Kritik an "Wachstum auf Pump": Fragwürdige Nähe zwischen Merkel und manchen "Linken"
17. Dezember 2012 | Patrick Schreiner
Die abwertende Formel "Wachstum auf Pump" wird in jüngster Zeit wiederholt gebraucht, um bestimmte – im Detail verschiedene – Vorkommnisse im Kontext der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise zu kritisieren. Im Kern haben sie alle mit Krediten oder Verschuldung zu tun. Diese Formel wird dabei sowohl von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wie auch von sich als links und kritisch verstehenden Köpfen gebraucht. Ein guter Grund, sich diese Argumente und Diskussionen ein wenig genauer anzusehen.
Eine Sache sei dabei allerdings vorausgeschickt: Nicht bei Merkel, wohl aber bei manchen "Linken" findet sich in Verbindung mit Kritik an "Wachstum auf Pump" eine Neigung zur Zinskritik. VertreterInnen dieser Position sehen in der Existenz des Zinses das Grundübel des modernen Kapitalismus. Ich werde auf diese Argumentation, die ich für fragwürdig halte, in diesem Artikel nicht genauer eingehen. Schließlich hat Jens Berger auf den Nachdenkseiten schon alles gesagt, was aus meiner Sicht dazu zu sagen ist. Und wer es noch ein wenig grundsätzlicher mag, der möge sich ergänzend Nadja Rakowitz' marxistische Kritik an der Zinskritik durchlesen.
Aber zurück zum "Wachstum auf Pump". Wenn ich eben Merkel als Vertreterin dieser Position genannt habe, so steht sie stellvertretend für eine bestimmte neoliberal-konservative Argumentation, derzufolge das Wachstum einiger südeuropäischer Staaten in der Vor-Krisen-Zeit lediglich "unechtes" Wachstum gewesen sei, da es lediglich auf Verschuldung beruht habe (wobei meist wahrheitswidrig suggeriert wird, dies sei im Wesentlichen staatliche Verschuldung gewesen). Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist diese Argumentation ebenso dumm, wie ihre Konsequenzen verheerend sind – dies habe ich an anderer Stelle begründet, was ich hier nicht wiederholten möchte.
In diesem Artikel soll es vielmehr lediglich um die fragwürdige Nähe zwischen Merkel und manchen "Linken" in ihrer Ablehnung von Verschuldung gehen. Merkel lehnt "Wachstum" ab, WENN es lediglich auf Verschuldung beruht. Manche "Linke" lehnen Wachstum generell ab, WEIL es im modernen Kapitalismus lediglich auf Verschuldung beruhe. In beiden Fällen gilt Verschuldung als ein Böses, das es zu bekämpfen gilt. Ein Böses, das mit der aktuellen Krise Oberhand zu gewinnen scheint oder gar die Ursache dieser Krise darstellt.
Das Kernproblem sowohl von Merkels Argumentation als auch der Argumentation "linker" VerschuldungskritikerInnen ist zweierlei: Erstens, sie erkennen nicht, dass Geld in modernen Kreditgeldökonomien immer und ausnahmslos Verschuldung ist. Zweitens, sie erkennen nicht, dass die in den letzten Jahren exorbitant gestiegene Verschuldung von Staat und Privathaushalten im Kern auf die Durchsetzung des neoliberalen Akkumulationsmodells zurückzuführen ist. Damit handelt es sich um ein Verteilungsproblem, was aber beide Seiten nicht zur Kenntnis nehmen.
Zum ersten Punkt: In modernen Kreditgeldökonomien wird jeder Euro, den irgendjemand besitzt, von irgendjemand anderem geschuldet. Vermögen der einen ist immer zugleich Verschuldung der anderen. Es gibt zu diesem Umstand keine Ausnahme. Geld ist heutzutage nichts, was einfach so da ist, sondern Geld kommt – vereinfacht gesprochen – immer als Kredit auf die Welt. Es wird durch einen permanenten Geldschöpfungsprozess geschaffen, dessen Grundlage Einzahlungen bei Geschäftsbanken (=Guthaben/Vermögen) sowie die Weitergabe dieser Gelder als Kredite durch die Geschäftsbanken ist. Selbst die Geldschöpfung durch Zentralbanken erfolgt durch Kredite – nämlich durch Kredite an die eben genannten Geschäftsbanken.
