Stephan Hebel: „Merkel bedient den Konservatismus und Marktliberalismus fast mustergültig“
25. Februar 2013 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Stephan Hebel zu Angela Merkels Politik und zu möglichen Alternativen. Stephan Hebel ist Politischer Autor der Frankfurter Rundschau. Sein aktuelles Buch zur Politik der schwarz-gelben Bundesregierung erscheint am 26. Februar 2013 im Westend Verlag.
Ihr aktuelles Buch trägt den Titel: "Mutter Blamage. Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht" (bol.de, thalia.de). Weshalb glauben Sie, dass Bundeskanzlerin Merkel sich blamiert hat? Ihre Politik der Krisenbekämpfung scheint bei den Menschen doch gut anzukommen, sieht man sich ihre Beliebtheitswerte an...
Stephan Hebel: Ich fange mal mit dem an, was ich mit Blamage NICHT meine: Gemessen an ihren eigenen Zielen und der Strategie, mit der sie sie verfolgt, hat sich Angela Merkel nicht blamiert. Im Gegenteil: Sie hat damit – leider, wie ich finde – Erfolg. Allerdings blamiert sie meiner Meinung nach gerade deshalb das Land, dem sie zu dienen hätte. Sie blamiert sich und uns alle, indem sie Deutschland zum neoliberalen Lehrmeister Europas macht und dabei Schaden nicht nur für andere in Kauf nimmt, sondern auch für Deutschland.
Sie tut das zum Beispiel, wenn sie die europäischen Exportmärkte, von deren Schulden unsere Wirtschaft jahrelang profitierte, dazu zwingt, sich kaputtzusparen. Das wird auf uns zurückfallen, sobald China, die USA und einige Schwellenländer an Importkraft verlieren sollten. Und sie blamiert sich – durch Nichtstun – angesichts der ökonomischen und sozialen Herausforderung, durch echte Mindestlöhne und andere soziale Verbesserungen für mehr Gerechtigkeit und zugleich für eine bessere Binnennachfrage zu sorgen. Nur damit nämlich würde die gefährliche Exportabhängigkeit Deutschlands reduziert.
Warum brauchen wir Angela Merkel und ihre Politik nicht?
Stephan Hebel: Zum einen aus den eben genannten Gründen. Zum anderen halte ich einen echten Richtungswechsel für notwendig. Denn auch wenn Merkel so tut, als sei sie für alle da, bedient ihre Politik fast mustergültig den Ideologie-Mix aus gesellschaftlichem Konservatismus und wirtschaftlichem Marktliberalismus: Während sie in der Wirtschaft – entgegen dem erweckten Anschein – die freie Entfaltung des Kapitals wo immer möglich unterstützt, betreibt ihre Regierung gesellschaftspolitisch die alte Politik des paternalistischen Sicherheitsstaates.
Sie fordern einen Richtungswechsel. Gibt es in Deutschland denn aber überhaupt so etwas wie Wechselstimmung, oder wünschen die Menschen nicht eher so wenig Veränderung wie möglich? Immerhin hat selbst die SPD einen Kanzlerkandidaten bestimmt, der nicht gerade für einen radikalen Richtungswechsel steht...?
Stephan Hebel: Ihre Frage hat zwei Teile, erstens die Stimmung und zweitens den Steinbrück. Zunächst zur Wechselstimmung: Ja, die ist nicht gerade ausgeprägt - aus meiner Sicht nicht zuletzt eine Folge der gelungenen Merkel'schen Verschleierungsstrategie. Allerdings, auch wenn ich das Ergebnis der Niedersachsen-Wahl keineswegs für einen triumphalen rot-grünen Aufbruch halte: Immerhin konnten wir dort sehen, dass es mit Glück funktionieren kann, wenn sich die Alternativen im Wahlkampf einigermaßen klar gegenüber stehen.
Auf der Bundesebene allerdings, und damit sind wir bei Steinbrück, ist eine rot-grüne Machtperspektive weit weg: Hier wird die Linkspartei es wohl schaffen, und wer mit ihr partout nichts zu tun haben will, vermittelt die Botschaft: Es wird dann sowieso wieder Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün, jedenfalls Merkel. So befördert man den Wechsel nicht.
