"Arme Deutsche" / reiche Deutsche: Steltzner (FAZ) macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt
11. April 2013 | Patrick Schreiner
FAZ-Herausgeber Holger Steltzner vertritt seinen Hardcore-Neoliberalismus bisweilen gerne mit scharfen Formulierungen und einer großen Portion Polemik. Zumindest in einem aktuellen Artikel argumentiert er dabei aber weder redlich noch sauber: Um die Vermögensungleichheit in Europa so hinzurechnen, dass die Deutschen als vergleichsweise unvermögend erscheinen, behauptet er heute das Gegenteil dessen, was er gestern behauptet hat. – Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
Die Europäische Zentralbank hat jüngst einen Bericht über die Vermögensverteilung in Europa herausgegeben, dessen Ergebnisse in liberalen und konservativen Medien wie folgt zusammengefasst wurden: Die Deutschen verfügten in Europa mit über die kleinsten Vermögen – und ausgerechnet sie sollten nun für die viel reicheren Menschen etwa in Spanien, Zypern oder Griechenland bezahlen. Jens Berger hat auf den Nachdenkseiten deutlich gemacht, weshalb diese Interpretation nicht haltbar und die Studie selbst methodisch höchst fragwürdig ist. Ich will seine Argumente hier nicht wiederholen, empfehle aber die Lektüre des Originaltextes.
Einen Artikel mit genau entgegengesetzter Stoßrichtung hat gestern der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Holger Steltzner, geschrieben. Sein Text mit dem Titel „Reiche Zyprer, arme Deutsche“ versucht ziemlich genau die Argumente zu widerlegen, die Berger aufführt.
Eines dieser Argumente ist das Folgende: Berger weist darauf hin, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland einen großen Teil ihres Vermögens in Form von Ansprüchen an die gesetzliche Rentenversicherung bzw. an den Staat halten. Oder umgekehrt formuliert: Wenn es, wie vielerorts in Südeuropa, nur eine unzureichende staatliche Alterssicherung gibt, bauen die Menschen umgekehrt größere Vermögen zur Alterssicherung etwa bei privaten Versicherungen auf. Wenn in der EZB-Studie, wie geschehen, vor diesem Hintergrund nur private Altersvorsorge als Vermögen gewertet wird, nicht aber staatliche, dann wird automatisch das Vermögen der Menschen/Haushalte in Staaten mit umfassenderen Alterssicherungssystemen kleingerechnet.
Von einer solchen Argumentation will Steltzner allerdings nichts wissen. Er argumentiert, dass Ansprüche an ein Umlageverfahren mit Vermögenswerten nichts zu tun hätten und deshalb zu Recht nicht in die Studie der EZB einbezogen worden seien:
Manche wollen die Deutschen nun sogar mit ihren angeblich üppigen Rentenansprüchen reich rechnen. Das ist putzig. Seit wann werden in einem Umlageverfahren Vermögen gebildet? Der heimische Rentner oder Pensionär mag einen Rechtsanspruch haben, aber aufbringen muss das Altersgeld die nachwachsende Generation aus dem laufenden Einkommen. Das ist nicht vergleichbar mit Kapitalbildung über Lebensversicherung, Fonds oder Sparbuch. Deshalb wurde nur Letzteres im europäischen Vermögensvergleich berücksichtigt, genauso wie Häuser und Wohnungen abzüglich Schulden, Autos, Kunstwerken oder Schmuck.
Vor wenigen Monaten klang Steltzner bei der Frage nach der Einordnung von Ansprüchen an die staatlichen Rentenkassen noch ganz anders. Im letzten Herbst debattierte Deutschland über den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (genauer: über dessen erste, noch halbwegs ungeschönte Fassung). Dieser Bericht konstatierte, dass die Vermögensungleichheit hierzulande erneut gewachsen sei. Steltzner war bemüht, diese Vermögensungleichheit kleinzurechnen. Er schrieb in einem Kommentar dazu:
Merkwürdig ist, dass Frau von der Leyen in ihrem Bericht die kapitalisierten Ansprüche an die Rentenkasse und an das staatliche Pensionssystem unter den Tisch fallen lässt. Dabei handelt es sich nicht um Kleingeld, sondern Schätzungen zufolge um fünf bis sieben Billionen Euro.
Das ist exakt das Gegenteil dessen, was Steltzner aktuell zur Bewertung von Ansprüchen an staatliche Rentenkassen zum Besten gibt. Die Vermögensungleichheit in Europa will er so berechnen, dass die Deutschen vergleichsweise unvermögend aussehen. Hier sollen Ansprüche an staatliche Rentenkassen nicht einbezogen werden, denn diese sind gerade in Deutschland von besonders großer Bedeutung. Die Vermögensungleichheit in Deutschland hingegen will er kleinrechnen; hier sollen diese Ansprüche sehr wohl berücksichtigt werden, denn diese sind gerade für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die breite Masse der Bevölkerung, von besonderer Bedeutung.
Steltzner macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt.
Unredlich argumentiert Steltzner im Übrigen auch an einem weiteren Punkt, der abschließend kurz erwähnt sein soll. Er schreibt:
Außerdem seien die Haushaltsgrößen verschieden. Auch das stimmt nicht. Deutschland liegt mit etwas mehr als zwei Personen nur knapp unter dem Euro-Schnitt von 2,32.
Auch Berger verweist auf diesen Punkt. Der Unterschied in der Vermögenslage verschiedener Haushalte in Europa ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass in Südeuropa die Haushalte größer sind und umgekehrt es weniger Singlehaushalte gibt. Etwa, weil Jugendliche länger und alte Menschen häufiger wieder bei ihren Familien leben. Dies führt schon rein rechnerisch zu größeren Haushaltsvermögen.
Um dieses Argument zu widerlegen, nennt Steltzner unredlicherweise völlig unpassende Zahlen. Er vergleicht die durchschnittliche Haushaltsgröße in Deutschland („etwas mehr als zwei“) mit der der EU („2,32“) und kommt zum Schluss, dieser Abstand sei gering. Richtig wäre aber, Deutschland nicht mit dem europäischen Durchschnitt, sondern mit den Ländern Südeuropas zu vergleichen. Und da sind die Unterschiede schon deutlicher: Während Deutschland auf einen Schnitt von 2,1 kommt, beträgt dieser in Griechenland und Italien 2,4, in Spanien, Portugal und Zypern sogar 2,7. Das sind dann durchaus rechnerisch relevante Werte und Unterschiede. (Anders als Steltzner gebe ich meine Quelle an: Eurostat, Zahlen des Jahres 2011).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.