Marc Fabian Erdl: "Noch vor dem ersten Widerwort eine Verfolgung herbeizulügen"
4. Dezember 2012 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Marc Fabian Erdl über inszenierte vermeintliche Tabubrüche und die gern geäußerte Kritik am angeblichem Zwang zur "Political Correctness". Marc Fabian Erdl ist Sprachwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der Universität Siegen und Berufsschullehrer in Köln.
Was ist das, was wir als "Political Correctness" bzw. "politische Korrektheit" zu bezeichnen gelernt haben?
Marc Fabian Erdl: Die Frage müsste ergänzt werden um die Frage "Auf welchen Wegen haben wir es gelernt?“ Und eine dritte Frage schlösse sich an: „Warum haben wir es so bereitwillig, schnell und weitgehend kritiklos gelernt?" Doch selbst so ausdifferenziert ist die Frage nicht ganz leicht zu beantworten, vor allem dann nicht, wenn man sich kurz fassen möchte. Ich will es trotzdem versuchen, verweise allerdings für eine ausführliche Argumentation mit zahlreichen Belegen auf meine Dissertation.
Die Legenden, die uns den Mythos von der "Political Correctness" (oder "p.c.") erzählen und diesen eigentlich erst bilden, wurden Anfang der Neunziger Jahre im großen Stil nach Deutschland kolportiert. Sie beruhen im Wesentlichen auf einigen aufsehenerregenden Artikeln und Büchern aus dem Umfeld der amerikanischen Rechtskonservativen, unter anderem des American Enterprise Institute. In diesen (amerikanischen) Legenden wurden allerlei, nicht nur sprachpolitische, sondern auch ganz handfeste Interessen (vermeintliche und tatsächliche!) von Minderheiten oder von Frauen als lächerlich und gefährlich zugleich diffamiert: Die Forderung nach Minderheitenquoten bei Stellenbesetzungen, geplante Überarbeitungen und Erweiterungen des zu lehrenden kulturellen, vor allem des literarischen Kanons, sowie das Einklagen eines nicht-diffamierenden Sprachgebrauchs, ferner die mehr oder weniger gelungenen Versuche, öffentlich sichtbar zu werden und Teil des Mainstreams zu werden bzw. diesen zu unterlaufen.
All diese Dinge wurden in reißerischen Zeitungsartikeln wie auch in wissenschaftlichen Arbeiten in einen Topf geworfen, für unnütz und gefährlich erklärt. Die vermeintlichen Kesseltreiber dieses Tuns wurden zu einer Bewegung erklärt, die, so die Legitimation der Mythenbauer, sich angeblich selbst als eine solche (und sich selbst als "p.c." bezeichnende) Bewegung konstituiert habe, und die anderen vorwerfe, nicht p.c. zu sein, was zu Inquisition, Hexenjagd etc. geführt habe. Der gemeinsame Feind sei, so der Mythos, der „(Tote) Weiße Mann.“ Dagegen, so die Konservativen (und später auch andere), gelte es sich zu wehren, im Namen der Freiheit, der „Westlichen Kultur“ und so weiter.
Diese Lüge der Reihenfolge erweist sich rückblickend als konstitutiv für den Mythos. Zugleich legitimiert sie ihn, denn – und darüber bestand von vornherein Einigkeit – wer sich selbst angeblich als „p.c.“ inszeniert, den darf man dann als „vernünftiger Mensch“ auf den gefährlichen Unfug dieses Treibens hinweisen (und damit ihn und seine Anliegen diffamieren). Dieses gleichzeitige Lächerlich-Machen und dieses Dramatisieren sollten einander eigentlich ausschließen, und doch entwickelten sie ganz im Gegenteil ein erstaunliches Potential. Denn die im Grunde völlig marginalisierten Positionen der Überreste der zersplitterten Bürgerrechtsbewegungen der Sechziger und Siebziger Jahre wurden nun zu einer Bedrohung Orwellschen Ausmaßes hochgejazzt, deren komisches Potential wiederum die Bedrohung ad absurdum führte und als Farce erzählbar machte. Erleichtert wurde dieses diskursive Wechselspiel dadurch, dass es immer wieder mal „Vorzeigekorrekte“ gab, also Akteure, die dem Klischee des Politisch Korrekten entsprachen. Jeder Mythos braucht einen plausiblen Kern.
