Ein Blick ins Wahlprogramm: Die AfD ist keine Partei für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
14. Juni 2017 | Markus Krüsemann, Patrick Schreiner
Auf dem Bundesparteitag Ende April in Köln hat die AfD ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl beschlossen. Herausgekommen ist eine krude Mischung, die sich in Teilbereichen zumindest formal an Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und sozial Benachteiligte wendet. Doch was hat die AfD diesen Menschen tatsächlich anzubieten?
Wofür steht und wohin steuert die AfD? Dazu wurde auch auf diesem Blog schon einiges geschrieben, und es scheint immer noch nicht gelingen zu wollen, die Partei auf einen klarer definierbaren Nenner zu bringen als das Label „rechte Sammlungsbewegung“. Das liegt an der Partei selbst, die – von unterschiedlichen Strömungen beeinflusst – auch weiterhin im Wandel begriffen ist, ein Wandel, der mit parteiinternen Machtkämpfen und Flügelbildungen verknüpft ist. Auch dies wurde nicht zuletzt auf ihrem Kölner Parteitag mehr als deutlich.
Nachdem die AfD im Frühjahr 2013 unter maßgeblichem Einfluss ihres damaligen Vorsitzenden Bernd Lucke als professorale Anti-Euro-Partei mit einem klaren neoliberalen Programm gestartet war, verschob sich mit dem Erstarken national-konservativer und weiter rechts stehender Kräfte der politische Schwerpunkt. Schon unter Lucke hatte sich der marktradikale Wirtschaftsliberalismus keinesfalls unbeabsichtigt mit nationalliberalen bis nationalkonservativen Elementen verwoben. Dies wurde für Viele erst nach dessen Abwahl und anschließendem Parteiaustritt sinnfällig. Da aber war aus dem Projekt einer ökonomischen Elite längst schon ein Sammelbecken nicht nur neoliberaler, sondern auch nationalkonservativer und nationalistischer bis extrem rechter Kräfte geworden.
In dem Maße, in dem die ProtagonistInnen nationalistischer und völkischer Ideologien an Einfluss gewannen, trat die AfD immer stärker als migrations- und fremdenfeindliche Partei in Erscheinung, die sich in der Debatte um die Flüchtlingspolitik vor allem mit islamfeindlichen Positionen hervortat. Weil sie sich dabei immer auch als Anti-Establishment-Partei darstellen konnte, stieß sie nicht nur in den Reihen rechter und extrem rechter Wählergruppen auf Zustimmung, sondern auch bei Protest- und Denkzettelwählern sowie Modernisierungsskeptikern. Sie versteht es, nationalistische und rassistische Ressentiments und Vorurteile zu schüren – und sie tat dies in den letzten Jahren auch immer offensiver und offener.
Auf der Suche nach einer breiteren WählerInnenbasis
Seit dem Abflauen der Flüchtlingsberichterstattung sieht sich die AfD allerdings mit nachlassendem Interesse und schrumpfenden Umfragewerten konfrontiert. Ihre medial bisher so wirksamen Kernthemen scheinen (derzeit) nicht mehr so recht zu ziehen. Dies gilt auch für ihre lange erfolgreiche Medienstrategie des kalkulierten Tabubruchs. Hinter den Kulissen sorgt das für Unruhe und Streit.
Um das Ziel zu erreichen, sich mit einem möglichst zweistelligen Wahlergebnis als dauerhafte politische Kraft zu etablieren, ist die Partei seit einiger Zeit auf der Suche nach weiteren und breiteren Wählergruppen. Jenseits der Euro- und Europa-SkeptikerInnen, der Anti-Establishment-ProtestwählerInnen und der überzeugten Islam- und Fremdenfeinde wie auch der Salon- und SchlägerfaschistInnen will sie bei der bürgerlich-konservativen Wählerschaft, aber auch bei den gemäßigt konservativen und den in prekären Verhältnissen lebenden ArbeitnehmerInnen und Angestellten Stimmen abgreifen. AfD-Vize Alexander Gauland etwa hatte schon im Sommer 2015 das Thema Mindestlohn für die Partei entdeckt: Nachdem man lange gegen einen Mindestlohn war (siehe unten), warnte er damals vor einem möglichen Wettbewerbsvorteil von Flüchtlingen, wenn für diese eine Ausnahme beim Mindestlohn eingeführt wurde.
An diesem Beispiel wird zugleich deutlich, dass und wie die AfD mit der sozialen Frage umgeht: Sie ethnisiert sie. Sie diskutiert sie nicht als grundsätzliche Frage der gleichberechtigten sozialen Teilhabe aller, sondern als ein weiteres Vehikel, um einen Keil in die Gesellschaft zu treiben: einen Keil zwischen Deutsche und (vermeintlich) Nichtdeutsche, wobei sie insbesondere Flüchtlinge ins Visier nimmt.
Wird sie mit solchen und anderen an abhängig Beschäftigte adressierten populistischen Stellungnahmen aber wirklich zu einer Partei der ArbeiterInnen und der kleinen Leute? In einem der Partei zugeschriebenen vertraulichen Strategiepapier vom Dezember 2016 wird die Zielgruppe der abhängig Beschäftigten explizit angeführt und genauer umrissen. Ansprechen wolle die AfD einerseits leistungsorientierte ArbeitnehmerInnen mit liberal-konservativer Wertorientierung, andererseits erwerbstätige und arbeitslose Menschen mit unterdurchschnittlichem Einkommen in so genannten prekären Stadtteilen, die sich von den anderen Parteien nicht ernst genommen und außerdem als Verlierer der Globalisierung fühlen.
