutsam: Man will sich nicht durch abweichende Überlegungen oder Erkenntnisse irritieren lassen. Das Motto lautet: Alle an ihren Platz. Die Frau in die Küche, der Professor in den Hörsaal, der Arbeiter ans Fließband.
Die Feinde des Volkes sind schnell identifiziert. Die Grenzöffnerin Angela Merkel, die wissenschaftliche Forschung und die auf Gleichheit und Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse bedachten Linken verfolgen, so die Erzählung der Rechtspopulisten, am Ende doch eine gemeinsame Allianz der Grenzverletzung. Wenn sich die staatliche Exekutive an geltendes Recht und Verfassung hält (»Politisch Verfolgte genießen Asyl.«), wird daraus ein »Staatsversagen« modelliert. Staatliches Handeln soll sich nämlich nicht strikt an Recht und Gesetz orientieren, sondern zuerst das Grenzsammelsurium des »Volkes der Rechten« schützen - und es im Zweifel mit den Grund- und Menschenrechten aller hier Lebenden nicht zu ernst nehmen.
Die Unterstellung eines solchen präexistenten Volkes zeitigt Folgen für die politische Repräsentation. Steht schon immer fest, wer das Volk ist (das Volk der Rechten), kann man sich die Diskussionen sparen. Man braucht eigentlich immer nur einen, der das sagt, was sowieso schon alle wissen. Die theoretische Vorlage entstammt der Verfassungslehre des Theoretikers der konservativen Revolution, Carl Schmitt, aus dem Jahre 1928. Hier hatte Schmitt, der als Kronjurist der Nationalsozialisten in die Geschichte eingegangen ist, die Grundlagen für ein solches Volkskonzept gelegt: Das Volk war schon immer da. Die politische Zentralressource ist die Akklamation, das gemeinsame Klatschen und Aufstehen. Heute ersetzen die Echokammern in den sozialen Medien die inszenierten Jubel- und Saalveranstaltungen der 1920er Jahre. Doch ihre Struktur ist in vielerlei Hinsicht ähnlich. Es entfaltet sich ein exzessiver Überbietungswettbewerb, um das, was schon da ist, möglichst effektiv und extrem gegen die Allianz der Grenzverletzer in Stellung zu bringen.
Das Volk der Rechten ist ein attraktives politisches Angebot. Die historisch tradierten Grenzziehungen zwischen Innen und Außen, der Welt und der BRD, zwischen Männern und Frauen, In- und Ausländern waren zwar immer in Bewegung und veränderbar, doch die Globalisierung der sozialen Frage hat sie in den letzten Jahren nochmals dynamisiert. Darauf reagieren die Rechtspopulisten mit einer Kontraktionsbewegung, einer Bewegung des Zusammenziehens um ein unterstelltes normales »Volk«, das - gegen jede Empirie und die Faktenlage - durch klare Grenzen definiert sein soll.
Zu Beginn des Wahljahres 2017 orientieren sich Spitzenpolitiker aller politischen Parteien am Volk der Rechten. Man will die eigene kulturelle Lebensweise gegen Feinde verteidigen, ruft nach strenger Grenzsicherung, polemisiert gegen »abgehobene« wissenschaftliche Forschung, und findet, dass sich das Handeln der Staatsorgane nicht an der Verfassung, sondern am »Volk der Rechten« orientieren sollte. Deshalb wird die stigmatisierende Kontrolle der hier lebenden Migranten durch die Polizei auch nicht zum Skandal. Denn sie gehören schlicht nicht zum Volk (der Rechten).
Wer also die Bundestagswahl nicht der AfD und der CSU überlassen will, muss umsteuern. Statt sich das Volk der Rechten als zentralen politischen Bezugspunkt aufdrücken zu lassen, wären demokratische und linke Kräfte gut beraten, ihre Politik an einem anderen »Volk« - dem »Volk« der Linken - zu orientieren. Das »Volk« der Linken funktioniert anders als das Volk der Rechten. Denn das »Volk« der Linken existiert nicht immer schon vorgängig und homogen. Es ist durch Negativität bestimmt, das heißt, es bildet sich als Reaktion auf soziale Missstände, auf die Konzentration von Macht- und Handlungsressourcen in den Händen weniger und in und durch gemeinsame soziale Kämpfe.