Wenn Geld aber immer und ausnahmslos Kredit ist, ist Wachstum immer und ausnahmslos "Wachstum auf Pump". Eine Unterscheidung zwischen "natürlichem" Wachstum und "Wachstum auf Pump" ist vor diesem Hintergrund ganz offensichtlich Quatsch. Dieser Punkt mag Merkel treffen, weniger allerdings ihre "linken" Brüder und Schwestern im Geiste: Sie lehnen Wachstum ja generell ab, WEIL dieses im Kapitalismus stets auf Verschuldung beruhe. Sie argumentieren, dass mit der aktuellen Krise dieses Verschuldungsmodell des Kapitalismus und/oder sein Wachstum eine nicht mehr tragfähige Größe erreicht haben und deshalb zusammenbrechen mussten. Wer so argumentiert, muss sich allerdings zweierlei fragen lassen: Erstens, weshalb es überhaupt zu einem solchen Zusammenbruch kommen musste, schließlich ging dieses angebliche "Wachstum auf Pump" doch jahrzehntelang gut. Und zweitens, weshalb es ausgerechnet in den Jahren 2007ff. zu diesem Zusammenbruch gekommen ist.
Beide Fragen legen die Vermutung nahe, dass nicht Verschuldung an sich, sondern spezifische Formen und Größenverhältnisse der Verschuldung zur Krise geführt haben. Auch dann wären allerdings nicht das "Wachstum auf Pump" an sich, sondern eine spezifische Variante dieses Wachstums das Problem. Es ist dies eine Variante, die sich am ehesten mit dem Begriff des neoliberalen Akkumulationsmodells erfassen lässt. Ich komme damit zum zweiten Kernproblem des "Wachstum auf Pump"-Arguments: Dieses verkennt nämlich, dass das neoliberale Akkumulationsmodell im Mittelpunkt unseres Interesses stehen sollte, wollen wir die Ursache der Krise verstehen. (Dies zu verkennen, ist übrigens durchaus in Merkels Interesse – sie steht letztlich für diese Variante des Kapitalismus. Ein Grund mehr, sich nicht durch abstrakte Kritik an "Wachstum auf Pump" mit ihr gemein zu machen.)
Ab etwa 1980 kam es in allen westlichen Staaten zu einem grundlegenden Wandel der Politik, der nach 1990 schließlich fast die ganze Welt erfasste. Vor 1980 waren Löhne die Triebfeder volkswirtschaftlicher Nachfrage. Sie feuerten Produktivität, Investitionen und Wachstum an und ermöglichten auf diese Weise hohe Gewinne. Die Gewerkschaften waren stark und setzten eine umfassende Beteiligung der abhängig Beschäftigten am Wohlstand durch.
Nach 1980 hingegen setzte sich das neoliberale Akkumulationsmodell durch: Nicht mehr hohe Löhne sollten Grundlage für Profite sein, sondern eine radikale Umverteilung von unten nach oben. Immer weniger Menschen sollten immer reicher werden – und zwar auf Kosten von immer mehr Menschen. Die Beschäftigten waren immer weniger am allgemeinen Wohlstand beteiligt. Die Konkurrenz zwischen ArbeitnehmerInnen verschiedener Länder wurde durch Freihandelsabkommen und Kapitalmobilität angeheizt, zugleich wurden die ArbeitnehmerInnen sowie ihre Gewerkschaften auch im Inland massiv geschwächt – beispielsweise durch die Absenkung von Sozialleistungen, durch dauerhafte Massenarbeitslosigkeit und durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Im Ergebnis sanken die Löhne der Beschäftigten deutlich, die global angelegten Vermögenswerte nahmen spiegelbildlich ebenso zu wie die soziale Ungleichheit.
Dieses Modell hatte aber ein Problem: Die Löhne konnten nicht mehr die Triebfeder volkswirtschaftlicher Nachfrage bilden. Zwar wollten die Neoliberalen von Ronald Reagan und Maggie Thatcher über Gerhard Schröder, Bill Clinton und Tony Blair bis Angela Merkel von Nachfragetheorie nichts wissen. Dem Problem mangelnder Nachfrage hatten sie sich dennoch zu stellen. Schließlich mussten die Produkte, die die Unternehmen produzierten, auch gekauft werden – andernfalls konnte es keine Profite geben.