Um die bürgerliche Arbeiterschaft und die abgestiegenen oder abstiegsbedrohten abhängig Erwerbstätigen zu umwerben, versucht die AfD, sich ein anderes Gesicht geben. Dafür muss sie sich um mehr Seriosität bemühen, und sie muss sich einen erkennbar sozialpolitischen Zug verpassen. Während sich das Biedermann-Image durch eine stärkere Abgrenzung nach Ganz-Rechts-Außen aufpolieren lässt, sollen (scheinbar oder tatsächlich) arbeitnehmerfreundliche sozialpolitische Positionen das Image einer Partei der kleinen Leute transportieren. Diese Strategie ist keineswegs neu, zeichnet sich aber im Bundestagswahlprogramm 2017 einmal mehr deutlich ab.
Was hält das Programm zur Bundestagswahl bereit?
Was aber hat die Partei für eben diese „kleinen Leute“ programmatisch tatsächlich zu bieten? Mit welchen politischen Vorhaben möchte sie die ArbeitnehmerInnen-Interessen vertreten? Bietet sie inhaltliche Alternativen für abhängig Beschäftigte, für Arbeitslose und RuheständlerInnen an, auch und gerade, wenn diese materiell schlechter gestellt sind? Was können sich diese Menschen von der AfD erhoffen? Ein sozial- und wirtschaftspolitischer Blick in ihr Bundestags-Wahlprogramm:
1. Mehr deregulieren – in (fast) jeder Hinsicht auf den Markt setzen
Die wirtschaftsliberalen UnternehmerfreundInnen in der AfD konnten sich an zahlreichen Punkten durchsetzen. Wie anders ist es zu erklären, dass die AfD schreibt, sie wolle „Regulierungen und Bürokratie überprüfen und abbauen.“ Das ist klassischer neoliberaler Sprachgebrauch. Arbeitgeber und Unternehmen können sich freuen. Und auch darüber hinaus zeigt sich die AfD an vielen Stellen äußerst marktfreundlich. Sie will die internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken; sie will Steuergeschenke für jene Unternehmen ausweiten, die Forschung und Entwicklung betreiben; sie will „Unternehmergeist fördern“; sie will „Belastungen für kleine und mittlere Unternehmen“ senken.
Auch ihr grundsätzliches Verständnis einer vernünftigen Wirtschaft beschreibt die Partei ziemlich genau so, wie es MarktextremistInnen gerne tun: „Grundlegende Elemente für eine prosperierende Wirtschaft sind für die AfD die Eigenverantwortung der Wirtschaftssubjekte mit dem Gegenstück Haftung für das eigene Handeln, die Garantie des Privateigentums und der Marktpreis als Steuerungsmechanismus für wirtschaftliche Entscheidungen.“ Einmal mehr klassischer neoliberaler Sprachgebrauch. Die Überlegung, dass Märkte aus sich heraus negative Folgen produzieren und deshalb politische Grenzen und Lenkung brauchen, findet sich im Programm der AfD nicht. Und auch nicht die Überlegung, dass gerade ArbeitnehmerInnen auf solche Grenzen und Lenkung besonders angewiesen sind.
Wie die AfD bei alldem ihre antibürokratischen und marktextremistischen Vorstellungen mit Mindestlohn und dem Abbau prekärer Beschäftigung (siehe unten) verbinden möchte, dürfte spannend werden. Schließlich gelten ja beispielsweise Maßnahmen gegen prekäre Arbeit den neoliberalen UnternehmerfreundInnen als bürokratisch und marktfeindlich. Auch darüber hinaus stehen manche sozialpolitische Forderung und die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der AfD unverbunden nebeneinander. Dass sie schreibt, sie sehe ihre Wirtschafts- und Steuerpolitik „auch als Teil der Sozialpolitik“, sollte daher stutzig und skeptisch machen: Am Ende dürften die marktextremistischen Ideen gegenüber den sozialen dort dominieren, wo beide miteinander in Widerspruch geraten. Und das ist an vielen Stellen der Fall.
2. Prekäre Beschäftigung zurückdrängen
Die AfD erkennt an, dass es einen zunehmenden Anteil von „prekären Beschäftigungsverhältnissen“ gibt. Den möchte sie zurückdrängen, denn er wirke sich negativ auf „den Wohlstand“ aus, woraus sich negative Folgen für „die Demografie“ ergäben. Was hier als Politikansatz zunächst nicht verkehrt erscheint, ist analytisch mehr als zu kurz gesprungen. Da die Partei dem Thema nur wenige Zeilen einräumt, bleibt weitgehend unklar, was die AfD unter prekärer Arbeit genau versteht. Offensichtlich zählen aber Leiharbeit und Werkverträge zu den prekären Beschäftigungsformen, denn für deren Begrenzung  lautet der programmatische Vorschlag: „Die AfD fordert (...) eine gesetzliche Obergrenze von 15 Prozent Beschäftigten mit Leih- oder Werkverträgen in Unternehmen.“
Das ist erstens äußerst unpräzise formuliert, denn „Beschäftigte mit Werkverträgen in Unternehmen" sind überhaupt nicht erlaubt. Dabei würde es sich um Scheinselbstständige handeln. Gemeint ist hier wohl der Anteil an Beschäftigten, die von Subunternehmen geschickt worden sind und neben den regulär Beschäftigten arbeiten (On-Site-Werkverträge). Zweitens ist die Forderung unterkomplex, eine derart pauschale Quote dürfte gerade bei Werkverträgen politisch, aber vor allem praktisch kaum umsetzbar sein (auch Reinigungskräfte, Kantinenpersonal oder Bauarbeiter, die einem Betrieb eine neue Halle bauen, sind über eine Werkvertragsnehmer-Firma angestellt!). Für die Leiharbeit hat man immerhin noch den Vorschlag parat, dass sie „nach einer sechsmonatigen Beschäftigungszeit einer festen Anstellung gleichgestellt“ werden soll. Wir unterstellen, damit sind Equal Pay und völlig identische Arbeitsbedingungen mit der Kernbelegschaft gemeint. Dann ist das ein guter Punkt – aber wieso erst nach sechs Monaten? Zudem lässt der Begriff der Gleichstellung erheblichen Interpretationsspielraum.
