Massenexodus als wirtschaftspolitische Strategie: Vorbild Lettland?
23. Mai 2013 | Patrick Schreiner
Immer wieder wird Lettland von Politik und Medien als wirtschaftspolitisches Vorbild gepriesen, an dem sich insbesondere südeuropäische Staaten orientieren sollten. Lettland hatte nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007ff. einen rigiden Kürzungs- und Austeritätskurs gefahren. Staatsausgaben, Sozialleistungen und Löhne wurden drastisch gesenkt – fast wie im neoliberalen Lehrbuch. Das Wirtschaftswachstum brach daraufhin sehr stark ein, die Arbeitslosenquote explodierte. Kurze Zeit später schien sich die Wirtschaft aber schon wieder zu erholen, die offizielle Arbeitslosenquote sank. Dies ist allerdings, anders als gerne kolportiert wird, keineswegs auf einen „Erfolg“ der lettischen Wirtschaftspolitik zurückzuführen, sondern schlicht auf Emigration. - Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
Schon vor der Krise galt Lettland aufgrund seiner ausgeprägt neoliberalen Wirtschaftspolitik als „Vorbild“. Tatsächlich schienen hohe Wachstumsraten und eine rückläufige Arbeitslosigkeit für eine solche Einschätzung zu sprechen. Dieses positive Image behielt Lettland im Zuge seiner „Krisenbekämpfungspolitik“ ebenso bei wie seine neoliberale wirtschaftspolitische Ausrichtung. Das Handelsblatt etwa schrieb im August letzten Jahres: "Von Lettland lernen, heißt siegen lernen". Der Bayerische Rundfunk sang im Dezember 2012 ein Loblied auf Lettland. Das Manager Magazin garnierte im Mai 2012 vermeintlich gute Nachrichten aus Lettland mit schönen Bildchen, erwähnte aber immerhin die Massenauswanderung. Und schon im Dezember 2011 ließ die FAZ den lettischen Ministerpräsidenten Valdis Dambrovskis von seiner Politik schwärmen. Im März 2013 schließlich berichtete die FAZ: "Ökonomen sind begeistert darüber, wie sich die lettische Wirtschaft entwickelt hat, ohne dass die Währung Lats abgewertet wurde."
Von linker Seite wurde dem „Vorbild Lettland“-Argument zumeist entgegnet, dass Lettland als kleines Land sehr stark auf Export setzen könne und sein Wirtschaftsaufschwung vor, aber gerade auch nach der Krise (immerhin wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 5,5 Prozent in 2011 und 5,6 Prozent in 2012) daher auf Kosten anderer Volkswirtschaften erzielt werde. Dieses Argument ist durchaus richtig – übersieht allerdings, dass insbesondere der jüngste Rückgang der Arbeitslosigkeit in Lettland keineswegs auf der exportgetriebenen Erholung der Wirtschaft beruht. Es ist dies zudem eine Erholung, die nach einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um 17,7 Prozent in 2009 ohnehin von einem sehr niedrigen Niveau ausgeht.
Tatsächlich lässt sich mittlerweile kaum mehr leugnen, dass nicht Wachstum, Exportorientierung und wirtschaftlicher Aufschwung, sondern die massenhafte Auswanderung von Arbeitskräften die Arbeitslosenzahlen in Lettland nach unten drückten. Lettland hatte 2012 insgesamt 340.000 EinwohnerInnen weniger als im Jahr 2000. Bei einer Bevölkerungszahl von knapp 2,4 Mio. Menschen in 2000 und etwas mehr als 2 Mio. in 2012 entspricht dies einem Rückgang der Bevölkerung um 14,2 Prozent (alle Zahlen: Eurostat). Das Gros dessen erfolgte nach 2009, also nach Beginn der Krise und der Austeritäts- und Kürzungspolitik.
Dieser Rückgang hat zwei wesentliche Gründe:
- Die Geburtenrate gleicht die Sterberate bei Weitem nicht aus. Etwa 38,5 Prozent des Bevölkerungsrückgangs ist nach Angaben des Statistischen Amtes Lettlands auf diesen Faktor zurückzuführen.
- Bedeutende Bevölkerungsteile wandern aus. Etwa 61,5 Prozent des Bevölkerungsrückgangs ist auf diesen Faktor zurückzuführen.
Führt man sich diesen Umstand vor Augen, so stellen sich zwei Fragen: Wie hoch wäre die Arbeitslosigkeit in Lettland, wenn es diesen Massenexodus nicht gegeben hätte? Und wäre die Arbeitslosigkeit in den Jahren nach 2009 tatsächlich zurückgegangen, wenn alle Menschen im Land geblieben wären?
Bei der Antwort auf diese Fragen ist zu unterscheiden:
- Bezieht man alle Wanderungsbewegungen seit dem Jahr 2000 ein, so gilt: Die Arbeitslosenquote in Lettland wäre ohne diesen Massenexodus heute (2012) sehr viel höher. Die Quote würde nicht knapp 15 Prozent, sondern 28 Prozent betragen. Schon vor der Krise wäre die Arbeitslosigkeit nicht von 13,7 Prozent (2000) auf 6,5 Prozent (2007) zurückgegangen, sondern lediglich auf 10,4 Prozent. Und nach den Kürzungsprogrammen 2009/2010 wäre die Arbeitslosenquote nicht etwa wieder gesunken, wie die offiziellen Zahlen vermelden, sondern sogar weiter angestiegen.
- Selbst wenn man nur die Wanderungsbewegungen seit dem Jahr 2009 einbezieht, also seit Beginn der Krise und der lettischen Kürzungspolitik, gilt Ähnliches: Die Arbeitslosenquote in Lettland wäre ohne diesen Massenexodus heute (2012) deutlich höher. Die Quote würde dann nicht knapp 15 Prozent, sondern über 23 Prozent betragen. Tendenz keineswegs sinkend.
Die genannten Zahlen werden in nachfolgender Abbildung grafisch veranschaulicht. Von einem Erfolg der lettischen Austeritäts- und Kürzungspolitik kann angesichts dessen nicht die Rede sein – und zwar weder vor noch nach der aktuellen Krise. Nicht die Schaffung von Arbeitsplätzen ist für den Rückgang der Arbeitslosigkeit vor 2008 und ab 2011 verantwortlich, sondern schlicht die Auswanderung eines nennenswerten Teils der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Die Zahlen und Berechnungen in diesem Artikel beruhen allesamt auf Daten von Eurostat, sofern nicht anders angegeben. Zu beachten ist dabei Folgendes:
- Obwohl nach Angaben des Statistischen Amtes Lettlands über 60 Prozent des Bevölkerungsrückgangs auf Emigration zurückzuführen sind, wurden in den Berechnungen für diesen Artikel nur etwa 40 Prozent dieses Bevölkerungsrückgangs der Arbeitslosenquote zugeschlagen. Es ist nämlich anzunehmen, dass nicht nur Erwerbsfähige das Land verlassen haben, sondern in gewissem Umfang auch deren Familienmitglieder.
- Zu beachten ist ferner, dass es Anhaltspunkte gibt, die vermuten lassen, dass der offizielle Bevölkerungsrückgang die tatsächlichen Werte nur unzureichend wiedergibt.
Beides legt nahe, dass die Arbeitslosenquoten (inklusive Emigration) aus obiger Abbildung insgesamt eine sehr vorsichtige Schätzung darstellen und die tatsächlichen Werte eher noch höher ausfallen könnten.
Dieser Artikel erschien in einer überarbeiteten Fassung zuerst in Lunapark21 Ausgabe 21 (2013). Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.