Und in Deutschland?
Marc Fabian Erdl: Sozusagen leicht versetzt wurde dann von Deutschland auf die „amerikanischen Verhältnisse“ herabgeblickt – „die spinnen, die Amis“. Das führte zu einer Akzentverschiebung, die gerade in den politisch turbulenten Jahren nach der Wiedervereinigung große Erfolge feiern sollte. Denn einerseits galten die Amerikaner samt und sonders als bekloppt, andererseits war gerade im wiedervereinigten Deutschland das Bedürfnis besonders stark ausgeprägt, die vermeintlichen Beschränkungen durch die amerikanische Re-education abzuschütteln. Insofern war flugs von einer „historischen Korrektheit“ als spezieller Form der Political Correctness die Rede. Damit wurde der Umgang mit dem Dritten Reich bezeichnet, der die Deutschen vermeintlich moralisch drangsaliere – diese Argumentationsschiene sollte 1994 und 1998 Martin Walser besonders eifrig legen und befahren. Der Einzige war er nicht. Aber es gab auch Anknüpfungspunkte, die den „amerikanischen Verhältnissen“ stärker entsprachen. Diese beruhten darauf, dass im Umgang mit „1968“ ähnliche Rollback-Tendenzen zu beobachten waren wie in der Aufarbeitung der Sixties in den USA.
Die Deutschen wurden auf zwei Hauptwegen informiert, wie dieser Begriff zu verstehen und anzuwenden sei. Zum einen häuften sich in dieser Zeit die Artikel in den sogenannten Leitmedien (Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Zeit, Spiegel etc.), die das Thema meist im Sinne der Rechtskonservativen und Rechtsliberalen behandelten, selbst wenn die deutschen Verfasser sich sehr stark dagegen verwahren würden, dieser politischen Strömung zugerechnet zu werden. Das galt, mit einiger Zeitverzögerung, auch für die weitaus meisten wissenschaftlichen Texte zum Thema. Ungefiltert und oft ohne seriösen Beleg, den primitivsten Standard journalistischen oder wissenschaftlichen Arbeitens unterlaufend, wurde wirklich jeder Unfug nacherzählt.
Zum anderen, und dieser Weg wird häufig übersehen, wurde der Begriff einfach angewendet, und dann gilt mit Ludwig Wittgenstein: „Die Bedeutung eines Begriffs ist sein Gebrauch in der Sprache“. Klappentexte, Romanübersetzungen, flapsige Verwendungen, all dies sorgte stärker noch als die Feuilleton-Debatten für die rasante Verbreitung des Begriffs, seine Übertragung nach Deutschland. Allein beispielsweise aus den Thrillern von Tom Clancy konnte sich jedermann den Gebrauch und die Bedeutung des Begriffs herleiten.
Sie beschreiben und kritisieren "Political Correctness" in Ihren Arbeiten als Zuschreibung vorwiegend von Rechten und Konservativen, die eigene Äußerungen als tabubrechenden Verstoß gegen diese "Political Correctness" inszenieren. Was genau meinen Sie damit?