Neben Leih- und Werkvertragsarbeit gilt der AfD noch die befristete Beschäftigung als prekär. Das ist zu begrüßen, denn da muss sich was tun, schließlich ist die Zahl der befristet Beschäftigten in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen. Ihr Vorschlag allerdings: Solche Zeitarbeitsverträge „dürfen nur unter festgelegten Bedingungen abgeschlossen werden“. Das ist eine ebenso unklare wie überflüssige Aussage, denn solche Bedingungen gibt es heute schon. Offensichtlich hat die Partei keine konkrete Vorstellung, welche Maßnahmen sie hier ergreifen will, um diese Form der prekären Beschäftigung zurückzudrängen.
Die AfD präsentiert hier keine tragfähigen Lösungsansätze. Dafür ist schon die Bestandsaufnahme viel zu unpräzise. Die „kleinen Leute“ werden hier sicherlich nicht adressiert, zumal das Programm zu übergeordneten zentralen Fragen der Arbeitnehmerschaft überhaupt keine Stellung bezieht: Tarifbindung? Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen? Betriebliche Mitbestimmung? Unternehmensmitbestimmung? Fehlanzeige. Der ganze Abschnitt, so unser Eindruck, wirkt wie zusammengeschustert.
3. Mindestlohn beibehalten
Seit 2015 gilt in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn. Seiner Einführung ging eine lange Phase der politischen Auseinandersetzung voraus, in der mit oft harten Bandagen gekämpft worden ist. Auf der Seite der MindestlohngegnerInnen hat sich die AfD lange Zeit prominent in Szene gesetzt. Mittlerweile ist sie an einer Ablehnung des Mindestlohns nicht mehr interessiert. Im Bundeswahlprogramm heißt es nun: „Die AfD befürwortet einen gesetzlichen Mindestlohn“. Er stärke „die vergleichsweise schwache Position der Niedriglohnempfänger“ und erlaube „eine Existenz jenseits der Armutsgrenze“. Nur kann der aktuelle Mindestlohn gerade keine wirklich armutsfeste Entlohnung (nicht nur, aber gerade auch mit Blick auf die Rente) für alle garantieren, denn dafür ist er zu niedrig. Müsste die Lohnuntergrenze also angehoben werden? Die AfD hält sich bedeckt, zur Höhe des Mindestlohns macht sie keine Aussage. Und auch zum zweiten vieldiskutierten und wichtigen Thema rund um den Mindestlohn – die problematischen Ausnahmen, die seine Wirksamkeit begrenzen – hat die Partei offenbar nichts zu sagen.
Nachdem die negativen Beschäftigungswirkungen ausgeblieben sind und die Lohnuntergrenze sich als Erfolgsmodell entpuppt hat, kann die AfD-Positionierung pro Mindestlohn nicht wirklich überraschen. Sie ist quasi unvermeidbar, will man sich nicht ins Abseits der Weltfremden stellen. Selbst die FDP will am Mindestlohn nicht mehr rühren. Deren Parteichef Lindner hatte zuletzt erklärt, man müsse "viele Bretter vor dem Kopf haben, um diese Schlachten noch mal zu schlagen". Natürlich hat hier wie dort kein echter Gesinnungswandel eingesetzt. Vielmehr ist man in beiden Parteien wohl zu der Einsicht gelangt, dass die Forderung nach einer Abschaffung des Mindestlohns kaum mehr auf Verständnis stoßen dürfte und in breiten Teilen der Bevölkerung unpopulär wäre. Zudem sind beide Parteien mit ihren inkompetenten früheren Aussagen zu den angeblich schädlichen Auswirkungen eines Mindestlohns krachend an der Realität gescheitert.
Als Grund für die Befürwortung des Mindestlohns wird seitens der AfD übrigens auf die Problematik angespielt, dass Geringverdienende spätestens im Ruhestand oftmals auf finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand angewiesen sind. Daraus leitet die Partei ab: „Mindestlöhne verhindern somit auch die Privatisierung von Gewinnen bei gleichzeitiger Sozialisierung der Armutskosten.“ Hier hat man sich doch tatsächlich einen seit Jahren aus den Reihen der politischen Linken erhobenen Vorwurf (Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert) auf etwas schräge Art zu eigen gemacht. Ob die Verfasser sich klar sind, was es heißt, wenn man wirklich die Privatisierung von Gewinnen verhindern will?
4. Sozialpolitik machen – aber nur für Auserwählte
Kapitel 11 widmet sich auf gerade mal drei Seiten dem komplexen Politikfeld der Sozialpolitik. Eine halbe Seite wird davon bereits verschenkt, weil die Partei das Kapitel mit einem Diktum eröffnet, das die Sozialpolitik mit Zuwanderung verknüpft – als gäbe es in diesem Politikfeld nicht wichtigere und grundlegendere Regulierungsbedarfe. Und doch sollte man das nicht überlesen, denn bereits hier wird die Basis für eine sozialpolitische Ideologie der Entsolidarisierung und der Aufspaltung der Gesellschaft in Schützenswerte und Unerwünschte gelegt: Nach dem Willen der Partei sollen alle Leistungen der sozialen Sicherungssysteme zukünftig nur „innerhalb einer klar definierten und begrenzten Gemeinschaft“ erbracht werden. Nun zielt diese Äußerung allerdings – entgegen ihrem Wortlaut – keineswegs darauf, rechtlich zu definieren, wer Ansprüche auf soziale Sicherungsleistungen hat. Eine solche Definition gibt es nämlich auch heute schon. Der AfD geht es vielmehr darum, den Kreis der Auserwählten enger zu fassen. Und wer diese Auserwählten sind, das kann man sich denken.
