Märchen aus der Deutschen Bank (9): Deutsche Leistungsbilanz-Überschüsse sind unproblematisch
15. Januar 2014 | Patrick Schreiner
Einer der wichtigsten Kritikpunkte an der gängigen neoliberalen Krisenerzählung betrifft die deutschen Leistungsbilanz-Überschüsse. Während Merkel, Barroso und Co. das Hohelied der Wettbewerbsfähigkeit singen und entsprechende „Strukturreformen“ in Südeuropa einfordern, blenden sie gerne aus, dass der „mangelnden Wettbewerbsfähigkeit“ dort spiegelbildlich notwendigerweise ein Zuviel an „Wettbewerbsfähigkeit“ anderswo entspricht. In einer Veröffentlichung hat sich auch Deutsche Bank Research Ende des vergangenen Jahres darangemacht, zu begründen, weshalb dieses Zuviel an „Wettbewerbsfähigkeit“, das in deutschen Leistungsbilanz-Exportüberschüssen zum Ausdruck kommt, entgegen der Kritik gar kein Zuviel sei.
Heiko Peters und Stefan Schneider führen in ihrer Veröffentlichung „Deutsche Leistungsbilanzüberschüsse – Kritik nicht stichhaltig“ insgesamt sieben Argumente gegen die deutschen Leistungsbilanz-Überschüsse auf, um eben diese Argumente zu widerlegen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die zwei wichtigsten davon sowie auf die entsprechenden Entgegnungen durch Peters/Schneider, nämlich:
- Deutschland lebt "auf Kosten anderer" und überschwemmt die Welt mit seinen Produkten (S. 3)
- Deutschland importiert zu wenig (S. 4)
Bevor Peters/Schneider auf die sieben Argumente gegen deutsche Leistungsbilanzüberschüsse eingehen, schildern sie auf knapp 1,5 Seiten theoretische und empirische Hintergründe der aktuellen Debatte. Zu Recht stellen sie dar, dass einem Überschuss in der Leistungsbilanz einer Volkswirtschaft notwendig ein entsprechendes Defizit in der Kapitalbilanz gegenübersteht – und umgekehrt (die Devisenbilanz der Zentralbank ausgeblendet). Dies hat zur Konsequenz, dass große und wachsende Exportüberschüsse einer Volkswirtschaft (wenn also die Exporte an Waren und Dienstleistungen die entsprechenden Importe übersteigen) zu großen und wachsenden Vermögensansprüchen inländischer Akteure gegenüber ausländischen Akteuren führen. Oder anders formuliert: Bei Exportüberschüssen verschuldet sich das Ausland beim Inland. Ich empfehle in diesem Zusammenhang durchaus, die Ausführungen von Peters/Schneider auf Seite 2 (gesamt) sowie 3 (oben) zu lesen und die Diagramme am Rand anzusehen.
Bei Exportüberschüssen, also einer positiven Leistungsbilanz, verschuldet sich also das Ausland beim Inland, oder – aus Sicht des Inlands – wachsen finanzielle Ansprüche an das Ausland. Wenn dieser Zustand dauerhaft anhält, bricht diese Schuldenspirale irgendwann zusammen – eine Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Folge. Das Schizophrene an der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte nicht nur, aber vor allem in Deutschland ist, dass zwar die Verschuldung des Auslands bei deutschen Akteuren kritisiert und mit der Forderung nach „Strukturreformen“ gegeißelt wird, die dadurch gebildeten spiegelbildlichen „Vermögen“ deutscher Akteure aber gelobt, als unproblematisch abgetan und als Ausdruck von „Wettbewerbsfähigkeit“ gefeiert werden. Dass das eine zwingend und notwendig mit dem anderen einhergeht, blendet man aus – so etwa geradezu beispielhaft die (alte) Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen:
Hohe und anhaltende Leistungsbilanzdefizite sind kritischer zu werten als hohe und anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse.
Für einen genaueren Einblick in die Zusammenhänge zwischen Lohn(stückkosten)entwicklung, Leistungsbilanzen und Kapitalbilanzen seien folgende Texte empfohlen:
- Johannes Stremme: Die 5 Konten
- Jens Berger: Sprechen wir doch mal über unsere Exportüberschüsse
- Jascha Jaworski: Wie bedeutsam sind die Löhne bei Preisen und Leistungsbilanzen genau?
- Heiner Flassbeck: “Man kann diese verheerende Politik in Europa nicht beliebig lange verkaufen”
- Jascha Jaworski: Der Euro – alles muss raus!
- Patrick Schreiner: Exportüberschüsse und die Kritik der USA – Was die Liberalen seit Adam Smith vergessen haben
Nun aber zu Peters/Schneider:
Argument 1: Deutschland lebt "auf Kosten anderer" und überschwemmt die Welt mit seinen Produkten
Richtigerweise (und ihre Überschrift konkretisierend) benennen Peters/Schneider die Kritik an deutscher Lohnzurückhaltung als Kern dieses Arguments, das sie für falsch halten. Jahrelange Lohnzurückhaltung in Deutschland habe die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft stark erhöht, damit zu Leistungsbilanz-Überschüssen geführt und damit den Export von Arbeitslosigkeit aus Deutschland in andere Länder ausgelöst.