Marc Fabian Erdl: Eigentlich genau das, was Sie in dieser Frage formulieren. Der Mythos von der politischen Korrektheit erlaubte den Rechtskonservativen (aber auch anderen) die gleichzeitige Ausstrahlung mehrerer, eigentlich schwer vereinbarer Botschaften: „Wir sind viele, aber wir werden unterdrückt." – "Wir haben eigentlich Recht, aber wir werden unterdrückt." – "Es gibt oberlehrerhafte, politisch korrekte Herrscher und Sprachmanipulierer, die aus falsch verstandenem, moralisierendem Gutmenschentum etc. (und hier können die Leser sämtliche diesbezüglichen Floskeln einfügen) die Wahrheit unterdrücken bzw. die eigentlichen Probleme ignorieren oder schönreden. Entweder sie sind gefährliche Verbrecher oder Idioten.“
Diese Redeweise und ihre zahllosen Variationen wurden in einem Ton vorgebracht, als wäre das für die Sprecher alles mordsgefährlich (Martin Walser „zitterte vor Kühnheit“). Die Fälle Walser, Steffen Heitmann, Rainer Zitelmann bei Propyläen, all diese und zahlreiche andere wurden als Symptome gedeutet, wie gefährlich das ist, wenn man nicht politisch korrekt ist. Größtenteils ist diese Deutung frei flottierender Unfug, und ich werde den Verdacht nicht los, dass die Verbreiter das auch wissen. Aber egal, es erlaubte, die eigene Rolle als „Diskurspartisan“ zu inszenieren – man kämpft für eine durch eine Inquisition unterdrückte MEHRHEIT, für die Wahrheit, gegen politisch korrekte Besatzer. Dass diese vermeintlichen „Besatzer“ in den USA eher Farbige, Homosexuelle und Frauen waren, hierzulande eher Juden, Amerikaner und Frauen, ist da schon ein Zeichen für die Beliebigkeit der Anwendung dieses Mythos' auf alles, was einem nicht passt. Wo die amerikanischen Konservativen von der sie legitimierenden "schweigenden Mehrheit" faselten, war es hierzulande Elisabeth Noelle-Neumann, die die „Schweigespirale“ herbeifabulierte, ein pseudotheoretisches Konstrukt, mit dem sie die Unwilligkeit der Menschen erklären wollte, zu ihrer eigenen Meinung zu stehen, weil sie eine andere Mehrheitsmeinung befürchteten, die ihnen medial vermittelt würde. Diesen Begriff etablierte sie übrigens Jahre, bevor es den Begriff Political Correctness hierzulande gab. Kein Wunder, dass sie 1996 der Frankfurter Allgemeinen als Gewährsfrau für Political Correctness in Deutschland diente.
Relativ zügig setzte das Verfahren ein, noch vor dem ersten Widerwort oder gar bei offenkundigem Beifall eine Verfolgung, eine Kritik herbeizulügen oder zu antizipieren, um nur ja Aufmerksamkeit und Partisanenstatus abzugreifen. Thilo Sarrazin ist da ein augenfälliges Beispiel, aber nun keineswegs das einzige.
Steckt hinter dem Verstoß gegen eine vermeintliche "Political Correctness" eine gesellschaftspolitische Strategie?
Marc Fabian Erdl: Das ist anzunehmen. Wieweit das dann vom einzelnen Autor als seine Mitarbeit an einer solchen Strategie reflektiert wird, und wieweit es sich nur um Opportunismus und diskursive Mitnahmeeffekte handelt, ist oft nicht leicht zu entscheiden. Knackige Überschriften oder hingerotzte Klappentexte, für die es zahllose Beispiele gibt, dürften eher Symptome für letzteres sein.
Allerdings, die frühen Schlüsselaufsätze aus den USA, oder Bücher wie D’Souzas „The End of Racism“, auch der ganze deutsche Plunder aus dem neurechten Umfeld à la Heimo Schwilk, Rainer Zitelmann, Klaus Rainer Röhl, Dieter E. Zimmer (den man in dieser Angelegenheit doch dazu rechnen muss), all dies ist doch eher strategisch zu sehen, zumal oft alte Anliegen (siehe Schweigespirale, WDR als Rotfunk etc.) nun unter dieser Flagge verhandelt worden sind. Sarrazin ist dann sozusagen jemand, der besser spät als nie sein Problem noch unter dieser Flagge verhandelt, damit auch der letzte noch seinen Todesmut und die Ernsthaftigkeit seines Anliegens bemerkt.
Ist Ihre These also, dass es so etwas wie "Political Correctness" als – wenn man so möchte – Bündel sozialer Normen nie gegeben habe?
