Fünf gute Gründe, zur Europawahl zu gehen
21. Mai 2014 | Patrick Schreiner
Der Europawahlkampf verläuft schleppend, trotz gesteigertem Interesse am EU-US-Freihandelsabkommen, trotz Spitzenkandidaten der Parteien und trotz Verelendung immer weiterer Teile des Kontinents. Europa, so scheint es, zieht einfach nicht. Und doch gibt es (mindestens fünf) gute Gründe, am Sonntag zur Wahl zu gehen.
1. Nur das Europaparlament kann den Marktradikalen in Rat und Kommission von innen heraus etwas entgegensetzen
Auch wenn seine Handlungsmöglichkeiten beschränkter sind als die einzelstaatlicher Parlamente: Das Europaparlament hat immer wieder bewiesen, dass es sich gegen die europäischen Staats- und Regierungschefs und die EU-Kommission durchzusetzen vermag. Einige Beispiele: Es hat ein Aufweichen der Arbeitszeitrichtlinie verhindert und damit in diesem Punkt die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewahrt. Es hat die schlimmsten marktradikalen Auswüchse bei der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie verhindert. Das Europaparlament (und nicht Wolfgang Schäuble!) hat eine Finanztransaktionssteuer auf die europäische Tagesordnung gesetzt. Es hat das ACTA-Abkommen und damit einen massiven Abbau von Bürgerrechten verhindert.
Und während die EU-Kommission und der Europäische Rat zwar Lobbyisten mit offenen Armen empfangen, für fortschrittliche Organisationen aber meist so zugänglich wie ein zugemauertes Haus sind, konnte von fortschrittlicher Seite in vielen Fällen nur durch Druck auf Abgeordnete und das Parlament etwas erreicht werden.
2. Echte Veränderungen wird es nur mit anderen Mehrheiten geben
Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass das Europaparlament auch immer wieder und viel zu oft äußerst fragwürdige Entscheidungen getroffen hat – wie etwa seine Zustimmung zu den Verhandlungen über ein EU-US-Freihandelsabkommen. Auch bei der Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie hat sich das Parlament jüngst nicht mit Ruhm bekleckert, sondern eine wirksame(re) Kontrolle der Arbeitsverhältnisse mobiler Beschäftigter verhindert. Das zeigt aber nur eines: Es braucht, neben politischem Druck zwischen den Wahlen, endlich auch andere Mehrheiten in Brüssel und Strasbourg.
3. Europa braucht nicht weniger, sondern mehr Demokratie
Die Geschichte des Europaparlaments ist eine Geschichte des Kampfs um mehr Einfluss dieses (trotz aller Defizite) einzig demokratischen Organs der Europäischen Union. Dieser Kampf ist noch längst nicht zu Ende. Dies zeigt nicht zuletzt die aktuelle EU-Krisenpolitik, die nicht nur verheerende soziale und ökonomische Wirkungen zeitigt, sondern von den europäischen Regierungen und der EU-Kommission auch weitgehend ohne Parlament und Bevölkerung beschlossen und durchgeführt wurde und wird. Schon aus reinem Eigennutz ist das Europaparlament deshalb (über die politischen Lager hinweg) bisweilen daran interessiert, Regierungen, Rat und Kommission in die Schranken zu weisen. Das ist auch nötig, denn immer schon haben die Neoliberalen sich darauf verstanden, Demokratie zu suspendieren, wenn es ihnen nützt.
4. Gewinne für Rechtspopulisten und extrem Rechte wären ein falsches Signal an die Herrschenden
Wer meint, „gegen Europa“ (also rechtspopulistisch) wählen oder aus Europaskepsis heraus sich der Stimme enthalten zu müssen, der agiert nicht „gegen Europa“, sondern für eine Fortsetzung der herrschenden neoliberalen und marktradikalen Politik. Und damit indirekt für eine Fortsetzung des heutigen marktradikalen, neoliberalen Europa, das wir haben. Dies tut er/sie dann nicht nur, weil er/sie damit andere – fortschrittlichere – Mehrheiten verhindert, sondern auch und vor allem, weil daraus resultierende Prozentgewinne der Rechtspopulisten und extrem Rechten ein fatales Signal an die Herrschenden wären: Nicht sozialer Ausgleich, Solidarität und eine Re-Regulierung von Arbeitsmarkt und Wirtschaft, sondern Rassismus und Ausgrenzung einerseits, Marktradikalismus und Neoliberalismus andererseits als die beiden Pole des Rechtspopulismus stünden dann auf der Tagesordnung auch der Parteien der so genannten politischen Mitte. Denn deren StrategInnen würde sich eine Schlussfolgerung fast schon zwingend aufdrängen: WählerInnen müsse man, würde es dann heißen, dort abholen, wo sie stehen – und sei es rechts außen. Und zwar keineswegs nur alle fünf Jahre bei der Europawahl.
5. Die Europawahl ist eine Abstimmung (auch) über das EU-US-Freihandelsabkommen
Mit der derzeitigen Heftigkeit des Widerstands gegen ein EU-US-Freihandelsabkommen (TTIP) haben die beiden großen Parteien und die kleine FDP vermutlich nicht gerechnet. Nur Linke und Grüne lehnen das Abkommen konsequent ab, und das tun beide mit guten Gründen. CDU/CSU und FDP befürworten es nachdrücklich, die SPD steckt wie so oft in einer „Meckern, aber Mitmachen“-Position. Die Terminierung der Europawahl bietet die Chance, eben diese Wahl zu einem Referendum über TTIP zu machen. Wer sich in diesem Sinne das bisherige Abstimmungsverhalten von Parteien und Abgeordneten ansehen möchte, der kann dies hier tun:
- Abstimmung zum TTIP-Verhandlungsmandat, dem Auftrag an die EU-Kommission, überhaupt Verhandlungen aufzunehmen (Fraktionen, Abgeordnete)
- Abstimmung zum Antrag auf Veröffentlichung dieses TTIP-Verhandlungsmandats (Fraktionen, Abgeordnete)
- Abstimmung zum Antrag auf mehr Transparenz bei den TTIP-Verhandlungen (Fraktionen, Abgeordnete)
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.