Ganz offensichtlich folgt die AfD hier den Versuchen anderer rechter bzw. rechtspopulistischer Parteien, die „soziale Frage“ zwar zu stellen, um eine konservative Arbeitnehmerschaft und sozial Benachteiligte anzusprechen, sie zugleich aber völkisch-nationalistisch umzudeuten. Wie oben bereits kurz angerissen, werden soziale (und ökonomische) Problemlagen von der Partei und ihren VertreterInnen nationalisiert und ethnisiert. Die soziale Polarisierung der Gesellschaft gilt ihr nicht als eine Frage des „Oben“ und „Unten“, sondern als eine des „Innen“ und „Außen“. Dieser Aspekt ihrer Sozialpolitik wird in Äußerungen und Reden von AfD-PolitikerInnen sicherlich noch deutlicher als in ihrem Bundestagswahlprogramm: Vor der eigenen Anhängerschaft, an Biertischen und auf Marktplätzen zieht man offener und deutlicher vom Leder, als wenn man auch seriöse WählerInnen für sich gewinnen möchte.
5. Rente nur nach Erreichen einer Lebensarbeitszeit gewähren
Im Wahlprogramm heißt es: „Die AfD fordert, die Rente zukünftig bei Erreichen einer Lebensarbeitszeit von bis zu 45 Jahren, statt wie bisher vom Lebensalter abhängig, zu gewähren.“
Wir wissen nicht, wie viele Jahre der AfD als Lebensarbeitszeit vorschweben. Denn „bis zu 45 Jahren“ kann nun mal alles zwischen null und 45 sein. Allerdings ist durchaus zu vermuten, dass die heute gültigen 45 Jahre der „Standardrente“ gemeint sind, wie es auch der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen angedeutet hat. Dann aber bedeutet dies dreierlei: Erstens, dass das Renteneintrittsalter für viele Beschäftigte deutlich angehoben wird. Rente mit 69, 73, 75 wird dann für viele ArbeitnehmerInnen Realität. Denn immer mehr – vor allem Menschen aus strukturschwachen Städten und Regionen – kommen kaum noch auf mehrere Jahrzehnte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Lange Phasen der Arbeitslosigkeit sind der Grund dafür. Hinzu kommt, dass in den letzten Jahrzehnten die Menschen im Durchschnitt immer länger die Schul- und Hochschulbank gedrückt haben, was zu einem späteren Berufseinstieg führte. Selbst wenn ein Teil dieser Zeiten angerechnet würde, bestraft die AfD zumindest bestimmte Formen von Bildung und Ausbildung. Und da Frauen einen weitaus größeren Teil der Erziehungsarbeit leisten, wären auch sie die besonders Gekniffenen. Zweitens bedeutet es, dass gerade Menschen mit körperlich und psychisch belastenden Berufen faktisch Rentenkürzungen hinnehmen müssten. Bauarbeiter, Hilfsarbeiterinnen und Erzieher beispielsweise schaffen es heute schon besonders häufig nicht, bis zum Rentenalter zu arbeiten. Sie hätten mit der AfD zusätzlich das Nachsehen.
Übrigens: Was passiert eigentlich, wenn jemand 30 Jahre in die Rentenkasse einbezahlt hat, aber gemäß AfD dafür keine Rentenleistungen erhält? Verfallen diese Ansprüche? Das wäre nicht nur ungerecht, sondern vermutlich auch verfassungsrechtlich fragwürdig. Schließlich hat man ja in eine Sozialversicherung eingezahlt und damit Ansprüche erworben.
(Nachträgliche Anmerkung: Ohne dass zwischenzeitlich ein weiterer Parteitag stattgefunden hätte, auf dem dies beschlossen hätte werden können, hat die AfD in neueren Fassungen des Wahlprogramms die Formulierung zum Renteneintritt geändert. Sie stellt nun klar, dass "bei der Berechnung der Rente [...] alle Beitragszeiten" berücksichtigt werden und dass die "bis zu 45" Jahre sich auf den Bezug einer "abschlagsfrei[en]" Rente beziehen. Sieht man von der mangelnden demokratischen Legitimation dieser Umformulierung ab, ist damit nur ein Teil der hier genannten Probleme gelöst. Insbesondere bleibt es dabei, dass die AfD-Beschlusslage für viele abhängig Beschäftigte einen deutlich späteren Renteneintritt oder deutlich höhere Rentenabschläge bedeuten würde.)
6. Private und betriebliche Altersvorsorge stärken
Dass kapitalgedeckte Altersvorsorgemodelle für Beschäftigte nachteilig und teuer sind, hat sich offenbar nicht bis zur AfD herumgesprochen. Wie sonst wäre zu erklären, dass sie in ihrem Wahlprogramm schreibt: „Unbeschadet solcher Hilfestellung außerhalb der Beitragsfinanzierung der staatlichen Renten müssen die beiden Säulen Betriebsrente und rein private Altersvorsorge gesetzgeberisch gestärkt werden.“ (Dass fast alle anderen Parteien ebenfalls auf betriebliche und private Renten setzen, zeigt nur, wie weit verbreitet der Glaube an den Segen kapitalgedeckter Altersvorsorge inzwischen ist – und wie wenig sich die AfD diesbezüglich vom sozialpolitischen Mainstream unterscheidet.)
