Schlachtereien in Niedersachsen: Profite auf Kosten der Beschäftigten
25. April 2013 | Patrick Schreiner
Das westliche Niedersachsen ist eine Schwerpunktregion des Fleisch- und Schlachtereigewerbes in Deutschland - und die wiederum ist eine Branche, die völlig zu Recht massiv in die Kritik geraten ist. Jahrelang hatte lediglich die zuständige Gewerkschaft NGG auf extreme Missstände im Zusammenhang mit der Beschäftigung meist osteuropäischer mobiler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hingewiesen. Inzwischen haben sich auch Parteien und Kirchen dieses Themas angenommen, das in den letzten Monaten zu einem echten Politikum in Niedersachsen geworden ist.
Hinter diesem Politikum steht allerdings ein Problem, das weder auf das westliche Niedersachsen noch auf das Fleisch- und Schlachtereigewerbe beschränkt ist. In ganz Deutschland wächst die Zahl mobiler Beschäftigter auch in der Bauwirtschaft, in der Pflege, in Wäschereien, der Landwirtschaft und Tierhaltung sowie in der Gebäudereinigung. Sie kommen für einen beschränkten Zeitraum - für wenige Wochen, einige Monate oder wenige Jahre - zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland. Hier erbringen sie einfache, meist körperlich belastende Arbeiten. Aufgrund mangelnder Kenntnisse der eigenen Rechte, fehlender Anlaufstellen, mangelnder Sprachkenntnisse und Unsicherheit ob der eigenen Handlungsmöglichkeiten sind die Betroffenen ihren Arbeit- und Auftraggebern sowie ihren Ver- und Entleihern weitgehend hilflos ausgeliefert. Überlange Arbeitszeiten, menschenunwürdige Behandlung, unzureichender Arbeitsschutz, indiskutable Unterkünfte und Löhne im untersten Niedriglohnbereich sind bei der temporären Arbeitsmigration eher die Regel als die Ausnahme.
Auf diese Weise - und auf Kosten der mobilen Beschäftigten - haben sich Unternehmen in Deutschland einen zusätzlichen Niedriglohnsektor geschaffen, dessen Grundlage die temporäre Arbeitsmigration ist. Die Unternehmen nutzen aber keineswegs nur osteuropäische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus, sondern sie verdrängen dank der Billiglöhne auch die teurere Konkurrenz aus westeuropäischen Nachbarländern. So haben beispielsweise im Schlachtereigewerbe tausende Menschen in Dänemark, Frankreich und Belgien ihre (gut bezahlte) Arbeit verloren, weil Standorte nach Deutschland verlagert oder schlicht geschlossen wurden. Innerhalb von nur zehn Jahren ist Deutschland vom Fleisch-Großimporteur zum -Großexporteur und zum größten Erzeuger in Europa geworden. Die belgische Regierung hat sich inzwischen offiziell bei der EU-Kommission über dieses Lohndumping beschwert.
In unschöner Regelmäßigkeit werden Vorkommnisse extremer Ausbeutung mobiler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer medial aufgegriffen, so etwa auch der folgende Fall: Bei Abbrucharbeiten auf dem Gelände des Universitätsklinikums Essen (Nordrhein-Westfalen) wurden im August dieses Jahres 52 polnische Bauarbeiter eines Subunternehmens, die nach ausbleibenden Lohnzahlungen protestiert hatten, ohne Bezahlung von der Baustelle geworfen. Der Industriegewerkschaft BAU und dem Landschaftsverband Rheinland, letzterer war der öffentliche Auftraggeber der Arbeiten, gelang es erst nach langwierigen Verhandlungen, das Generalunternehmen zur Zahlung eines Lohns in Höhe des für den Baubereich verbindlichen Mindestlohns zu bewegen.
Auch Niedersachsen hat eine Gemeinde mit dem Namen Essen, in der mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in großer Zahl beschäftigt sind. Das niedersächsische Essen im Landkreis Cloppenburg ist Standort einer großen Schlachterei eines dänischen Konzerns. Weitere niedersächsische Standorte von Schlachtereien befinden sich unter anderem in Emstek (gleichfalls Landkreis Cloppenburg), Lohne (Landkreis Vechta) und in der Samtgemeinde Sögel (Emsland). Auf diese Orte konzentrieren sich bislang die Diskussionen in Medien und Politik, die im Dezember 2012 sogar den Landtag in seiner letzten Sitzung der abgelaufenen Legislaturperiode beschäftigt haben.