Die mit dem neoliberalen Akkumulationsmodell entstandene Nachfrage-“Lücke” glich der Finanzsektor aus. Insbesondere in den USA, die als Welt-Konjunkturlokomotive diente, aber auch in vielen anderen Ländern ermöglichten eine Immobilienpreisinflation sowie Kredite an KonsumentInnen und HausbesitzerInnen, Nachfrage aufrecht zu erhalten. Es entstand eine schuldengetriebene Nachfrage, von der nicht zuletzt auch Deutschlands Exportwirtschaft massiv profitierte. Institutionelle Grundlage dafür waren Deregulierungen der Finanzwirtschaft, die "Finanzinnovationen" und Spekulation in großem Umfang ermöglichten.
Global betrachtet, haben die Haushalte von Milliarden Menschen – Haushalte von Beschäftigten ebenso wie von Sozialleistungs-EmpfängerInnen – auf ihre sinkenden Einnahmen nicht nur mit der Einschränkung ihrer Ausgaben reagiert. Sie haben ihre sinkenden Einnahmen vielmehr zumindest teilweise ausgeglichen, indem sie ihren gleichbleibenden Konsum über mehr und mehr Verschuldung finanzierten. Dabei offenbaren sich allerdings deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern. So stieg die Verschuldung des privaten Sektors beispielsweise in den USA, in Spanien und in Großbritannien drastisch an. In anderen Ländern, allen voran in Deutschland, reagierten die Haushalte auf sinkende Einkommen hingegen überwiegend mit Konsumverzicht.
Im globalen Maßstab konnten sich wenige Kapitalbesitzende jahrzehntelang über immer höhere Einkommen freuen, die von einer wachsenden Zahl an Menschen mit immer geringeren Einkommen über Verschuldung finanziert wurden. Ich habe oben geschrieben, dass in einer modernen Kreditgeldökonomie Geld immer zugleich Verschuldung und Vermögen ist. Mit dem neoliberalen Akkumulationsmodell sind horrende Vermögen der Reichen entstanden, die im Kern die Verschuldung von Milliarden Privathaushalten bedeuteten – und die mit der Krise überwiegend zu staatlicher Verschuldung wurden.
Ein solches System muss notwendig irgendwann zusammenbrechen, wobei die genauen Umstände und Gründe dieses Zusammenbruchs vielfältig sein können und in den verschiedenen Ländern auch vielfältig waren. Eine dauerhafte Kreditfinanzierung des Konsums, und damit eine dauerhafte Kreditfinanzierung der volkswirtschaftlichen Nachfrage und der Profite, kommt an ihr Ende, wenn diese Kredite eine nicht mehr tragbare Höhe erreicht haben. Ohne Aussicht auf Einkommenssteigerungen werden den Verschuldeten irgendwann schlicht keine Kredite mehr gegeben. Genau dies war mit dem Platzen der diversen Immobilienblasen im Sommer/Herbst 2007 der Fall.
Es gilt, das neoliberale Akkumulationsmodell als Grundproblem der Krise zu erkennen und damit die Frage nach volkswirtschaftlicher Nachfrage wieder ins Zentrum der Krisenlösungsstrategien zu rücken. Es gilt, die Verteilungsfrage wieder zu stellen. Es gilt also, spezifische Formen von Verschuldungspolitik zu kritisieren. Dies ist sehr viel zielführender, als blind und abstrakt "Wachstum auf Pump" oder Verschuldung an sich zu inkriminieren. Letzteres nämlich spielt nicht zuletzt Merkel und den Neoliberalen in die Hände, die einen Abbau der übermäßigen Verschuldung auf Kosten derer anstreben, die in den letzten Jahrzehnten ohnehin schon unter sinkenden Löhnen und Sozialleistungen zu leiden hatten. Genau deshalb benutzt Merkel ja schließlich das "Wachstum auf Pump"-Argument: Sie tut so, als seien für die Verschuldung bestimmte Länder bzw. bestimmte Menschen ursächlich verantwortlich – und lenkt damit von der grundlegenden Rolle des neoliberalen Akkumulationsmodells ab.
Es wird Zeit, wieder über Verteilung zu sprechen - statt "Wachstum auf Pump" als Problem zu sehen und sich darin mit Merkel gemein zu tun.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.