Sei autonom und kreativ! Ein neuer "Geist des Kapitalismus": Luc Boltanski und Ève Chiapello
12. Oktober 2017 | Patrick Schreiner
Im Frühjahr 2015 fragte sich ein »Berater & Coach« auf seiner Webseite, ob die »neue Arbeitswelt« noch Gewerkschaften brauche. Er schrieb: »Vielmehr denke ich nach über ein neues Rollenverständnis der Gewerkschaften. Die Industrialisierung brauchte sie. In der Ära des ›Schneller und Billiger‹ und vor der Globalisierung der Welt hatten sie eine wichtige Schutzfunktion: eine Lohnspirale nach unten zu verhindern und Arbeitsumfelder menschenwürdig zu gestalten. Doch wie ist das, wenn Arbeit immer mehr eine Sache von hochspezialisierten Könnern ist?"
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um ein leicht überarbeitetes und gekürztes Kapitel aus: Patrick Schreiner: Warum Menschen sowas mitmachen. Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus. Neue Kleine Bibliothek 240, PapyRossa-Verlag. 165 Seiten, ISBN 978-3-89438-632-0, EUR 13,90 [D]. Quellenangaben können dort nachvollzogen werden.
Und weiter heißt es in diesem Zitat: "Wenn nicht mehr leicht erlernbare und austauschbare Tätigkeiten im Zentrum der Arbeit stehen, sondern fast jeder hochqualifizierte Spitzenleistung in seinem Job erbringt? Was ist mit kreativen Tätigkeiten? Arbeit und Leben sind für die meisten nicht mehr zu trennen, seitdem Handarbeit zur Ausnahme und Kopfarbeit zur Regel geworden ist.«
Dieses Zitat schießt sicherlich an mehreren Punkten über das Ziel hinaus, etwa wenn es behauptet, »fast jeder« erbringe »hochqualifizierte Spitzenleistung«. Doch ist ein drastischer Wandel der Arbeitswelt wie auch des Alltagslebens nicht zu leugnen: In den letzten Jahrzehnten haben kollektive Formen wechselseitiger Solidarität in quasi allen Ländern an Bedeutung verloren. Hier wäre etwa an den Abbau der Sozialstaaten oder eben den Macht- und Mitgliederverlust von Gewerkschaften zu denken. Zugleich sind den Menschen individualistische Denk- und Handlungsweisen selbstverständlich geworden. Stichworte wie »Humankapital«, »Selbstverantwortung«, »Selbstoptimierung«, »Selbstmanagement« oder »Ich-AG« mögen dies verdeutlichen. Auch verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeitsleben und Privatleben zusehends. Das einleitende Zitat zeigt geradezu beispielhaft eine Haltung, die all dies verinnerlicht hat.
Hinter dieser Entwicklung steht keineswegs nur äußerer Zwang. Zwar müssen sich Menschen immer mehr als ihres eigenen Glückes Schmied verstehen, wenn gesellschaftliche Solidarität, soziale Bindungen und öffentliche Unterstützungsstrukturen schwächer werden. Denn dann ist tatsächlich jeder sich selbst der Nächste. Es spricht aber auch einiges für die Annahme, dass sich die Menschen im Neoliberalismus bestimmte Überzeugungen und Handlungen mit Freude und aus innerem Antrieb heraus zu eigen machen. Und das weit über Arbeit und Beruf hinaus.
Einen Versuch, die Wurzeln dieser Entwicklung aufzuspüren, haben die französische Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello (geboren 1965) und der französische Soziologe Luc Boltanski (geboren 1940) 1999 mit ihrem Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ vorgelegt. Sie stellen die Frage, wie sich der Neoliberalismus seit etwa den 1970er Jahren durchsetzen konnte und was er für den Kapitalismus sowie für westliche Gesellschaften bedeutet. Ihre Forschungen beziehen sich dabei überwiegend auf Entwicklungen in Frankreich, vieles aber lässt sich ohne Weiteres auf andere Länder übertragen.
