Märchen aus der Deutschen Bank (6): Höhere deutsche Importe helfen den Krisenländern kaum
20. März 2013 | Patrick Schreiner
Mitte Februar hat Deutsche Bank Research (DBR) ein „Research Briefing“ veröffentlicht, in dem unter anderem die Forderung widerlegt werden soll, durch eine Stärkung der Binnennachfrage und der Importe in/nach Deutschland den südeuropäischen Staaten zu helfen, ihre Außenhandels-Ungleichgewichte auszugleichen. Es ist dies einmal mehr der Versuch, die neoliberale Austeritäts- und Kürzungspolitik pseudowissenschaftlich zu rechtfertigen. - Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
In dem von den Autoren Bernhard Gräf, Heiko Peters und Stefan Schneider verfassten „Ausblick Deutschland“ findet sich ab Seite 4 unter dem Titel „Deutschland: Stark genug, um Europa zu retten?“ dieser Versuch, Forderungen nach einer wirksameren, weil nachfrageorientierten Lohn- und Fiskalpolitik in Deutschland abzuwehren. Bevor ich genauer auf diesen Text eingehe, sei er in zweierlei Hinsicht kontextualisiert:
- Er steht im Kontext immer lauter werdender Forderungen, angesichts der Verelendung und Misere in Südeuropa die ökonomische Abwärtsspirale endlich zu stoppen, indem sich auch die Außenhandelsüberschussländer – allen voran Deutschland – daran beteiligen, die Außenhandelssaldi der europäischen Staaten auszugleichen. Sie könnten dies tun, indem sie ihre eigene volkswirtschaftliche Nachfrage erhöhen und damit ihre Importe ausweiten. Da der Außenhandelsüberschuss der einen immer das Außenhandelsdefizit der anderen ist, würde dies zu einem Ausgleich der Außenhandelssaldi auf allen Seiten führen (bei unverändertem Außenhandelssaldo des Euroraums als Ganzem). Am prominentesten fanden diese Positionen jüngst zum Jahreswechsel im Rahmen einer neuen Lohndebatte Niederschlag, was wenig überraschend sofortigen Widerspruch der Arbeitgeberseite fand. Es gibt mittlerweile zuhauf fundierte wissenschaftliche Untersuchungen, die die Sinnhaftigkeit einer solchen Strategie nahelegen, erarbeitet etwa im Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, in der Forschungsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik oder bisweilen auch in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Für eine kürzere, inhaltlich umfassende Darstellung des Gesamtzusammenhangs sei auf einen jüngeren Blogbeitrag von Mark Dittli verwiesen.
- Der DBR-Text steht im Kontext jahrzehntelanger Debatten um die Bedeutung und Konsequenzen wachsender Außenhandelsdefizite in vielen Volkswirtschaften, denen spiegelbildlich wachsende Außenhandelsüberschüsse anderer Volkswirtschaften gegenüberstehen. Vor der Finanzkrise ab 2007 haben neoliberal-wissenschaftliche IdeologInnen nachdrücklich mithilfe der wildesten Theoreme versucht, dieses ökonomische Phänomen als unproblematisch, normal oder gar nützlich darzustellen. Ihre versteckte Befürchtung war, dass berechtigte Kritik an zunehmend positiven und negativen Außenhandelssaldi zu einer Grundsatzkritik an Freihandel und Globalisierung führen würde. Thomas Palley hat diese Debatten, die überwiegend vor 2007 stattfanden, jüngst in einer gelungenen Zusammenfassung übersichtlich dargestellt. Das Ergebnis dieser ideologisch motivierten Blindheit war letztlich die Finanzkrise. Heute sehen auch neoliberale IdeologInnen in Wissenschaft und Politik Außenhandelsüberschüsse und –defizite als Problem an. Ihre Konsequenz ist aber nicht Kritik an Neoliberalismus und Globalisierung, sondern deren Radikalisierung in Form der aktuell praktizierten Austeritäts- und Kürzungspolitik.
Nun aber zu den Inhalten des DBR-Textes. Gräf/Peters/Schneider argumentieren wie folgt: Eine Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland würde den Ländern in Südeuropa kaum helfen. Ein um einen Prozentpunkt höheres Wirtschaftswachstum hierzulande würde dort lediglich zu 3,25 Mrd. oder 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) höheren Exporten führen. Zudem wären solche höheren Exporte nur zeitlich befristet, weshalb für eine dauerhafte Gesundung der südeuropäischen Volkswirtschaften „Reformen“ unausweichlich seien.
Eine solche Argumentation – bzw. die konkrete Begründung von Gräf/Peters/Schneider – ist aus mehreren Gründen fragwürdig:
- Ihre Analyse stellt lediglich eine simplifizierende Karikatur der Konzepte dar, die auf eine expansivere und wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik in Europa setzen. Lediglich einmalig die volkswirtschaftliche Nachfrage in Deutschland um 1 Prozent zu erhöhen, dürfte nämlich tatsächlich unzureichend sein. Notwendig sind vielmehr dauerhafte starke Lohnerhöhungen sowie dauerhaft mehr Investitionen, und dies nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern mit Außenhandels-Überschüssen. Die dadurch erzielten Effekte gehen über einen Anstieg des BIP nur um 1 Prozent und nur in Deutschland deutlich hinaus.