Betriebsrenten mögen in manchen Fällen ja ergänzend (!) dann noch sinnvoll sein, wenn der Arbeitgeber sich in nennenswertem Umfang daran beteiligt. (Das Ziel der Arbeitgeberbeteiligung an Betriebsrenten fehlt im AfD-Programm…) Eine „rein private Altersvorsorge“ aber lohnt sich für die Beschäftigten niemals, verglichen mit der Gesetzlichen Rente. Schlicht und einfach deshalb, weil hier die 50-Prozent-Beteiligung des Arbeitgebers entfällt. Dennoch ist in den frühen 2000er Jahren die neoliberale Hoffnung, Kürzungen bei der gesetzlichen Rente durch eine Stärkung (letztlich Subventionierung) privater Altersvorsorgemodelle wettmachen zu können, mit der kapitalmarktbasierten „Riester-Rente“ Realität geworden. Man hat eine Teilprivatisierung der Altersvorsorge vorgenommen: Die gesetzliche Rente kürzte man, und um die niedrigeren gesetzlichen Renten auszugleichen, sollten ArbeitnehmerInnen nun im entsprechenden Umfang selbst privat vorsorgen. Dafür erhalten sie staatliche Zulagen und Steuerermäßigungen. 2012 kosteten diese insgesamt über 3,6 Mrd. Euro – faktisch eine Subventionierung der Finanzwirtschaft. Während man also Arbeitgeber teilweise aus der Finanzierung des Rentensystems entließ, belastete man ArbeitnehmerInnen und Steuerzahlende umso mehr. Banken und Versicherungen rieben sich die Hände. Bis heute haben sie über 16 Mio. Riester-Verträge abgeschlossen.
Mittlerweile ist in Sachen „Riester“ gleichwohl Ernüchterung eingekehrt. Besonders in der aktuellen Niedrigzinsphase können die Versicherungen die erhofften Renditen nicht erwirtschaften. Sie liegen bei den meisten Riester-Verträgen unter der Rendite der gesetzlichen Rente. Hinzu kommt, dass von über 40 Mio. ArbeitnehmerInnen nur etwa zehn Millionen (überwiegend Normal- bis Gutverdienende) überhaupt einen zulagenberechtigten Riester-Vertrag haben, Tendenz stagnierend.
Die Hoffnung, niedrigere Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung durch private Eigenvorsorge ausgleichen zu können, erweist sich damit als trügerisch und teuer. Wie teuer, das hat die Arbeitnehmerkammer Bremen berechnet. Um mittels Privatvorsorge alle Risiken abzudecken, die die gesetzliche Rentenversicherung noch in den 1990er Jahren abgedeckt hatte, muss einE ArbeitnehmerIn im Jahr 2030 neun Prozent des eigenen Einkommens aufwenden. Würden diese Versicherungsleistungen paritätisch finanziert, so müssten die Arbeitgeber 4,5 Prozent übernehmen. Dank der Rentenreformen sind sie davon aber entbunden. Das bedeutet: Abhängig Beschäftigte schenken den Arbeitgebern faktisch 4,5 Prozent ihres Einkommens. Monat für Monat. Was der AfD offenbar gefällt. Sie möchte sogar noch mehr daraus machen – anders ist die entsprechende Passage aus ihrem Wahlprogramm nicht zu verstehen.
Richtig wäre das Gegenteil: Die Teilprivatisierung der Rente rückabzuwickeln und die Gesetzliche Rentenversicherung zu stärken.
Die AfD betont stattdessen gleich zweimal (!), dass die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank die Betriebsrenten gefährde und Deutschland deshalb aus dem Euro austreten solle. Es drängt sich hier durchaus der Verdacht auf, dass die Partei Betriebsrenten möglicherweise nur deshalb so offensiv befürwortet, damit sie EZB und Euro ebenso offensiv ablehnen kann. Die Prioritäten jedenfalls sind klar: Eine Anti-Euro-Politik ist ihr wichtiger als eine gute Rentenpolitik.
7. EZB und Euro kritisieren – aber nicht aus Arbeitnehmerperspektive
Die eben schon erwähnte Kritik der AfD an der EZB und an der Europäischen Währungsunion verdient eine zusätzliche Betrachtung. Die AfD kritisiert die EZB für deren angeblich "Sparer und Rentner enteignende [] Politik" und für die "Zerstörung der zentralen Märkte für Anleihen". Durch die "Preisexplosion am Aktien- und Immobilienmarkt" sieht sie die "Kaufkraft von nicht so schnell steigenden Einkünften" zerstört, "wovon insbesondere Arbeitnehmer und Rentner betroffen" seien. Als ob "Arbeitnehmer und Rentner" sich regelmäßig Aktien oder Immobilien kaufen.
