Warum schimpft eigentlich niemand mehr über die (angeblich) faulen Arbeitslosen?
8. März 2018 | Patrick Schreiner
Es erscheint nur auf den ersten Blick paradox: In Zeiten sehr hoher Arbeitslosigkeit wurden Arbeitslose häufiger und schärfer beschimpft als heute. Die Gründe dafür sagen mehr über diese Gesellschaft aus als über die Arbeitslosen.
In den 1990er, vor allem aber den 2000er Jahren war es weit verbreitet, mit der Beschimpfung von Arbeitslosen politische Pluspunkte zu sammeln und mediale Aufmerksamkeit zu erheischen: Wer keine Arbeit habe, sei selbst schuld – weil faul, undiszipliniert, unmotiviert und ungepflegt. Wer arbeiten wolle, der finde auch einen Job. So verkündete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) 2001: »Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft«. Wer arbeiten könne, aber nicht arbeiten wolle, könne nicht mit Solidarität rechnen. Die »Bild« startete 2003 eine Kampagne rund um einen in Florida lebenden Frührentner (»Florida-Rolf«); das war nur einer von vielen »Sozialabzockern«, über die das Blatt mit den bekannt großen Buchstaben schrieb. Kurt Beck (SPD) wiederum sagte 2006 auf einem Weihnachtsmarkt vor laufenden Kameras zu einem Arbeitslosen: »Wenn Sie sich waschen und rasieren, haben Sie in drei Wochen einen Job«. Oswald Metzger (Grüne) gab 2007 zum Besten: »Sozialhilfeempfänger werden keineswegs schöpferisch aktiv. Viele sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Die wachsen dann verdickt und verdummt auf.« Philipp Mißfelder (CDU) bezeichnete 2009 die Erhöhung von Hartz IV als »Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie«. Thilo Sarrazin (SPD) drosch in den 2000er Jahren wiederholt auf Arbeitslose und »Unterschicht« ein; 2010 erschien sein viel diskutierter Bestseller »Deutschland schafft sich ab«. Und Guido Westerwelle (FDP) sprach - ebenfalls 2010 - im Zusammenhang mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Hartz-IV-Leistungen als zu niedrig ansah, von »spätrömischer Dekadenz«: »An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern. In vielen aufstrebenden Gesellschaften andernorts auf der Welt wird hart gearbeitet, damit die Kinder es einmal besser haben.« Das sind nur die bekanntesten Beispiele für die Beschimpfung von Arbeitslosen.
All diese Kampagnen und Äußerungen haben mindestens eines gemeinsam: Sie haben enorme Aufmerksamkeit bekommen. Ãœber sie wurden in Massen Kommentare geschrieben, Talkshows veranstaltet, Reden geschwungen – oft mit großer Zustimmung in weiten Teilen von ▸Medien, Wissenschaft, Politik und Bevölkerung. Wie breit diese Zustimmung war, lässt sich erahnen, wenn man sich die Parteizugehörigkeiten der zitierten Personen vor Augen führt.
Und heute? In den letzten Jahren ist nicht unbedingt der Hass auf Arbeitslose, wohl aber sind entsprechende Äußerungen seltener geworden. Zudem finden sie nicht mehr die breite Aufmerksamkeit und Zustimmung, die sie in den 2000er Jahren gefunden hatten. Ein Beispiel dafür, dass sich etwas geändert hat, lieferte im vergangenen Herbst der Chef von ProSiebenSat1, Thomas Ebeling. Er trat von seinem Posten ab, nachdem er über ZuschauerInnen gesagt hatte: »Es gibt Menschen, ein bisschen fettleibig und ein bisschen arm, die immer noch gerne auf dem Sofa sitzen, sich zurücklehnen und gerne unterhalten werden wollen«. Das waren gewiss schlimme Worte – aber nichts im Vergleich zu dem, was in den 2000ern sagbar war. Und zwar ohne dass man damals zurücktreten musste.