Anders, als es das einleitende Zitat tut, sehen sie neoliberale Denk- und Handlungsweisen keineswegs als zwingende Folge von »Kopfarbeit« und »kreativen Tätigkeiten«. Ausgangspunkt ihrer umfangreichen Arbeit ist vielmehr die Überlegung, dass der Kapitalismus Rechtfertigung brauche. »Kapitalismus« verstehen sie dabei als ein System, das auf dem unbegrenzten Vermehren von Kapital beruht: Geld (im Sinne von Kapital) werde investiert, um Profit zu machen, das zurückfließende Kapital und die erzielten Profite werden erneut investiert. Diese unbegrenzte Vermehrung von Kapital kann nach Boltanski/Chiapello allerdings nicht erklären, weshalb Menschen sich überhaupt im Kapitalismus engagieren. Weshalb sie Aktivität zeigen und sich einbringen. Weshalb sie insbesondere meist mehr tun und mehr tun wollen, als nur gedanken- und lustlos täglich acht oder zehn Stunden Arbeit abzuleisten. Zwar gibt es für den einzelnen Menschen viele Gründe, aktiv zu sein: Sei es, um sich Wohnung, Kleidung und Nahrung zu erwirtschaften; sei es, um sozial aufzusteigen; sei es, um Anerkennung und Teilhabe genießen zu können; sei es, um ein Gefühl der Sicherheit oder der Zugehörigkeit zu erlangen. Auch gesamtgesellschaftliche Gründe für das Engagement im Kapitalismus sind denkbar: beispielsweise, gesellschaftliche Stabilität und gemeinsamen Wohlstand zu erreichen. Keiner dieser und aller anderen denkbaren Gründe resultiert aber, so Boltanski/Chiapello, aus der Kapitalvermehrung selbst. Vielmehr sei diese im Kapitalismus Selbstzweck; sie finde fernab moralischer Rechtfertigung statt.
Boltanski/Chiapello leiten daraus den Gedanken ab, dass der Kapitalismus auf Begründungen und Motivationen zurückgreifen müsse, die er selbst nicht herstellen könne. Er lasse sich nicht aus sich heraus rechtfertigen, sondern brauche dazu »Konstruktionen aus einer anderen Ordnung«. Kapitalistische Gesellschaften greifen daher auf außerkapitalistische gesellschaftliche Regeln, moralische Ansprüche, Gesetze und Traditionen zurück.
Ein Beispiel mag dieses Argument verdeutlichen. Bisweilen wird gesagt, der Kapitalismus sei deshalb gut und gegenüber anderen Formen von Wirtschaft und Gesellschaft überlegen, weil er mehr Wohlstand für alle Menschen schaffe als jedes andere System. Diese Aussage bezieht sich auf eine Vorstellung von Allgemeinwohl – nämlich eben die, dass bestmöglicher Wohlstand für alle erstrebenswert sei. Diese Allgemeinwohl-Orientierung entspringt nun gerade nicht der Kapitalvermehrung selbst, sondern wird dem Kapitalismus von außen vorgegeben. Moralische Gründe und soziale Ansprüche (»Wohlstand für alle!«) werden von außen herangetragen. Wer nun glaubt, dass der Kapitalismus tatsächlich zu bestmöglichem Wohlstand für alle führe, wird ihn unterstützen. Und wenn eine ausreichend große Zahl an Menschen dies tut, hat der Kapitalismus das, worauf er nach Boltanski/Chiapello grundlegend angewiesen ist: Rechtfertigung.
In ähnlicher Weise ließe sich der Kapitalismus mit der menschlichen Freiheit rechtfertigen – dies als zweites Beispiel zur Veranschaulichung. Gerade für das liberale Denken spielt dieses Argument eine zentrale Rolle. Der Kapitalismus ist aus dieser Sicht gut, weil er Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten schafft. Glaubt eine ausreichende Zahl an Menschen hieran, so kann auch dies den Kapitalismus rechtfertigen. Und auch in diesem Fall wird die Wertschätzung für Freiheit von außen an ihn herangetragen.