Marc Fabian Erdl: Allgemeingültig kodifiziert hat es dieses Bündel sicher nicht gegeben, aus den erläuterten Gründen. Die Frage ist mithin, wer das Bündel als Mogelpackung geschnürt und gelabelt hat, und was man da so alles zusammengeschnürt hat. Manche Dinge, die zusammengepackt wurden, sind in sich oder zueinander widersprüchlich, in den USA zum Beispiel die notorische Homosexuellenfeindlichkeit innerhalb der Black Community. Zu behaupten, all diese Leute seien einheitlich Political Correctness, Teile EINER Bewegung, und dann auf ihre Heuchelei und Doppelmoral hinzuweisen, war ein leichtes Spiel. Da lösen sich dann auch die „sozialen Normen“ in Rauch auf.
Ist es denn aber nicht so, dass sich aufgeklärte und sensible Menschen zu Recht bemühen, andere Menschen nicht durch die Verwendung bestimmter, als abwertend verstandener Begriffe auszugrenzen?
Marc Fabian Erdl: Ja, das wird wohl so sein. Das gelingt aber eben nicht immer, und das ist auch nicht immer tragisch. Man tritt Menschen schon mal auf die Zehen, und Euphemismen sind nun auch keine Lösung. Andererseits sind Höflichkeit und begriffliche Rücksichtnahme keineswegs immer verkehrt. Trotzdem wird das Zigeunerschnitzel nicht zum Sinti-Schnitzel, und wer diesen erbärmlichen Kalauer reißt, um die angebliche politisch korrekte Sprache bloßzustellen, ist halt schon arg eingeschränkt oder sehr, sehr berechnend.
Den Bereich der Satire haben wir hier noch gar nicht verhandelt. Hier stellt sich oft die nicht immer lösbare Frage, ob der Tabubruch Mittel zum künstlerischen Zweck ist, ob er Kollateralschaden ist oder, und da wird es eben blöd und eklig, das einzige Ziel. Es gibt, das sei ergänzt, auch einen Jargon der Uneigentlichkeit, also die permanent vermeintlich ironische Haltung, hinter sich aber eben doch am Ende keine Ironie verbirgt, sondern das schlecht beherrschte Ressentiment. Die jeweilige Wahl der Witze muss nicht, kann aber eben auch ein Symptom für ungeklärte Obsessionen sein.
Ist der inszenierte öffentliche Tabubruch eine Domäne der Rechtskonservativen? Das erste Beispiel, das mir einfiele, wäre natürlich der schon erwähnte Thilo Sarrazin.
Marc Fabian Erdl: Nein, der inszenierte Tabubruch ist keine Domäne der Rechtskonservativen. Aber sie sind eine der Gruppen, die davon profitieren. Zuletzt hat die Süddeutsche Zeitung aus dem Umfeld von kreuz.net berichtet und einen der Internetaktivisten zitiert: „Ich kämpfe gegen die herrschende Form der politischen Korrektheit, Zensur, Tabuisierung von Themen wie Abtreibung und Organentnahme bei Sterbenden und gegen Meinungsgleichschalterei“ (SZ vom 17./18.11.2012, S. 11).
Auf die Idee, die Themen Abtreibung oder Organentnahmen wären tabuisiert, muss man erstmal kommen. Das geht nur dann, wenn man zur Meinungsfreiheit ein sehr gestörtes Verhältnis hat und Widerspruch sofort als Inquisition begreift. Das wiederum ist ein Kennzeichen der Anti-Political Correctnessler.
Das scheint bei den Diskussionen um den Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky und sein aktuelles Buch ein wenig komplexer zu sein. Einerseits gibt es natürlich auch bei ihm und seinem Publikum diese "Endlich sagt es mal einer"-Attitüde. Andererseits scheinen ihm Medien und Politik eine ernsthafte Besorgtheit wie auch eine Fachkompetenz tatsächlich abzunehmen – deutlich mehr jedenfalls als damals Sarrazin.