Schon tragfähiger ist da die AfD-Kritik an der Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit in manchen Ländern: "Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Spanien und Griechenland bei über 40 Prozent, in Italien bei über 35 Prozent und in Frankreich bei über 25 Prozent." Dass diese sozialen Verheerungen allerdings auf eine völlig falsche und gescheiterte, neoliberale ökonomische Krisenpolitik zurückzuführen sind, dazu lesen wir bei der AfD nichts. Auch nicht dazu, dass im Rahmen dieser Krisenpolitik massiv die Rechte von ArbeitnehmerInnen beschnitten wurden. Kritik an erzwungenen Kürzungen bei Löhnen und Mindestlöhnen in den Krisenländern im Zuge der "Eurorettung"? Bei der AfD Fehlanzeige. Kritik an Kürzungen bei den Staatsausgaben? Ebenfalls Fehlanzeige (im Gegenteil hält die Partei es genau wie die "Euroretter" sogar für wirtschaftspolitisch sinnvoll, Staatsausgaben zu kürzen – siehe unten). Kritik an massenhaftem Abbau von Stellen im öffentlichen Dienst, im Gesundheits- und Bildungswesen? Fehlanzeige. Kritik an der Zerstörung von Tarifvertragssystemen und Tarifautonomie? Fehlanzeige. Kritik am Abbau von Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten? Fehlanzeige. Kritik an der brutalen Missachtung des Streikrechts der ArbeitnehmerInnen und des Rechts auf Koalitionsfreiheit? Fehlanzeige.
Dass die EZB bei der Durchsetzung dieser Politik eine ganz entscheidende Rolle spielte, bleibt bei der EZB-Kritik der AfD unerwähnt. Die EZB als Mitglied der "Troika", die Griechenland in den Abgrund riss? Für die AfD nicht relevant. Die Erpressung der griechischen Syriza-Regierung durch die EZB, die mit dem Zudrehen des Geldhahns für griechische Banken drohte? Der AfD egal. Briefe der EZB an südeuropäische Regierungschefs mit der Aufforderung, eine neoliberale, gegen ArbeitnehmerInnen gerichtete Krisenpolitik umzusetzen? Der AfD ebenfalls egal.
Stattdessen kolportiert die Partei mit nationalistischem Zungenschlag einmal mehr die Mär vom Deutschland, das angeblich für Europa zahle: "Die Rettungspolitik bricht alle den Wählern seit den 1990er Jahren gegebenen Zusicherungen zur "niemals zugelassenen Haftung Deutschlands für Fremdschulden'." Und: "Die weitere Mitgliedschaft in der Eurozone ist für Deutschland unbezahlbar." Dieses Lamentieren nützt den ArbeitnehmerInnen allerdings nichts – in Deutschland nicht und in Südeuropa nicht. Und den Arbeitslosen nützt es erst recht nichts.
8. Abgaben und Staatsausgaben bremsen
Im Wahlprogramm der Rechtspartei heißt es: „Die AfD wendet sich gegen eine Ausweitung der Abgabenbelastung und fordert […] die Einführung einer allgemeinen Abgabenbremse (Steuern, Beiträge und Gebühren) zugunsten der Bürger. […] Damit soll verhindert werden, dass Steuern und Abgaben in Zukunft beliebig erhöht werden können. Die Obergrenze sollte maximal der heutigen Abgabenquote entsprechen und mittelfristig 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen. Eine solche Politik ist erforderlich, weil sowohl die Staatsfinanzierung als auch der Wohlstand der Bürger in erster Linie von einer blühenden Wirtschaft abhängen.“
Die AfD unterstellt, dass eine Begrenzung der Abgaben (Steuern, Sozialbeiträge und Gebühren) die wirtschaftliche Entwicklung voranbringt. Das ist eine geradezu klassische neoliberale Denke, die in den letzten Jahren von der Wirklichkeit widerlegt wurde: Die Steuersenkungen und Sozial(beitrags)kürzungen der frühen 2000er Jahre etwa führten gerade nicht zu einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung, sondern bremsten diese aus. Insbesondere, weil die Regierungen die steuerreformbedingten Steuerausfälle durch Kürzungen wieder wettmachen wollten. Der Staat gab weniger aus und sorgte damit für Einnahmeausfälle bei den Menschen und den Unternehmen. Die reagierten ebenfalls mit geringeren Ausgaben – und verschärften das Problem. Ein Teufelskreis, aus dem Deutschland erst nach 2010 und nur dank hochproblematischer Exportüberschüsse wieder halbwegs herauskam.
Wenn das Geld in den öffentlichen Haushalten nicht ausreicht, lassen sich übrigens Investitionsausgaben besonders einfach kürzen. Gerade dies hat aber besonders negative Auswirkungen, denn für eine gute wirtschaftliche Entwicklung braucht es gute Straßen und Brücken, intakte Schulgebäude und funktionierende Breitbandnetze. Auch das mussten wir seit den Steuersenkungen der frühen 2000er Jahre verstärkt beobachten: Wir hinterlassen den nachkommenden Generationen marode Schulen, zerfallende Straßen, zerbröckelnde Brücken.
Es spricht also einiges dafür, dass der Zusammenhang genau umgekehrt verläuft: „Staatsfinanzierung“ und „Wohlstand der Bürger“ hängen nicht von einer blühenden Wirtschaft ab, sondern eine blühende Wirtschaft hängt ganz entscheidend davon ab, dass der Staat finanziell gut ausgestattet ist, um Investitionen, Personal und Sozialstaat bezahlen zu können. Wenn die AfD an anderer Stelle im Programm schreibt, sie wolle die „Staatsquote senken“, also den Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt drücken, dann macht sie einmal mehr deutlich: Sie strebt einen Magerstaat an, der die notwendigen Ausgaben für Investitionen, öffentlichen Dienst und Soziales gerade nicht leisten soll. Das ist geradezu klassische neoliberale Programmatik. Darunter würden alle zu leiden haben – ArbeitnehmerInnen und Menschen mit kleinen Einkommen allerdings wohl überdurchschnittlich. Denn der Satz, dass sich einen armen Staat nur die Reichen leisten können, ist nach wie vor richtig.