Auf diese Weise wird der Kapitalismus mit Prinzipien des Allgemeinwohls, mit Regeln, moralischen Ansprüchen und Traditionen versehen. So bindet er Menschen an sich. Dabei kommt eine Art moralische Ideologie zum Tragen, für die Boltanski/Chiapello Max Webers Begriff „Geist des Kapitalismus“ wählen. Sie meinen damit einen bunten Strauß an Überzeugungen, Regeln und Denkweisen, der das Denken und Handeln der Menschen mit dem Kapitalismus in Einklang bringt. Damit nimmt er eine zwischen dem Kapitalismus und der Gesellschaft vermittelnde, rechtfertigende Rolle ein. Der »Geist des Kapitalismus« unterliege einem ständigen Wandel und erweise sich dabei als in hohem Maße anpassungsfähig. Um den Kapitalismus zu rechtfertigen, nehme er stets auf jeweilige ökonomische und soziale Gegebenheiten wie auch auf moralische Erwartungen Bezug.
Als Motor dieser Anpassung identifizieren Boltanski/Chiapello ausgerechnet die Kritik am Kapitalismus. Ihre These: Der »Geist des Kapitalismus« nutze ironischerweise die Ideen seiner Kritiker, um sich selbst zu erneuern und damit den Kapitalismus zu stabilisieren. Sogar der schärfste und radikalste Antikapitalismus wird so zum Instrument für die Erneuerung des »Geists des Kapitalismus«. Kapitalismuskritik schafft die Voraussetzungen, um den Kapitalismus zu rechtfertigen und zu erhalten.
Boltanski/Chiapello unterscheiden dabei zwei grundlegende inhaltliche Ausrichtungen der Kapitalismuskritik. Eine erste kritisiere, dass der Kapitalismus zu Armut sowie sozialer Ungleichheit führe und opportunistisches sowie egoistisches Handeln fördere. Diese Argumentation bezeichnen Boltanski/Chiapello als Sozialkritik. Eine zweite Kritik laute, dass der Kapitalismus autoritäre Unterdrückung und mangelnde Authentizität des Menschen mit sich bringe. Er beschneide Freiheit und Autonomie. Diese Argumentation, die weniger auf materielle als auf ideelle und individuelle Verbesserungen zielt, bezeichnen sie als Künstlerkritik.
Im geschichtlichen Rückblick interessieren sich Boltanski/Chiapello nun besonders für jene Phase des Kapitalismus, mit der ab etwa 1970 Globalisierung, Vernetzung, Flexibilität, Projektarbeit, Mobilität und individuelle Selbststeuerung ins Zentrum rückten. Es ist dies die Phase des beginnenden neoliberalen Kapitalismus. Im Nachgang der Studentenrevolten von 1968, so Boltanski/Chiapello, habe ab Mitte der 1970er Jahre die Künstlerkritik gegenüber der Sozialkritik an Bedeutung gewonnen. Ausgangspunkt waren neue linke und alternative Bewegungen. Sie äußerten lautstarke Kritik an Fließbandarbeit, an Bürokratie und an menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen einerseits, ein Interesse an der Arbeitszufriedenheit der Menschen, an Eigenständigkeit und Arbeitsplatz-Autonomie und an Mechanismen der Selbstkontrolle (statt Fremdkontrolle) andererseits.
Die Unternehmen waren nach anfänglichem Zögern durchaus geneigt, dieser Kritik nachzugeben: Sie schufen zunehmend Räume der Innovation und der Eigeninitiative, der Flexibilität und der individuellen Autonomie, der Selbstkontrolle und der Eigenverantwortung. Praktischerweise konnten sie sich auf diese Weise zugleich klassischer (teurer) Forderungen der Sozialkritik erwehren, etwa nach Lohnerhöhungen oder kürzeren Arbeitszeiten. Die Menschen verinnerlichten die mit alldem einhergehenden neuen Anforderungen, Werte und Regeln. Kollektive Vertretungsstrukturen wie Gewerkschaften verloren an Bedeutung.