In den niedersächsischen Schlachtereien wird die Ausbeutung mobiler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorwiegend über Werkverträge organisiert. Die Beschäftigten sind zu prekären Arbeitsbedingungen bei einem "Dienstleister" (Subunternehmer) aus Deutschland oder aus einem osteuropäischen Herkunftsland angestellt. Dieser wiederum ist über einen Werkvertrag an das Schlachtereiunternehmen gebunden und erbringt Schlachtleistungen zu Billigpreisen. Werkverträge ersetzen auf diese Weise (nicht nur in der Fleisch- und Schlachtbranche) zunehmend Leiharbeitsverhältnisse, die - weil immer stärker reguliert - für die Arbeitgeber unattraktiver geworden sind. In den großen niedersächsischen Schlachtereien liegt der Anteil des eigenen, fest angestellten Personals heute meist deutlich unter 50 Prozent, teilweise sogar unter 25 Prozent.
Die Arbeitsverhältnisse, in die mobile Beschäftigte im Rahmen temporärer Arbeitsmigration geraten, sind oft extrem prekär. Auch hier kann die niedersächsische Fleischindustrie als trauriger Vorreiter gelten. Arbeit und Entlohnung im Akkord ist der Normalfall. Tendenziell ist von Monatsgehältern unter 1000 Euro auszugehen; bei mobilen Beschäftigten aus Rumänien und Bulgarien sind die Löhne oft nochmals deutlich geringer. Das in diesem Zusammenhang oft zu hörende Argument, dass das niedrige Gehaltsniveau vieler mobiler Beschäftigter (verglichen mit dem des Herkunftslands) noch immer relativ hoch sei, kann nicht überzeugen: Erstens müssen sie ihren Lebensunterhalt, und sei es vorübergehend, in Deutschland bestreiten. Zweitens zahlen viele entsandte Beschäftigte auch im Herkunftsland kaum Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, da sie beispielsweise auf dem Papier nur zum dortigen Mindestlohn angestellt sind (das ist in vielen Fällen Mindestvoraussetzung, um überhaupt entsandt werden zu können).
Diese ohnehin schon indiskutablen Arbeitsverhältnisse gehen oft mit katastrophalen und völlig überteuerten Wohnverhältnissen einher. In der Regel werden Unterkünfte, oft baufällig, seitens der Arbeitgeber gestellt. In diesen Massenunterkünften teilen sich bis zu acht Menschen ein Zimmer, für das sie auch noch überhöhte Mieten bezahlen müssen. Die Presse nennt verschiedene Zahlen: Von 150 bis 170 Euro pro Schlafplatz ist die Rede, was aber eher die Untergrenze sein dürfte, denn Quelle für diese Angaben ist ein Werkvertragsunternehmen. Die Osnabrücker Zeitung berichtete vom Mietvertrag eines mobilen Beschäftigten in Lohne: 450 Euro Kaltmiete für ein 25-Quadratmeter-Zimmer, in dem eine vierköpfige Familie lebte - und im ganzen Haus stand für 19 Menschen nur ein Bad zur Verfügung.
Überhöhte Mieten sind vor diesem Hintergrund faktisch ein weiteres Instrumentarium, um Niedriglöhne noch niedriger zu machen. Dass zwischen schlechter Entlohnung und schlechter Unterkunft ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, macht nicht zuletzt folgendes Beispiel deutlich: Im niedersächsischen Essen ist einem jungen ungarischen Arbeiter durch seinen ungarischen Arbeitgeber gekündigt worden, nachdem er einem Reporter der Lokalzeitung seine Unterkunft gezeigt hatte. Diese "Scheu" vieler Schlachtunternehmen und ihrer "Dienstleister" vor der Presse und der Öffentlichkeit ist mittlerweile fast branchenüblich.
Anders als die Presse haben Behörden durchaus die Möglichkeit, auch gegen den Willen der Vermieter beziehungsweise Arbeitgeber, Unterkünfte zu besichtigen. Zurückhaltend zeigte sich dabei zunächst der Landkreis Emsland. Der Landkreis Cloppenburg hingegen hat bekannt gegeben, schon seit 2005 Standards festgelegt zu haben: Maximal vier Betten pro Zimmer, mindestens acht Quadratmeter Wohnfläche pro Person, Aufenthaltsräume und Kochmöglichkeiten in ausreichender Zahl sowie mindestens ein Waschplatz für fünf Personen. Der Landkreis Vechta hat zwischenzeitlich immerhin angekündigt, Standards für Unterkünfte festzulegen und strengere Kontrollen durchzuführen. Hier ist die Rede von Einzelzimmern mit mindestens neun Quadratmetern Fläche sowie von maximal vier Personen pro Bad.
