Die Ausbeutung durch Leiharbeit hat System
2. März 2018 | Markus Krüsemann
Das Beschäftigungswachstum in der Leiharbeit hält unvermindert an. Das ist weder Zufall, noch Zeichen für eine bloß stellenweise missbräuchliche Nutzung der Arbeitnehmerüberlassung. Mindestens drei Anhaltspunkte sprechen für eine systematische Ausbeutung von Beschäftigten durch Leiharbeit.
Die Leiharbeit wächst und wächst. Sowohl die Zahl der Beschäftigten wie die der Betriebe erreicht von Jahr zu Jahr neue Rekordhöhen. Nach den kürzlich von der Bundesagentur für Arbeit (BA) veröffentlichten ▸Angaben für die erste Jahreshälfte 2017 stieg die Zahl der Leiharbeitsbeschäftigten bis Ende Juni 2017 auf über 1,04 Millionen. Mit einem Plus von 3,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat ist zugleich ein neuer Höchststand erreicht. Noch nie waren in Deutschland so viele Menschen als LeiharbeiterInnen tätig, und ein Ende der nur als stürmisch zu bezeichenden Entwicklung scheint vorerst nicht absehbar.
Wie lässt sich dieser unvermindert anhaltende Boom erklären in Zeiten einer schon länger währenden stabilen Phase des Wachstums von Wirtschaft und (allgemeiner) Beschäftigung? Angeblich geht ein Boom bei der Arbeitnehmerüberlassung einem generellen Wirtschaftswachstum, ihr Schrumpfen einem Abschwung voraus, weshalb Leiharbeit gerne als Frühindikator für eine kommende konjunkturelle Entwicklung bezeichnet wird. Dementsprechend müsste in der derzeitigen konjunkturellen Hochphase längst eine verhaltene Entwicklung eingesetzt haben, weil Arbeitgeber die Mehrarbeit ja jetzt risikolos durch Schaffung regulärer Stellen auffangen könnten, während sie zu Beginn der Aufschwungphase aus Vorsicht noch darauf verzichtet hatten und stattdessen zunächst (und vorübergehend) Leihkräfte bevorzugten. Wie die Zahlen nicht nur der letzen Monate zeigen, kann irgendwas an dieser lieblichen Theorie nicht stimmen. Wie sonst ist es zu erklären, dass die enormen Wachstumsraten bei der Leiharbeitsbeschäftigung (seit 2014 zwischen 3,5 und 7,6 Prozent) stets deutlich über den bereits sehr ordentlichen Steigerungsraten bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung (1,7 bis 2,3 Prozent) liegen?
Ist die stürmische Entwicklung dann nur ein Beleg für Auswüchse? Exzesse, die eigentlich gar nicht sein dürften, weil Leiharbeit nach ebenfalls oft gehörter Aussage ja nur dazu gedacht sei, den Unternehmen jene Flexibilität zu geben, die sie angeblich bräuchten, um Auftragsspitzen abzufedern oder unvorhersehbare Personalengpässe abzufangen? Ein Missbrauch der Leiharbeit sei hier zu beobachten, lautet eine weit verbreitete Kritik. Doch kann man wirklich nur von einem ungebührlichen Ausnutzen sprechen, das es zu bekämpfen gelte, oder hat die stete Expandiererei der Branche nicht eher Methode? Gegen die These des bloßen Missbrauchs und eines willkürlich aus dem Ruder laufenden, an sich aber gut gemeinten und sinnvollen Instruments sprechen zumindest drei Anhaltspunkte:
1. Die Liberalisierung der Arbeitnehmerüberlassung hat erst jene Nachfrage geschaffen, die angeblich bedient werden sollte.
In einer nur um die Themen Auftragsspitzen und Personalpuffer kreisenden Diskussion wird entweder völlig verkannt oder nur zu gern verschwiegen, dass das ausgeweitete Angebot an flexibel verfügbarer Arbeitskraft die Nachfrage nach ihr großenteils erst schafft, die angeblich bedient werden muss. Zu Zeiten eines strikter regulierten Arbeitsmarktes waren Unternehmen gezwungen, eine vorausschauende Personalpolitik zu betreiben und beim Personalbestand Puffer einzubauen, um Nachfrage- und Einsatzschwankungen nach oben wie unten ausgleichen zu können. Das Vorhalten von Produktivitätsreserven war solange unproblematisch, wie es überall zu grundsätzlich gleichen Konkurrenzbedingungen erfolgte. Relativ stabile Stammbelegschaften und langfristig verlässliche Beschäftigungsverhältnisse waren dafür eher vorteilhaft als hinderlich.