Ein neuer »Geist des Kapitalismus« bildete sich also heraus, und mit ihm neue Rechtfertigungsmuster: Der Kapitalismus galt zunehmend als gut und richtig, weil er den Menschen Emanzipation und flache Hierarchien, Freiräume und Autonomie, individuelle Freiheiten und Flexibilität, Selbstverwirklichung und Möglichkeiten zur Kreativität bot. Ein ideologisches Fundament für die Neoliberalisierung der Gesellschaft war gegossen.
Folgt man also Boltanski/Chiapello, so wurzelt der Neoliberalismus in der Künstlerkritik der 1970er Jahre. Dieser Gedanke lässt sich aber noch einen Schritt weiter denken: Denn nicht nur der Neoliberalismus im Allgemeinen, sondern auch dessen Übergreifen auf den Alltag der Menschen ist in der Künstlerkritik durchaus angelegt. Dies mag deutlich werden, wenn man sich einen wesentlichen Unterschied zwischen Sozialkritik und Künstlerkritik vor Augen führt. Erstere beruht auf der Annahme, dass das Arbeitsleben dazu da sei, das materiell Notwendige zu erwirtschaften. Arbeit ist aus dieser Perspektive eine eher lästige Pflicht, die zu erfüllen möglichst viel Geld bringen und möglichst wenig Zeit kosten soll. Deshalb betont die Sozialkritik die Forderung nach höheren Löhnen und nach Arbeitszeitverkürzung. Das »eigentliche« Leben findet außerhalb der Arbeit statt – im Privaten. Ganz anders hingegen die Künstlerkritik. Wenn sie dem Arbeitsleben im Kapitalismus Autonomie, Freiräume, Kreativität, Emanzipation und Freiheiten abverlangt, dann wird auch Arbeit zum Zweck des Lebens selbst. Sie wird zum Ort der Selbstverwirklichung. Die Grenze zwischen lästiger, aber notwendiger Arbeit einerseits und schönem, »eigentlichem« Leben andererseits löst sich auf. Prinzipien, Werte und Ziele des Arbeitslebens und des Privatlebens gehen ineinander über. Neoliberales Denken, das laut Boltanski/Chiapello seine Wurzeln in der Künstlerkritik am kapitalistischen Arbeitsleben hat, hält damit auch im Alltag der Menschen Einzug: Es kennt keine Grenzen mehr.
So kommt es, dass sich beispielsweise auch Selbstoptimierung und Selbstdarstellung im Neoliberalismus keineswegs auf das Berufsleben beschränken. Sie greifen vielmehr umfassend auf das Privat- und Alltagsleben der Menschen über. Ja mehr noch: Selbstoptimierung und Selbstdarstellung werden privat wie beruflich zur beständigen Anforderung wie auch zur moralischen Erwartung. Und die Menschen wollen dem gerecht werden. So gilt beispielsweise der menschliche Körper immer mehr als etwas Veränderbares, das der eigenen Selbstdarstellung dient. Er soll durch Fitness, Schönheitsoperationen, gesunde Ernährung, Diäten, Mode und Kosmetik optimiert werden. Selbstdarstellung und Selbstoptimierung stehen ferner auch hinter dem Konsum besonders anerkannter und »geschmackvoller« Waren. Aus dem Reisen als erholsamer Freizeitbeschäftigung wird Reisen zur Optimierung der eigenen Freizeit. Zugleich dient es in Erzählungen und durch das Veröffentlichen von Fotos auf Sozialen Netzwerken der Selbstdarstellung als aktivem, vielseitig interessiertem oder attraktivem Menschen. Und nicht zuletzt finden Castingshows im Fernsehen ihr Publikum nicht nur zur reinen Unterhaltung. Manche ZuschauerInnen schalten vielmehr ein, weil dort vermeintlich nützliche Werte und Regeln zur Bewältigung und Optimierung des eigenen Lebens vermittelt werden.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.