Übrigens hätte eine Abgabenbremse, wie die AfD sie vorschlägt, auch negative Folgen für die Verteilung zwischen Arm und Reich. Und auch sie wäre gerade für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schlecht. Dies gilt, soweit sie die Einkommensteuer bremst (hierzu siehe unten). Es gilt, soweit sie die Unternehmenssteuern bremst – denn davon profitieren nur Management und Unternehmenseigner. Und es gilt, soweit sie Sozialabgaben bremst – denn damit werden Arbeitgeber und Beschäftigte zu gleichen Teilen entlastet, während die entsprechend niedrigeren Sozialleistungen (Rente, Krankenversicherungsleistungen usw.) ausschließlich die Beschäftigten zu verkraften haben.
9. Steuern senken - vor allem für Gutverdienende
Die AfD schreibt: „Der progressive Anstieg der Steuer wird durch Steuerstufen abgelöst. Eine Indexierung der Tarife, Freibeträge und Freigrenzen, Pauschbeträge und Pauschalen muss die schleichende (heimliche) Steuererhöhung vermeiden. Entlastung der geringen und mittleren Einkommen. Der Grundfreibetrag wird auf das pfändungsfreie Einkommen angehoben und die Stufen werden so gewählt, dass Gering- und Durchschnittsverdiener entlastet werden.“
Der Vorschlag, Steuerstufen bei der Einkommensteuer einzuführen, ist eine Sau, die immer mal wieder durchs Dorf gejagt wird. Vor Jahren ist schon der oberneoliberale Unions-Gegenspieler Angela Merkels, Friedrich Merz, damit gescheitert. Auch Ex-Verfassungsrechtler Paul Kirchhof hatte einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Und auch in der FDP wurden ähnliche Vorstellungen entwickelt. Die ideologische Ecke, aus der diese Vorschläge kommen, ist offensichtlich immer die gleiche: die neoliberale.
Schlicht unklar bleibt übrigens die Formulierung, dass die AfD den bisherigen progressiven Verlauf bei der Einkommensteuer durch Steuerstufen ersetzen wolle. Denn auch ein Stufenmodell ist ein progressives Modell. Dennoch sollte die Formulierung stutzig machen: Die AfD scheint wenig von Steuerprogression zu halten – und damit auch wenig davon, dass starke Schultern mehr tragen sollen als schwache.
Unklar bleibt auch, wie genau die AfD ihr Modell ausgestalten möchte. In früheren Publikationen hat die Partei auf das Kirchhof-Modell verwiesen (das progressiv war, wenn auch mit nur langsam ansteigender Durchschnittsbesteuerung). Dieses sah eine massive Entlastung vor allem der Gutverdienenden vor – gegenfinanziert durch die Streichung von Steuervergünstigungen. Letztere kommen allerdings zumindest zu einem Teil Familien, Benachteiligten und Durchschnittsverdienenden zu Gute. Hinter dem Stufenmodell der AfD dürfte daher wahrscheinlich (Details erfahren wir leider nicht) gleichfalls eine Umverteilung von Arm zu Reich stehen.
Dafür spricht auch die oben beschriebene AfD-Forderung nach einer Abgabenbremse: Denn wann immer in einem progressiven Steuersystem „entlastet“ wird, kommt dies vor allem den Besserverdienenden zu Gute. Jedenfalls wenn nicht an anderer Stelle mehr belastet wird. Dies zeigt sich auch am AfD-Vorschlag, explizit Gering- und Durchschnittsverdiener (etwa durch Anhebung des Grundfreibetrags) zu entlasten. Denn die AfD lässt hier zweierlei außer acht: Erstens profitieren von den hier genannten Maßnahmen auch Gutverdienende – in absoluten Zahlen wird deren Entlastung sogar höher ausfallen als die Entlastung für Gering- und Durchschnittsverdienende. (Den gleichen Effekt hat die Abschaffung der so genannten „kalten Progression“, die die AfD gleichfalls fordert). Wer also die Entlastung auf untere und mittlere Einkommen beschränken möchte, wie die AfD hier nahelegt, muss sie für Gutverdienende wieder wettmachen – durch entsprechende Steuererhöhungen im oberen Einkommensbereich. Davon liest man bei der AfD aber nichts. (Man muss zu ihrer Entlastung allerdings sagen, dass diese Augenwischerei regelmäßig von fast allen Parteien betrieben wird, die Steuersenkungen fordern – es ist steuerpopulistischer Mainstream.) Zweitens lässt die AfD außer Acht, dass viele Geringverdiener schlicht
keine Einkommensteuer bezahlen, da ihre Einkommen zu niedrig sind. Von den AfD-Maßnahmen hätten sie daher größtenteils nichts. In die richtige Richtung geht immerhin die Forderung der AfD, die Mehrwertsteuer um 7 Prozent zu senken. Allerdings würde eine solche Maßnahme Steuerausfälle in exorbitanter Höhe mit sich bringen, sodass sie durch höhere Steuern an anderer Stelle ausgeglichen werden sollte - wovon bei der AfD allerdings nicht die Rede ist. (Nachträgliche Anmerkung: In der Erstversion wurde fälschlicherweise behauptet, die AfD fordere keine Absenkung der Umsatzsteuer. Wir bitten dafür um Entschuldigung.)
Zusammengefasst ist also auch zu den steuerpolitischen Vorschlägen der AfD zu sagen, dass sie auf eine Umverteilung von unten nach oben hinauslaufen. ArbeitnehmerInnen wären einmal mehr die Gekniffenen.