Mit der neu verfügbaren Flexibilitätsoption Leiharbeit ändern sich die Voraussetzungen für den Personaleinsatz drastisch. Nun ist es möglich, das Stammpersonal zu reduzieren, da man für die allfälligen Schwankungen ja auf »atmende« Randbelegschaften zurückgreifen kann, die man schnell bekommt und schnell wieder los wird. Es liegt auf der Hand, das bei verkleinerter Kernbelegschaft jeglicher Auftrags- und Nachfrageanstieg zu einer (natürlich unvorhergesehenen) Auftragsspitze wird.
Als Beispiel für eine derart auf Kante genähte Personalpolitik kann aktuell der Fall Bombardier dienen. Das Unternehmen stellt an seinem Hennigsdorfer Standort ▸Schienenfahrzeuge her und ist seit einiger Zeit bestrebt, Personal abzubauen. Eigentlich aber ist das gar nicht nötig, denn die Auftragsbücher sind voll. Doch, so die Aussage von Betriebsrat Volkmar Pohl gegenüber ▸MOZ.de : »Bombardier will auf diese Weise beim Arbeitskräfte-Pool flexibel reagieren können.« Also werden Leiharbeiter eingestellt.
2. Unternehmen lieben Personalkostenreduktionen. Möglichkeiten des Zugriffs auf billige Arbeitskräfte werden daher bis an die Grenze des juristisch Machbaren (und nicht selten darüber hinaus) ausgereizt.
Am Fall Bombardier wird zugleich deutlich, dass und wie Unternehmen sich an den (auch politisch verschärften) Wettbewerbsbedingungen orientieren und orientieren müssen. Da werden um den Preis der Wettbewerbsfähigkeit eben alle Möglichkeiten genutzt, die der Arbeitsmarkt hergibt. Aus Unternehmenssicht ist das rational, denn es wäre unprofessionell, sich nicht der veränderten Angebotsstruktur auf dem Arbeitsmarkt zu bedienen. Die Konkurrenz schläft ja schließlich auch nicht.
Hellwach in Sachen Konkurrenz und im Verschaffen von Wettbewerbsvorteilen durch Ausreizen des irgendwie noch legal Machbaren ist zum Beispiel der Versandhandelsriese Amazon. In Garbsen bei Hannover will der Konzern ein neues Logistikzentrum eröffnen, für das 700 Arbeitsplätze in Aussicht gestellt werden. Für den Bereich Versand ist geplant, ▸zunächst nur Leiharbeiter einzustellen. Erst später sollen 80 Prozent der Belegschaft einen festen Vertrag erhalten. Amazon wächst und wächst seit Jahren ziemlich kontinuierlich. Auftragsspitzen? Abdeckung eines vorübergehenden Bedarfs? In Fällen wie diesem geht es schon längst nicht mehr um die Beschaffung zusätzlich benötigten Personals. Der betriebswirtschaftlich kühl kalkulierte systematische Einsatz von Billiglöhnern qua Leiharbeit liegt hier klar auf der Hand.
Natürlich gibt es viele, auch betriebswirtschaftlich gute Gründe, MitarbeiterInnen mit ordentlich bezahlten, unbefristeten, vielleicht sogar tariflich abgesicherten Arbeitsplätzen an sich zu binden. Wenn aber der Gesetzgeber zahlreiche Möglichkeiten geschaffen hat, auf billigere, so genannte atypische Beschäftigungsformen zurückzugreifen, dann lässt sich das Hegen und Pflegen bequem auf die als wertvoll erachtete Kernbelegschaft reduzieren. Für die anderen gilt dann eher Hire and Fire, im günstigsten Fall auch ein Bewährungsaufstieg.
3. Eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die die Qualität der Beschäftigungsförderung an möglichst hohen Vermittlungsquoten misst und auf der uneingeschränkten Zumutbarkeit jeglicher Arbeit gründet, wirkt wie ein Katalysator.
Die stetig wachsende Nachfrage nach billiger Leihware führt nur solange zu einer Expansion der Überlassungsbranche, wie sie durch ein ausreichendes Angebot an mehr oder weniger willigen Leihkräften bedient werden kann. Angesichts der konjunkturell bedingt steigenden Erwerbstätigkeit und dem damit verbundenen, vom demographischen Wandel gestützten Rückgang der Arbeitslosigkeit, sind die Chancen auf eine Arbeitsaufnahme jenseits der Leiharbeit gestiegen. Die Überlassungsbranche wäre wohl längst schon eher und deutlich an Wachstumsgrenzen gestoßen, gäbe es da nicht die Bundesagentur für Arbeit (BA), die seit Jahren als verlässlicher Zulieferer agiert.
Gut 20 Prozent aller Arbeitsaufnahmen von Arbeitslosengeld 2-BezieherInnen entfielen im Jahr 2013 auf Jobs in der Arbeitnehmerüberlassung, heißt es in einem jüngst vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) veröffentlichten ▸Forschungsbericht . Im Vergleich zu allen neu aufgenommenen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen hätten LeistungsbezieherInnen doppelt so häufig eine Tätigkeit in der Arbeitnehmerüberlassung und dem Bereich der Sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen aufgenommen.
