Mit dem Neoliberalismus Hand in Hand - Die Elektronische Europäische Dienstleistungskarte
2. Februar 2018 | Aileen Körfer
Die Gewerkschaften auf nationaler und europäischer Ebene warnen seit einem Jahr vor den Gefahren des Vorschlages der Europäischen Kommission zur Einführung einer sogenannten »Elektronischen Europäischen Dienstleistungskarte«. In dem bereits fortgeschrittenen Gesetzgebungsverfahren bleibt nur noch wenig Zeit, um Einfluss auf die Entscheidungsträger auf nationaler und europäischer Ebene zu nehmen, um sie davon zu überzeugen, diesen Vorschlag abzulehnen.
Die Dienstleistungskarte ist ein elektronisches Dokument, das Unternehmen und Einzelpersonen berechtigen soll, eine Dienstleistung in einem anderen europäischen Mitgliedsland anzubieten. Während die Dienstleistungskarte von einer Behörde in dem Herkunftsland des jeweiligen Unternehmens oder der Einzelperson beantragt wird, muss das Pendant im Gastland diese genehmigen. Auch wenn ein elektronisches Konsultationsverfahren zwischen den Behörden vorgesehen ist, führt dieser Vorschlag zu einer Verschiebung der Zuständigkeitsverteilung vom Gastland hin zum Herkunftsland. Nach Angaben der Kommission verfolgt der Vorschlag zur Einführung einer Dienstleistungskarte das Ziel, die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen zu fördern. Gewerkschaftsvertreter und Arbeitgeberverbände verschiedener Branchen in zahlreichen europäischen Mitgliedsstaaten blicken jedoch ▸mit großer Sorge auf diesen Vorschlag und warnen vor der Einführung des sogenannten Herkunftslandsprinzips durch die Hintertür, welches die neoliberalen Strukturen im europäischen Binnenmarkt für Dienstleistungen nur weiter vertiefen und die Errichtung eines gerechteren und sozialeren Wirtschaftsraumes weiter in die Ferne rücken lassen würde. Sollte es den Gewerkschaften nicht gelingen, diesen Vorschlag zu verhindern, werden die Beschäftigten die größten Verlierer sein.
Seit Bekanntgabe des Vorschlags laufen die Gewerkschaften Sturm: Sie haben zahlreiche Stellungnamen – auch gemeinsam mit der Arbeitgeberseite - an nationale Regierungen und die Europäischen Institutionen gerichtet, haben Protestaktionen organisiert und sich mit Entscheidungsträgern getroffen. In aller Fairness gegenüber den Mitarbeitern der Kommission muss gesagt werden, dass die Tür zu politischen Diskussionen stets offen war. Kritik wurde wahrgenommen, jedoch kaum berücksichtigt oder im Gesetzgebungsverfahren aufgenommen. Vielmehr belächeln sie bis heute die konstruktive Kritik der europäischen Gewerkschaften. Im Europäischen Parlament sind einige Mitglieder offener. Es ist jedoch schwierig, die bevorstehenden Mehrheitsabstimmungen im Parlament und im Rat zum jetzigen Zeitpunkt abschätzen zu können. Deutschlands Stimmverhalten im Rat wird für den gesamten Arbeitsmarkt von großer Bedeutung sein. Die möglichen Konsequenzen, die im Folgenden detailliert genannt werden, würden die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in den betroffenen Branchen in Deutschland und Europa verschlechtern.
- Kontrollverlust für das Gastland: Mit der Verschiebung der Kontrollinstanzen vom Gastland hin zum Herkunftsland geht ein Kontrollverlust einher, da nationale Behörden mit den Rechtsvorschriften anderer Mitgliedsländer wenig vertraut sind. Darüber hinaus wird Druck auf die Behörden im Gastland ausgeübt, da diese innerhalb von 1-6 Wochen auf eine Anfrage zur Dienstleistungskarte reagieren müssen. Sofern nicht oder zu spät reagiert wird, gilt dies als Zustimmung. Hinzu kommt noch, dass zertifizierte Kopien der Dienstleister nicht eingefordert werden dürfen und das sogenannte ‚Höchstens-Einmal-Prinzip‘ gilt, das heißt, dass erwartet wird, dass Informationen zu den einzelnen Dienstleistern stets auf dem aktuellen Stand sind, aber keine Möglichkeit für das Gastland besteht, Nachkontrollen durchzuführen. Der Entzug einer Dienstleistungskarte kann nur durch ein rechtliches Verfahren erfolgen. Allerdings darf der Dienstleister solange im Gastland seine Leistung anbieten, bis die Dienstleistungskarte endgültig widerrufen ist.
- Anstieg der Scheinselbständigkeit: Eine weitere Gefahr besteht darin, dass Selbständige ebenfalls die Dienstleistungskarte beantragen können. Sie haben die Bedingungen im Gastland zu erfüllen, die jedoch von der zuständigen Behörde im Herkunftsland überprüft werden. Wird im Gastland bei einer Kontrolle festgestellt, dass es sich um eine Scheinselbständigkeit handelt, ist es sehr schwierig, die Dienstleistungskarte zurückzuziehen.
Kritiker des Gesetzesvorschlags warnen folglich vor einer Verschiebung der Kontrollinstanzen zu Gunsten des Herkunftslandes, was zu einem Anstieg von Briefkastenfirmen und Scheinselbständigkeit in der EU führen kann. Bedenklich ist auch die Rolle der Europäischen Kommission bei der Implementierung der Dienstleistungskarte, da sie über das Standard-Antragsformular für die Dienstleistungskarte entscheiden soll. Alle Mitgliedsländer sollten sich also bewusst sein, dass sie Kontrollmöglichkeiten über ihre nationalen Arbeitsmärkte an andere Mitgliedsländer sowie an die Kommission abtreten würden. In dem Gesetzgebungsverfahren ist es fünf vor zwölf. Es gilt also zu handeln: Besser heute als morgen. Die Verhinderung dieses Vorschlages ist möglich.
Aileen Körfer leitet seit Januar 2016 das Referat "Dienstleistungspolitik und Digitalisierung" bei UNI Europa, dem Dachverband der europäischen Dienstleistungsgewerkschaften in Brüssel. Zuvor hat sie für die Gewerkschaft ver.di gearbeitet.