Die rückläufige offene Hetze gegen Arbeitslose erscheint auf den ersten Blick einigermaßen paradox: Schließlich ist die offiziell gemessene Arbeitslosigkeit seit damals deutlich zurückgegangen. Zu Zeiten von »Florida-Rolf« (2003) betrug sie 4,4 Mio. Personen, 2005 dann 4,9 Mio. Menschen. Als Westerwelle von »spätrömischer Dekadenz« phantasierte, waren es noch 3,2 Mio. Arbeitslose, 2017 dann noch 2,5 Mio. Das entspricht immerhin beinahe einer Halbierung binnen zwölf Jahren.
Je mehr Arbeitslose es gibt, desto häufiger und desto schärfer wurde und wird also offensichtlich über sie geschimpft. Paradox erscheint dies, weil – in der Logik der Beschimpfer – der Anteil der faulen usw. Arbeitslosen heute höher sein muss, als er es in den 2000er Jahren war. Wer glaubt, dass zumindest ein nennenswerter Teil der Arbeitslosen zu faul usw. zum Arbeiten sei, der muss schließlich davon ausgehen, dass der Rückgang der offiziellen Arbeitslosigkeit vor allem von deren nicht-faulen Teil getragen wurde und wird. Sinkende Arbeitslosigkeit trennt die Spreu vom Weizen: Wer trotz steigender Beschäftigung (und angeblichem »Fachkräftemangel«) noch arbeitslos sei, der müsse nun aber wirklich faul, undiszipliniert, unmotiviert und ungepflegt sein. Also müsste heute eigentlich mehr – und nicht weniger – über die verbliebenen Arbeitslosen geschimpft werden.
Wohlgemerkt – all dies sind Ãœberlegungen aus der Perspektive der Arbeitslosen-Beschimpfer. Aber es sind Ãœberlegungen, die sich zwingend aus deren oben zitierten Thesen und Ansichten ergeben. Warum aber schimpfen diese Leute heute nicht mehr, sondern weniger über Arbeitslose? Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Die Frage, ob Arbeitslose tatsächlich faul usw. sind, spielt für die Arbeitslosen-Beschimpfer absolut gar keine Rolle. Arbeitslose werden nicht beschimpft, weil sie faul usw. seien (wie man schon in den 2000er Jahren wusste, waren und sind sie das ja auch keineswegs.) Vielmehr erfüllt dieses Beschimpfen gesellschaftliche und politische Funktionen: Es soll ablenken vom ▸Versagen neoliberaler Gesellschaften , Arbeit und soziale Teilhabe zu schaffen. Es soll ▸Sündenböcke benennen, um nicht die herrschende Politik als falsch und unmoralisch entlarven zu müssen. Und es soll Sozialabbau rechtfertigen.
In Zeiten offiziell niedrigerer Arbeitslosigkeit scheint es die Notwendigkeit, herrschende Politik in dieser Weise zu stützen, nicht mehr in dem Maße zu geben. Dass tatsächlich kaum Arbeit geschaffen, sondern diese vielmehr lediglich ▸auf mehr Menschen verteilt wurde, spielt dabei offenbar ebenso keine Rolle wie der Umstand, dass man Arbeit prekarisiert und entwürdigt hat. Stattdessen hat und braucht man nun offenbar andere Sündenböcke: Links-Neoliberale (sowie manche ▸Linke ) beschimpfen heute jene Arbeitslosen und prekär Beschäftigten, die (angeblich in Massen) zur AfD übergelaufen sind, weil sie moralisch verlottert und politisch verhunzt seien. Und Rechts-Neoliberale sowie Rechte beschimpfen MigrantInnen und Flüchtlinge, weil diese faul und kriminell seien. Der Diskurs über die angebliche »Unterschicht« ▸hat sich ethnisiert .
Die Objekte der Beschimpfung mögen gewechselt haben, die Zielrichtung ebenfalls – die Intention dahinter ist die Gleiche: Herrschende Politik zu rechtfertigen und Schuldige für gesellschaftliche Probleme zu finden. Unerheblich für die Beschimpfer ist dabei einmal mehr, ob ihre Behauptungen überhaupt einen wahren Kern aufweisen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.