- Ihre Analyse unterliegt, wie sie selbst einräumen, der Ceteris-Paribus-Klausel. Das bedeutet, dass sie lediglich die direkten Auswirkungen höherer deutscher Importe (und Reiseverkehrsausgaben) auf die Außenhandelssaldi Griechenlands, Spaniens, Italiens und Portugals berechnen, nicht aber indirekte Effekte. Letztere können etwa entstehen, wenn Deutschland mehr aus Frankreich importiert und sich damit die französische Nachfrage nach italienischen oder spanischen Vorprodukte erhöht. Diese Effekte tun Gräf/Peters/Schneider aber locker als „wohl zu vernachlässigen“ ab. Gerade eine deutliche und dauerhafte Ausweitung der volkswirtschaftlichen Nachfrage sowie der öffentlichen und privaten Investitionen in Europa würde aber eine Wachstumsspirale nach oben in Gang setzen, die eben nicht mehr „wohl zu vernachlässigen“ wäre.
- Gräf/Peters/Schneider legen ihrer Untersuchung eine Analyse der Einkommenselastizität der deutschen Importnachfrage zu Grunde. Dabei tun sie faktisch so, als sei die Einkommenselastizität fix und unveränderbar. Das ist aber fragwürdig, und zwar aus zwei Gründen: Erstens, weil die Einkommenselastizität auch von der Güterstruktur deutscher Importe abhängt (was die Autoren bis zu diesem Punkt durchaus einräumen). Eine expansive und wachstumsorientierte Politik in Europa würde aber eben nicht einfach nur mehr Nachfrage in den Überschussländern erfordern, sondern auch massive Investitionen in Südeuropa, wie sie jüngst etwa der DGB mit seinem Marshallplan beschrieben hat. Dies würde aber zu einer Verschiebung von Wirtschaftsstrukturen europäischer Volkswirtschaften und damit auch von Güterstrukturen bei den Importen und Exporten führen. Eine stärkere Industrialisierung Südeuropas hätte zur Folge, dass diese Länder mehr exportfähige Waren und Dienstleistungen zu konkurrenzfähigeren Preisen anbieten könnten. Zu glauben, die Einkommenselastizität der deutschen Importnachfrage bliebe dann unverändert, ist naiv; diese dürfte vielmehr deutlich ansteigen. - Zweitens ist die Annahme fixer und unveränderbarer Einkommenselastizitäten der Nachfrage Deutschlands fragwürdig, weil diese möglicherweise gerade deshalb eher bescheiden ausfällt, weil die Löhne – und damit die Arbeitskosten – hierzulande nicht nur ein wenig, sondern viel zu gering sind. Eine Ausweitung der Nachfrage (durch Lohnerhöhungen und mehr Staatsausgaben), die über die geringen 1 Prozent des BIP deutlich hinausgehen, die Gräf/Peters/Schneider ihrer Untersuchung zu Grunde legen, würden daher mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer deutlichen Veränderung der Einkommenselastizität der deutschen Importnachfrage führen – zu Gunsten Südeuropas.
Interessant ist, dass Gräf/Peters/Schneider trotz der restriktiven Vorannahmen ihrer Untersuchung schließlich zu einem Ergebnis kommen, das so negativ eigentlich gar nicht ist. Obwohl sie nur von einer Steigerung des deutschen BIP um 1 Prozent ausgehen, kommen sie am Ende zu dem Ergebnis, dass dies immerhin den Ausgleich von 5 Prozent des Handelsbilanzdefizits Portugals, Spaniens und Griechenlands ermöglichen würde:
Die von uns aufgrund eines 1%-igen stärkeren deutschen Wachstums berechnete Verbesserung der Handelsbilanz der GIPS-Länder um gut EUR 2 ½ Mrd. würde lediglich knapp 5% des Handelsbilanzdefizits dieser Länder entsprechen.
Die Frage ist: Warum „lediglich“? Unter den restiktiven und unrealistischen Vorannahmen, die der DBR-Untersuchung zu Grunde liegen, erscheinen mir fünf Prozent ein erstaunlich hoher Wert zu sein. Dies zeigt: Eine nachfragegetriebene Steigerung des deutschen BIP um deutlich über 1 Prozent, zudem über mehrere Jahre hinweg, kann durchaus einen nennenswerten Beitrag zum exportseitigen Ausgleich der Außenhandelsbilanzen in Griechenland, Spanien und Portugal leisten. Es ist folglich durchaus machbar, vorrangig auf dem Weg einer Stärkung der Nachfrage in Überschussländern die Außenhandelssaldi in Europa – auch in den Defizitländern – auszugleichen. Dies erscheint aber letztlich nicht nur als machbar, sondern sogar als der einzig gangbare und realistische Weg. Zum Ausgleich der Außenhandelssaldi müssen nicht nur Defizitländer, sondern gerade auch Überschussländer beitragen. Denn die Alternative dazu ist eben jene Abwärtsspirale, in der sich Nachfrage, Investitionen und Produktion in Europa heute befinden.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.