Ja. Und? Wie so oft macht der Ton die Musik. Die von Buschkowsky diagnostizierten Problemfelder gibt es, und man wird sich mit ihnen auseinandersetzen müssen, ohne zwangsläufig zu denselben Resultaten zu kommen wie er. Das scheint machbar, auch wenn es nicht einfach ist. Angenehmerweise ist Buschkowsky zwar auch eitel, aber es fehlt ihm die Herrenmenschattitüde Sarrazins und auch die ungute Mischung aus Weinerlichkeit und Aggression, die für Kämpfer gegen die Political Correctness in Deutschland so kennzeichnend geworden ist. Bereits bei den ersten Berichten über Political Correctness in der Zeit und im Spiegel schwappte dem Leser das Selbstmitleid der Autoren entgegen, die sich endlich mal vom Weltgeist so richtig verstanden fühlten, als dieser ihnen diesen Mythos aus den USA frei Haus lieferte. „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort“ (Eichendorff). Und singt und singt und singt…
Sie sagen, die Rechtskonservativen sind nicht die einzigen, die den bewusst als Verstoß gegen eine vermeintliche "Political Correctness" inszenierten Tabubruch für sich nutzen. Gibt es ihn denn auch von links?
Marc Fabian Erdl: Ja, selbstverständlich. Aus mehreren Gründen.
Erstens: Da sind zum einen die Diagonalkarrieren, von links unten nach rechts oben. Die Möglichkeit, Positionen – gerne auch alte eigene Positionen – als Political Correctness zu diffamieren, erlaubte – vor allem nach 1989 – karrierefördernde Distanzierungen, mit dem Ziel, den Finger an den Drücker und den Arsch an die Heizung zu kriegen. Die Entwicklung der Grünen ist dazu ein Lehrstück. Na ja, und der Spruch: „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!“ ist auch nicht vom Himmel gefallen.
Zweitens: Orthodoxe Linke, die es sich lange mit der Idee vom Haupt- und Nebenwiderspruch und dem Marsch durch die Institutionen sehr gemütlich gemacht hatten, waren angefressen davon, dass Frauen, Homosexuelle, Farbige etc. ihre (Partikular-) Interessen in die eigene Hand genommen hatten. Nach 1989 war man außerdem als Karrierelinker eine Zeit lang nackt im Wind und frei im Raum. Als nun die Anti-Political Correctness-Kampagnen in den USA einsetzten und erfolgreich waren, gab es für die amerikanische Linke zwei Möglichkeiten – Solidarität mit den Angegriffenen oder Solidarität mit den erfolgreichen Rechtskonservativen. Dreimal dürfen Sie raten, wie man sich entschied… Gefahr erkannt, davongerannt.
In Deutschland war es im Wesentlichen gleich. Allerdings musste man nach 1989 erst einmal deutschnational werden, und dann war ja auch schon 1998 Rot-Grün angesagt. Ein zweites Auschwitz wurde mit Bomben auf Jugoslawien todesmutig verhindert, und die Agenda 2010 musste durchgeprügelt werden. Da kam eine diskursive Mode, die sich gegen Tabus und Denkverbote stemmt, wie gerufen.
Drittens: Zu den plausibilisierenden Ermöglichungszusammenhängen des Political Correctness-Mythos muss gesagt werden, dass es den linksmoraloiden Kitsch, vor allem in dem Umfeld, aus dem die Grünen erwuchsen, natürlich tatsächlich gegeben hat. Natürlich gab es scharfe und verletzende und sehr berechtigte linke Kritik an passiv-aggressiven Heulsusen und Opferdarstellern wie Gerhard Zwerenz, Alice Schwarzer oder der Friedensbewegung. Gerhard Henschel hat beispielsweise eine ellenlange Polemik unter dem Titel „Das Blöken der Lämmer. Die Linke und der Kitsch“ verfasst. Dass Neurechte wie Klaus Rainer Röhl ihre NS-affine Anti-Political Correctness-Polemik fast wörtlich bei Linken wie Henschel abschrieben, war den Linken zwar manchmal etwas unheimlich, aber nicht immer. Eckhard Henscheid wurde schließlich zum Gewährsmann der Jungen Freiheit für Meinungsfreiheit. O sancta simplicitas.
Weil aber der Political Correctness-Mythos so viele Wünsche, rechte wie linke, erfüllte, schaute man nicht so genau hin. Und hier gilt, was immer gilt: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.
Zum Weiterlesen: Marc Fabian Erdl: Die Legende von der Politischen Korrektheit. Zur Erfolgsgeschichte eines importierten Mythos. Bielefeld: Transcript 2004.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.