Der Verdacht liegt mehr als nahe, dass BezieherInnen von Arbeitslosengeld 2-Leistungen (Hartz IV) regelrecht in die Leiharbeit gedrängt werden. Schließlich ist es Ziel der für das Handeln der BA maßgeblichen aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslose so schnell wie möglich wieder in den Arbeitsmarkt zurückzubringen. Das geschieht, indem man einerseits den Zugang und die Gewährung von Unterstützungsleistungen während der Arbeitslosigkeit rigide einschränkt und andererseits ihren Bezug unter Sanktionsdrohungen davon abhängig macht, dass Leistungsempfänger jede sich bietende Gelegenheit zur Arbeitsaufnahme nutzen. Für die Verleihbranche sind das rosige Zeiten, wenn Erwerbslose gezwungen sind, nahezu jede (auch unqualifizierte und schlecht entlohnte) Arbeit anzunehmen. Nun muss man nur noch die Arbeitsagenturen und Jobcenter mit Jobangeboten füttern: Im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung war 2017 fast jede zweite bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldete Stelle eine Jobofferte aus der Leiharbeit, berichtete ▸Welt online Ende Januar. Passt.
Das Gebaren der Arbeitsagenturen ist übrigens nicht neu. Schon seit mehreren Jahren liegen die Anteile der insgesamt durch die BA in Leiharbeit vermittelten Arbeitslosen bei ▸über 30 Prozent . Damit macht sie eine Branche zum Großabnehmer, in der (bisher!) nur drei Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten tätig sind. Hintergrund: Bereits seit dem Jahr 2010 hat das Angebot an Leiharbeitsplätzen auf dem Stellenmarkt der BA einen Anteil von weit über 30 Prozent erreicht. Das sind Größenordnungen, an denen die auf Vermittlungserfolge (und gute Vermittlungsquoten) angewiesenen Arbeitsvermittler nicht vorbei können.
Flankiert werden die Praktiken übrigens immer noch durch ▸Leiharbeitsmessen , mit denen Jobcenter und Arbeitsagenturen Ãœberlassungsunternehmen die Möglichkeit geben, sich im Lichte der Seriosität zu präsentieren und Arbeitssuchende gleich vor Ort abzugreifen. In Zeiten, in denen der Arbeitsmarkt angeblich ja überall »leergefegt« ist und »händeringend« nach Personal gesucht wird, sollte das eigentlich überflüssig sein wie ein Kropf, und es spricht nicht gerade für die Qualität und Leistungsfähigkeit der Agenturen, wenn deren Vermittlungsaktivitäten so sehr am regulären Arbeitsmarkt vorbei gehen, dass sie ihr Vermittlungserfolgsheil bei der Leiharbeit suchen müssen.
Fazit: Der Missbrauch, das ist die systematische Ausbeutung der Beschäftigten durch Leiharbeit.
Die präsentierten Zusammenhänge sollten reichen, um Interpretationen, die vom bloßen Missbrauch einer an sich akzeptablen Beschäftigungsform sprechen, den Boden zu entziehen. Die Rede vom Missbrauch der Leiharbeit ist irreführend, denn sie impliziert unausgesprochen, es gebe einen großen gesunden Kern mit ein paar faulen Stellen im Randbereich. Und da, wo solche Reden das Problem der Ausbeutung auf ganz wenige Einzelfälle missbräuchlichen Verhaltens reduzieren wollen, gegen die man natürlich vorgehen müsse, weil sie dem Ansehen der Branche schadeten, da wollen sie ganz gezielt Sand in die Augen streuen.
Nein, das Problem ist nicht eines von bedauerlichen oder kritikwürdigen Fehlanwendungen. Es ist ein systemisches, denn der missbräuchliche, der ausbeuterische Einsatz von Arbeitskräften selbst ist das System, ohne das die Verleiherei gar nicht derart raumgreifend funktionieren könnte. Es gibt keinen Missbrauch der Leiharbeit, es gibt einen Missbrauch durch Leiharbeit. Und daran wird sich in den kommenden Jahren nur dann etwas ändern, wenn sich auf Seiten der Beschäftigten (ob mit oder ohne die etablierten Gewerkschaften) mehr Widerstand regt und organisiert.
Denn wie sollte es im aller Wahrscheinlichkeit nach auch in den kommenden Jahren bestehenden System Merkel auch anders sein: Von Seiten der Politik ist nichts zu erwarten. Die vermutlich nächste amtierende Regierung hat laut Koalitionsvertrag vereinbart, dass das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÃœG) erst 2020 »evaluiert« werden soll. Damit haben die GroKo-Verhandler nur das aufgeschrieben, was in ▸§ 20 AÃœG sowieso schon fixiert ist. So geht eine Politik des »weiter so«, die Reformhandeln nur simuliert. Weiter so?
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.