Sie haben Recht, dass Steinbrück nicht gerade einen radikalen Richtungswechsel verkörpert. Er hat allerdings den Vorteil, auch im "bürgerlichen Lager" ein paar Stimmen abzugreifen, vorausgesetzt, er findet zurück zur Seriosität. Und: Personen sind nicht alles! Entscheidend wird meines Erachtens sein, dass Sigmar Gabriel ihn erfolgreich auf die wichtigsten Reformthemen der SPD verpflichtet – bei Steinbrücks Krönungsparteitag hat das ja schon mal ganz gut funktioniert. Ich weiß nicht, wie konsequent eine Regierung Steinbrück dann die politischen Alternativen vertreten würde, zum Beispiel bei Regulierung und Sozialpolitik. Aber ich werde nicht das Schlimmere wählen, weil mir das Bessere nicht gut genug ist und das Beste – ich gebe es zu – auch aus diesen Wahlen kaum hervorgehen wird.
Betreibt Merkel wirklich, wie oft behauptet wird, eine Sozialdemokratisierung ihrer Partei?
Stephan Hebel: Nein. Zwar gibt es einige Punkte, an denen die Kanzlerin sozialdemokratische Programmpunkte übernimmt – allerdings eher symbolisch als konsequent, wie ich in meinem Buch zu zeigen versuche. So redet sie von Mindestlohn und meint doch nur eine Untergrenze, die von Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgehandelt wird und deshalb genau da, wo Gewerkschaften schwach sind, wenig hilft. Sie redet von Regulierung und geht doch nur gerade so weit, wie der gesellschaftliche Druck nach der Finanzkrise es unausweichlich erscheinen lässt. Weitergehende Vorschläge werden vom Tisch gewischt. Und die so häufig zitierte Familienpolitik beugt sich nicht nur gesellschaftlichen Notwendigkeiten, sondern auch dem Druck der Unternehmen, die die Frauen derzeit für den Arbeitsmarkt brauchen – von der Milliardenverschwendung namens "Betreuungsgeld" ganz zu schweigen.
Manches sieht also auf den ersten Blick "sozialdemokratisch" aus und dient doch vor allem dem Zweck, die Öffentlichkeit zu täuschen und damit der jetzigen Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dass dabei auch mal "Gutes" herauskommt, bestreite ich nicht. Allerdings handelt es sich dabei um den – viel zu kleinen – "Kollateralnutzen" einer insgesamt neoliberalen Politik.
Was können wir von Merkel und ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble für die Zeit nach den nächsten Bundestagswahlen erwarten, wenn sie an der Regierung bleiben?
Stephan Hebel: Schäuble hat bereits Ende des Jahres 2012 angedeutet, wo es hingehen könnte: weitere Heraufsetzung des Renteneintrittsalters, weniger Geld für Frührentner, höhere Mehrwertsteuer auf Güter des Grundbedarfs wie zum Beispiel Lebensmittel. Und er hat gleich auch den inzwischen salonfähigen Griechenhass bedient, indem er diese Dinge mit den Kosten der Euro-Rettung begründete. Die Finanzierungs-Alternative – große Einkommen und Vermögen durch höhere Steuern stärker heranzuziehen – können wir zugleich vergessen, sollte die schwarz-gelbe Regierung es wieder schaffen. Aber sind wir wirklich so dumm, die zunehmende soziale Ungerechtigkeit – ungleiche Vermögensverteilung, ausufernder Niedriglohnsektor bei steigenden Spitzeneinkommen – bei uns und anderswo hinzunehmen, ohne die wirklich Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft zu ziehen? Ich will es nicht glauben.
Zum Weiterlesen
Stephan Hebel: Mutter Blamage. Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht. Westend-Verlag, Frankfurt 2013. 160 Seiten, 13,99 Euro. ISBN 978-3864890215 (bol.de, thalia.de).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.