Um dieses inhaltlich richtige Argument zu widerlegen, benennen Peters/Schneider vier vermeintliche Gegenargumente. Es bleibt in ihren knappen Ausführungen aus meiner Sicht unklar, inwiefern sie Zusammenhänge zwischen diesen vier Gegenargumenten sehen.
Gegenargument 1: Die Löhne in Deutschland würden durch Tarif- oder Arbeitsverträge festgelegt und nicht durch die Politik bestimmt.
Klingt auf den ersten Blick schlüssig, aber: Selbst wenn dem so wäre, selbst wenn Löhne ausschließlich durch privatwirtschaftliche Verträge bestimmt würden, macht das die „Lohnzurückhaltung“ nicht besser und nicht unproblematisch. Es ist völlig unerheblich, wer Schuld trägt an der „Lohnzurückhaltung“ – sie ist und bleibt die wesentlichste Ursache für die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse. Davon abgesehen, hat Politik sehr wohl einen starken indirekten Einfluss auf die Löhne: Der Ausbau von Minijobs, prekärer Beschäftigung, Leiharbeit und Werkverträgen, die Verstärkung von Lohnkonkurrenz im europäischen Binnenmarkt und die Reduktion des Arbeitslosengeldes („Hartz IV“) haben die Arbeitnehmer/innen und die Gewerkschaften in ihrer Verhandlungsposition deutlich geschwächt. Das war ein erklärtes politisches Ziel verschiedener Bundesregierungen; ein Ziel, das durchaus erreicht wurde. Formalistisch darauf abzuheben, dass Politik am Abschluss privatwirtschaftlicher Verträge nicht teilhat, greift hier viel zu kurz.
Ausführlicher ist Friederike Spiecker auf diesen Sachverhalt eingegangen, ich empfehle die Lektüre.
Gegenargument 2: Nicht deutsche „Lohnzurückhaltung“, sondern übermäßige Lohnsteigerungen in anderen Ländern hätten zum Auseinanderlaufen der Leistungsbilanzen geführt.
Klingt auf den ersten Blick schlüssig, aber: Die Europäische Zentralbank hat ein Inflationsziel von knapp 2 Prozent festgelegt. Die Inflation wird nicht nur, aber ganz entscheidend durch die Lohnentwicklung bestimmt. Problematisch ist in einer Währungsunion nun aber nicht nur, wenn die Inflation in einzelnen Ländern dauerhaft deutlich über diesen 2 Prozent liegt, sondern auch (und ich würde hinzufügen: vor allem), wenn sie dauerhaft darunter liegt. Es klingt schon ein wenig nach Kindergarten: „Du bist schuld!“ – „Nein, du!“ – „Nein, du!“ Fakt ist: Problematisch waren sowohl die zu geringen Lohnsteigerungen in Deutschland als auch die zu hohen in einigen anderen europäischen Ländern. Während letztere allerdings eher keine politischen Ursachen hatten, wurden erstere in Deutschland politisch bewusst herbeigeführt. Insofern hat Deutschland den Schwarzen Peter zwar nicht alleine, aber doch überwiegend und zu Recht.
Dies gilt umso mehr, als der notwendige Ausgleich der auseinandergelaufenen Lohnstückkosten nicht durch wirtschaftlich schädliche Lohnsenkungen in Leistungsbilanz-Defizitländern herbeigeführt werden sollte, sondern besser (unter anderem) durch deutliche Lohnerhöhungen in den Leistungsbilanz-Überschussländern wie etwa Deutschland. Denn Lohnsenkungen, wir sehen es in Südeuropa und vor allem in Griechenland, führen eben gerade nicht zu einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, sondern sie verschärfen die Krise und provozieren sinkende Importe.
Gegenargument 3: Deutschland musste durch seine „Lohnzurückhaltung“ übermäßige Lohnsteigerungen wieder wettmachen, die es in den 1990er Jahren gegeben hatte. Außerdem habe es 2005 unter einer hohen Arbeitslosigkeit gelitten, die bekämpft werden musste.
Klingt auf den ersten Blick schlüssig, aber: Dieses Gegenargument widerlegt logisch nicht, weshalb es zu Leistungsbilanz-Überschüssen kommen musste oder durfte bzw. weshalb diese unproblematisch sein sollen. Ein Ausgleich (angeblich) zu hoher Löhne, wenn er wirklich nötig gewesen wäre, könnte und müsste auf ein Ausmaß beschränkt werden, das eine ausgeglichene Leistungsbilanz zur Folge hat. Mit ihrer Grafik Nr. 1 auf S. 2 zeigen Peters/Schneider aber, dass die aktuellen Leistungsbilanz-Überschüsse leichtere Leistungsbilanz-Defizite in den 1990er Jahren weit mehr als wettmachen. Ein Argument für Leistungsbilanz-Überschüsse bzw. für deren Harmlosigkeit ist das also nicht, insbesondere nicht für deren enormes Ausmaß. Genauso wenig wie die Tatsache, dass man 2005 in Deutschland Arbeitslosigkeit reduzieren wollte.