Die betroffenen niedersächsischen Regionen sind ländlich, überwiegend katholisch geprägt und kommunalpolitisch von der CDU dominiert. Vor Ort engagieren sich, neben den Gewerkschaften und den ihnen nahestehenden Parteien, mittlerweile auch die Kirchen und sogar Lokalpolitikerinnen und Lokalpolitiker der CDU gegen die Ausbeutung durch Werkverträge. Der katholische Prälat Peter Kossen hat die Situation mobiler Beschäftigter im vergangenen Herbst in einer seiner Predigten thematisiert, in einer anderen hat er den Sozialbetrug durch Unternehmen gegeißelt. Wenig später hat man ihm ein totes, abgezogenes Kaninchen vor die Tür gelegt. Eine unverhohlene Drohung, von wem auch immer.
Auf Landesebene hingegen schien diese Problematik bis zur Landtagswahl im Januar noch nicht bis zu CDU und FDP durchgedrungen zu sein. Der ehemalige Ministerpräsident David McAllister (CDU) findet es zwar "nicht in Ordnung", wenn "Werkverträge missbraucht werden, um tarifliche und soziale Standards zu umgehen". Vorschläge für Maßnahmen waren von ihm allerdings nicht zu hören. Gleiches gilt für den ehemaligen Agrarminister Jörg Lindemann (CDU). Und der ehemalige Arbeits- und Wirtschaftsminister Jörg Bode (FDP) glänzte durch die wenig hilfreichen Vorschläge, betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollten sich an Polizei oder Zoll wenden; zudem sollten Verbraucherinnen und Verbraucher keine Produkte mehr kaufen, die unter fragwürdigen Bedingungen hergestellt worden seien. Und überhaupt fehlten "empirisch belegte und belastbare Informationen" darüber, dass es sich um ein flächendeckendes Problem handle.
Die bisherige Landesregierung von CDU und FDP tat alles andere, als mit konkreten Maßnahmen gegen die Ausbeutung mobiler Beschäftigter zu glänzen. Seit mittlerweile fast fünf Jahren bemühte sich der DGB in Niedersachsen, die Landesregierung von der Notwendigkeit umfassender Beratungsstrukturen für diese Beschäftigten zu überzeugen. Ziel ist es vor allem, den Betroffenen niedrigschwellig und mehrsprachig zur Seite zu stehen. In anderen Bundesländern existieren solche Angebote längst. In Niedersachsen waren entsprechende Bemühungen bis zur Wahl erfolglos, sie scheiterten an der Ignoranz Bodes und der Passivität McAllisters.
Solche Beratungsangebote sind wichtig, sie können allerdings Maßnahmen auf gesetzgeberischer Ebene nicht ersetzen. Der europäische Binnenmarkt wird seit Jahrzehnten systematisch dazu genutzt, die Beschäftigten verschiedener Länder zueinander in Konkurrenz zu setzen - mit dem Ziel möglichst niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen. Und auch auf einzelstaatlicher Ebene wurden die Arbeitsmärkte immer weitreichender liberalisiert. Beides bereitete ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen im Rahmen temporärer Arbeitsmigration überhaupt erst den Boden. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, bedarf es daher strikter Re-Regulierungen der Arbeitsmärkte einschließlich der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns und der Stärkung von Flächentarifverträgen.
Von gesetzgeberischen Maßnahmen wollten auf Landesebene aber weder CDU noch FDP etwas wissen. Zwar forderte CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer eine Änderung des Werkvertragsrechts, strengere Kontrollen und die Einführung einer „Lohnuntergrenze“. Der CDU-Abgeordnete Ansgar Focke wollte den Unternehmen gar „Daumenschrauben anlegen“. Davon war aber nichts mehr zu sehen, als schließlich abgestimmt wurde: Die Linksfraktion brachte in der letzten Landtagssitzung der vergangenen Legislaturperiode im Dezember einen Antrag ein, der von SPD und Grünen unterstützt wurde. Ziel war eine Bundesratsinitiative für ein schärferes Gesetz gegen den Missbrauch von Werkverträgen. CDU und FDP lehnten mit ihrer damaligen Mehrheit den Antrag ab.
Die neue, rot-grüne Landesregierung und die neue Landtagsmehrheit scheinen hier nun tatsächlich andere Akzente zu setzen. So gibt es deutliche Signale, Beratungsstrukturen für mobile Beschäftigte schaffen zu wollen. Und eine Bundesratsinitiative für Gute Arbeit sowie gegen den Missbrauch von Werkverträgen hat man auch beschlossen.
Dieser Artikel erschien in einer früheren Fassung zuerst in WISO-Info Ausgabe 1 (2013).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.