10. Auf die Besteuerung von Erbschaften und Vermögen verzichten
In ihrem Programm schreibt die Rechtspartei zur Steuerpolitik Folgendes: „Die AfD ist für eine Abschaffung der Erbschaftsteuer als Substanzsteuer und gegen die Reaktivierung der Vermögensteuer.“
Deutlicher kann man nicht machen, dass man auf Seiten der reichen Erben und der Vermögensbesitzenden steht. Diese können sich über die steuerpolitischen Vorstellungen der AfD freuen. Tatsächlich nämlich profitieren ausschließlich Menschen mit großen Vermögen und Erbschaften von den Plänen dieser Partei. Denn weder von den derzeit gängigen Vorschlägen für eine gerechtere Erbschaftsteuer noch von den aktuellen Vorschlägen zur Vermögensteuer würde „Omas kleines Häuschen“ erfasst. Vielmehr werden durch entsprechende Freibeträge kleine Erbschaften und kleine Vermögen verschont. Warum darüber hinaus aber – wie die AfD es möchte – auch große Erbschaften und Vermögen verschont bleiben sollen, ist nicht einzusehen. Zumal deren Besteuerung in den meisten anderen Industriestaaten (teils deutlich) höher ausfällt als in Deutschland.
Wenig wirtschafts- und steuerpolitische Kompetenz zeigt die AfD auch mit ihrer Behauptung, die Erbschaftsteuer sei eine Substanzsteuer. Gemeint ist damit, dass bei der Besteuerung der betrieblichen „Substanz“ ganze Unternehmen und Arbeitsplätze gefährdet werden könnten. Diese Behauptung wird von neoliberaler Seite, von Arbeitgebern und Unternehmenslobby seit vielen Jahren immer wieder vorgebracht, eine reale Grundlage hat sie nicht. Es gibt schlicht keinen Nachweis, dass ein Unternehmen jemals aufgrund dessen, dass es vererbt wurde, in die Insolvenz gegangen wäre. Auch der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen stellte 2012 in einem Gutachten fest: „Zusammenfassend ergeben sich wenig Hinweise darauf, dass eine Verschonung von Betriebsvermögen geboten ist, um Arbeitsplatzverluste zu vermeiden.“ Zumal es entsprechende Regelungsmöglichkeiten gibt – wer ganz sicher gehen möchte, kann es erlauben, das Begleichen der Erbschaftsteuer über mehrere Jahre zu strecken. Solche Regelungen gibt es schon lange, genutzt werden sie kaum.
Fazit
Die AfD wurde als neoliberale Rechtsaußen-Partei mit professoralem Gestus gegründet. Der Versuch, sich demgegenüber sozialer zu geben, um neue WählerInnen anzusprechen, ist an ihrem Parteiprogramm zur Bundestagswahl durchaus an einzelnen Punkten erkennbar. Diese Entwicklung ist nicht wirklich neu, sondern schon mindestens seit 2015 zu beobachten. Überzeugen kann der Versuch, sich sozialer zu geben, aber nicht, wie sich auch an ihrem Wahlprogramm zeigt - und zwar aus drei Gründen: Erstens gibt es innerhalb der Partei keinen Konsens über arbeitnehmerfreundliche politische Ziele. Vereinzelte "soziale" Aussagen dürften mehr Anbiederung als Überzeugung sein. Zweitens fehlt die Expertise. Die wenigen arbeitnehmerfreundlichen Programmbestandteile sind unausgegoren und mehr als oberflächlich formuliert. Und drittens bleiben die arbeitnehmerfreundlichen Programmbestandteile Stückwerk. Sie werden umrahmt und dominiert nicht nur von ausgrenzenden, sondern auch von klassisch-neoliberalen Forderungen und Vorstellungen, insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und der Steuerpolitik.
Nimmt man alle sozial-, arbeitsmarkt-, steuer- und wirtschaftspolitischen Programmbestandteile der AfD zusammen, dann ist das Bild eindeutig: In Summe würden Arbeitgeber und Unternehmen profitieren, während abhängig Beschäftigte das Nachsehen hätten. (Dies kann nicht überraschen, ist die AfD doch auch nach Bernd Luckes Ausstieg noch immer gut im kleineren Unternehmertum verankert.)
Wer sich auf der Suche nach Wählerstimmen wenigstens ansatzweise den Anstrich einer Interessenvertretung für abhängig Beschäftigte und kleine Leute geben will, der bräuchte hingegen ein programmatisches Tableau, das mit kräftigen Farben und klaren Konturen Position für ArbeitnehmerInnen ergreift. Dazu ist die AfD nicht in der Lage, oder, was wahrscheinlicher ist: Sie möchte es nicht. Ihre wenigen diesbezüglichen Programmtupfer jedenfalls sind blass und lassen klare Umrisse vermissen. Und drunter schimmert an vielen Stellen die schnöde Leinwand des Marktextremismus durch.
Das Einzige, was sich konsequent durch dieses programmatische Durcheinander zieht, ist die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen: Nach dem Willen der AfD sollen bestimmte soziale Ansprüche und Rechte insbesondere für Flüchtlinge, aber auch für MigrantInnen generell nicht gelten. Selbst jene wenigen und oberflächlichen Passagen, in denen die AfD Forderungen mit Blick auf ArbeitnehmerInnen formuliert, zielen daher nur auf einen Teil der abhängig Beschäftigten. Der Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital, zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen ist für die AfD demgegenüber von nachrangiger Bedeutung. Dies wird etwa an nachfolgendem Zitat Björn Höckes deutlich: "Die Soziale Frage der Gegenwart ist nicht primär die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten, unten nach oben, jung nach alt oder alt nach jung. Die neue deutsche Soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen."
Wir danken Sebastian Friedrich für wertvolle Hinweise und Tipps.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.