Das »Volk« der Arbeiterbewegung - das Proletariat - wandte sich gegen den kapitalistischen Arbeitsvertrag (und kam erst mit ihm in die Welt); antikoloniale Befreiungsbewegungen wehrten sich gegen die Kolonialmächte (und bildeten ihr »Volk« erst in dieser Auseinandersetzung). Das »Volk« umfasst diejenigen, die daran arbeiten, die Verhältnisse zu überwinden und die unter ihnen leiden. Damit ist das »Volk« der Linken in sich vielfältig (und nicht homogen). Es ist nicht vollkommen grenzenlos, die Grenze aber wird in dieser politischen Auseinandersetzung nur nach »oben« gezogen, ausdrücklich nicht gegenüber anderen unterdrückten gesellschaftliche Gruppen.
Das »Volk« der Linken kann deshalb nicht das nationale Staatsvolk sein. Die Allianz der Unterworfenen überschreitet seine Grenzen schon deshalb, weil sich Macht- und Ausbeutungsverhältnisse längst im weltweiten Maßstab bewegen. Damit sind die Flüchtlinge nicht die andere Seite des Volkes, sondern sein integraler Bestandteil. So entsteht eine eigene, demokratische Reflexivität im »Volk« der Linken: Weil es nicht schon immer vorgängig existiert, muss es seine Grenzen variabel halten. Politisch wirksam wird es nur, wenn es ein Wechselspiel zwischen einer zusammenziehenden Bewegung, um Handlungsfähigkeit herzustellen, und einer Bewegung der Öffnung kultiviert. Es reißt damit auch immer »die Mauern ein, die uns trennen« (Ton Steine Scherben).
Damit nimmt das »Volk« der Linken in seinem Inneren das auf, was dem Volk der Rechten fehlt: die Einsicht in die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, die historisch belegbare Variabilität ihrer Grenzen und damit die Perspektive auf ein besseres und dann eben auch ganz anderes Leben. Das »Volk« der Linken setzt angesichts von Veränderungsprozessen und Krisen nicht einseitig auf eine Spirale der allseitigen Verhärtung um ein Sammelsurium der Grenzregime, sondern erhält sich seine Wendigkeit. Eine Erfolg versprechende Restabilisierung macht auch immer Öffnung und Neubestimmung erforderlich.
Gerade deshalb ist es wichtig, wie progressive Parteien und Bewegungen mit der Migrationsfrage, mit den Flüchtlingen und mit den schon hier lebenden Migrantinnen und Migranten umgehen. Hier geht es nicht nur um den Kampf gegen Leid oder um Integration. Es ist ein grundlegender Prüfstein: Die Migrantinnen und Migranten gehören zum »Volk« der Linken. Sie sind in erster Linie nicht pauschale »Gefährder« oder Objekte staatlicher Ordnungspolitik, sondern zunächst ernst zu nehmende Akteure, die schon jetzt Teil des gesellschaftlichen Lebens und der politischen Willensbildung sind (auch wenn sich das in der Personalauswahl und den Verfahren des politischen Systems bisher nur unzureichend ausdrückt).
Wenn der (schwarze) Rapper Killer Mike auf die Bühne tritt, bevor der (weiße) amerikanische Demokrat Bernie Sanders die Benachteiligung der »working families« angreift; wenn der englische Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn sich für die Flüchtlinge im französischen Calais einsetzt und die englische Regierung zu ihrer Aufnahme auffordert; wenn sich Bürgerinnen und Bürger in der konstituierenden Initiative von Yanis Varoufakis, DiEM25, über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg zusammenschließen und daran arbeiten, ein europäischen »demos« zu bilden; wenn in der BRD massenhaft Flüchtlingshelfer in Kirchen, Vereinen und Initiativen zusammenkommen, um Kleiderspenden zu organisieren - dann wird die Grenze zwischen dem »Volk« der Linken und dem Volk der Rechten sichtbar.
Das »Volk« der Linken sichtbar zu machen, ist keine leichte Aufgabe. Aber statt den einfachen Weg zu gehen und - frei nach Bertolt Brechts berühmtem Diktum - das eigene Volk »aufzulösen« und sich das Volk der Rechten als Volk auszuwählen, sollten die progressiven Kräfte ihren Schwerpunkt verschieben - und das »Volk« der Linken endlich politisch (mit-)konstituieren.
Dieser Artikel erschien zuerst am 6.2.2017 in der Tageszeitung Neues Deutschland. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Kolja Möller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster »Normative Ordnungen« der Universität Frankfurt am Main und Herausgeber des online Magazins »prager frühling« (www.prager-fruehling-magazin.de).