Gegenargument 4: Seit Beginn der Krise seien die Löhne in Deutschland wieder gestiegen.
Klingt auf den ersten Blick schlüssig, aber: Auch wenn dies empirisch zutrifft, genügt der Anstieg ganz offensichtlich noch nicht, um die nach wie vor vorhandenen bzw. anwachsenden Leistungsbilanz-Überschüsse auszugleichen. Zudem genügen die seit 2008 in vier von fünf Jahren zu verzeichnenden Reallohn-Anstiege nicht, um die Beschäftigten auch an der gestiegenen Arbeitsproduktivität in Deutschland zu beteiligen.
Argument 2: Deutschland importiert zu wenig
Dieses Argument, das Peters/Schneider ebenfalls ablehnen, beruht auf der Annahme, dass private Verbraucher/innen, der Staat und/oder Unternehmen in Deutschland zu wenige Ausgaben getätigt hätten und damit die Nachfrage nach ausländischen Waren und Dienstleistungen zu gering gewesen sei. Dies habe dazu geführt, dass Importe gegenüber den Exporten zurückgeblieben seien.
Um dieses inhaltlich richtige Argument zu widerlegen, benennen Peters/Schneider mehrere vermeintliche Gegenargumente.
Gegenargument 1: Deutschland sei nicht nur einer der weltgrößten Exporteure, sondern auch einer der weltgrößten Importeure, und mit wachsenden Exporten wachsen auch die Importe.
Klingt auf den ersten Blick schlüssig, aber: Dies ist für eine Beurteilung des deutschen Export-ÜBERSCHUSSES völlig irrelevant. Es ist in Zeiten wachsender weltwirtschaftlicher Verflechtungen und abnehmender Fertigungstiefen völlig normal, dass höhere Exporte mit höheren Importen einhergehen. Dennoch bleiben die Importe solange hinter dem Notwendigen zurück, solange sie nicht die Höhe der Exporte erreichen.
Gegenargument 2: Der Anstieg des privaten Verbrauchs in Deutschland habe in etwa dem Anstieg der Reallöhne entsprochen, die nur schwach gestiegen seien. Letzteres sei auf hohe Arbeitslosigkeit, geringere öffentliche Ausgaben und die Hartz-Reformen zurückzuführen gewesen. Eine Belebung des privaten Verbrauchs sei ab 2006 eingetreten.
Hiermit haben Peters/Schneider völlig Recht – und genau das von ihnen Geschilderte ist das Problem. Inbesondere diese schwache Lohnentwicklung liegt nämlich den schwachen Importen nach Deutschland zu Grunde. Ein Gegenargument liefern Peters/Schneider an dieser Stelle also, streng genommen, gar nicht. - Der Verweis auf die leichte Belebung des privaten Verbrauchs ab 2006 sollte dabei allerdings nicht auf die falsche Fährte führen: Diese Belebung war völlig unzureichend, wie sich an der weiteren Steigerung des deutschen Leistungsbilanz-Überschusses ablesen lässt. In diesem Zusammenhang sei ergänzend auf eine Grafik von Heiner Flassbeck zur stagnierenden Entwicklung der Einzelhandels-Umsätze in Deutschland verwiesen, die gleichfalls eine völlig unzureichende Binnennachfrage anzeigt.
(Interessant übrigens, dass Peters/Schneider hier den schwachen Konsum und indirekt die schwache Lohnentwicklung auf politische Maßnahmen - "fiskalische Konsolidierung und [den] zunächst negative[n] Effekt der Hartz-Reformen" - zurückführen; sie unterstellen hier also zumindest indirekt einen Zusammenhang, den sie – siehe oben – an anderer Stelle noch bestritten hatten).
In ähnlicher Weise beschreiben Peters/Schneider im Weiteren auch die Entwicklung von Investitionen durch Unternehmen sowie durch den Staat. Dabei verengen sie die Frage öffentlicher Ausgaben einzig auf die öffentlichen Investitionen; die unzureichende Entwicklung sonstiger öffentlicher Ausgaben blenden sie aus. Und selbst bei öffentlichen sowie Unternehmensinvestitionen benennen sie lediglich (einige) Gründe für deren schwache Entwicklung. Argumente dafür, dass diese schwache Entwicklung hinsichtlich der deutschen Leistungsbilanz-Überschüsse unproblematisch sein soll, benennen sie hingegen nicht. Auch hier kann man daher eigentlich von Gegenargumenten nicht sprechen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.