Freihandelsabkommen: Höchste Standards sichern – Billig-Strategien verhindern
1. Oktober 2015 | Patrick Schreiner
Diskussionen um Freihandelsabkommen – in erster Linie TTIP, CETA und TISA – erhitzen derzeit die Gemüter. Schon in der Vergangenheit waren solche Abkommen immer wieder Anlass für zivilgesellschaftlichen Protest. Nicht zuletzt für die globalisierungskritische Bewegung waren und sind Freihandels-Verhandlungen zentrale politische Bezugspunkte. Das hat durchaus seinen Grund: Zwar erwecken Politik und Medien häufig und gerne den Eindruck, Globalisierung sei gewissermaßen vom Himmel gefallen. Oder aber sie sei auf quasi automatische technologische Entwicklungen zurückzuführen, gegen die Politik nicht ankomme. Tatsächlich aber ist die globale Freihandelspolitik eine der wesentlichsten Grundlagen für "Globalisierung": Es waren politische Entscheidungen und Abkommen, die zu einem immer freieren Kapital-, Zahlungs-, Waren- und Dienstleistungsverkehr, zu Privatisierungen und Liberalisierungen führten.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es durchaus, dass Befürworter/innen der derzeit diskutierten Abkommen auf zunehmende Kritik lediglich mit dem Hinweis reagieren, soziale und ökologische Standards würden durch solche Verträge nicht gesenkt. Die Vergangenheit lehrt das Gegenteil. Seit den 1970er Jahren werden unter Verweis auf die angeblich unausweichliche Globalisierung soziale Sicherungssysteme abgebaut, immer weitere Bereiche der Daseinsvorsorge privatisiert, die Rechte und Löhne der Beschäftigten unter Druck gesetzt sowie Niedriglohnsektoren geschaffen. Die Augen vor dem indirekten Zusammenhang zwischen Freihandelsabkommen und diesem Abbau von Standards zu verschließen, ist unredlich und unverantwortlich.
Der US-Wirtschaftswissenschaftler Dean Baker setzte sich jüngst in einem Beitrag für den britischen Guardian mit der Frage auseinander, weshalb die soziale Ungleichheit in den USA in den letzten Jahrzehnten geradezu explodiert ist. Als zwei der wichtigsten Gründe hierfür nannte er zum einen die durch Freihandelsabkommen geschaffene Konkurrenz zwischen den Beschäftigten verschiedener Länder, zum anderen die systematische Schwächung der US-Gewerkschaften. Wenn Baker Recht hat, sind gerade Gewerkschaften und ihnen nahestehende Organisationen in Sachen Freihandel zu kritischer Aufmerksamkeit aufgerufen. Übrigens, Ironie der Geschichte: Baker arbeitet beim Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR). Ein Londoner Institut fast gleichen Namens (Center for Economic Policy Research, CEPR) verfasste für die EU-Kommission eine jener Auftragsstudien, die einen (allerdings mikroskopisch kleinen) wirtschaftlichen Nutzen durch das EU-US-Freihandelsabkommen TTIP behaupten.
Nicht nur Baker, sondern auch die deutschen Gewerkschaften haben wiederholt auf das Problem der durch Freihandelsabkommen geschaffenen Konkurrenz zwischen verschiedenen Wirtschaftsstandorten und insbesondere deren Beschäftigten hingewiesen. So etwa im Frühjahr 2014 der Vorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel, gegenüber der Frankfurter Rundschau im Interview:
Der Druck würde sich mittelbar aufbauen. Denn Liberalisierung bringt immer eine Verschärfung des Wettbewerbs mit sich. Die Konkurrenz wird härter, in diesem Fall die Konkurrenz Europas mit den USA, wo die Arbeitnehmerrechte deutlich schwächer sind und die Gewerkschaften von der Politik teilweise massiv bekämpft werden.
Und in einem Positionspapier des verdi-Landesbezirks Niedersachsen-Bremen heißt es:
Das TTIP-Abkommen wird die Konkurrenz zwischen europäischen und US-amerikanischen Unternehmen verschärfen. Damit droht aber der Druck auf die in Europa höheren Lohnkosten (einschließlich so genannter Lohnnebenkosten) zuzunehmen.
Ziel einer Ausweitung des internationalen Handels ist es, den Wohlstand zu erhöhen. Nun gibt es verschiedenste Theorien über die Mechanismen, durch die Freihandel überhaupt zusätzlichen Wohlstand schaffen kann. Eine durchaus schlüssige These ist, dass die Verschärfung der Konkurrenz den Druck auf die Unternehmen erhöht, innovativer und produktiver zu sein als die Wettbewerber. Auf volkswirtschaftlicher Ebene hat dies den Effekt, dass Waren und Dienstleistungen in größerer Anzahl und besserer Qualität hergestellt werden.
Nun muss sich Konkurrenz allerdings keineswegs zwingend in höherer Innovationskraft und höherer Produktivität niederschlagen. Es gibt noch einen zweiten Weg, um in ihr zu bestehen: Auch die Senkung von Löhnen und Steuern, die Reduktion so genannter "Lohnnebenkosten" und die "Flexibilisierung" der Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeiten verschaffen einem Unternehmen Vorteile gegenüber der inländischen und ausländischen Konkurrenz. Das ist der Weg, den Deutschland seinen Unternehmen etwa mit Leiharbeit, Steuersenkungen, mit der Schwächung der Verhandlungsposition abhängig Beschäftigter und mit der Schaffung eines der größten Niedriglohnsektoren Europas eröffnet hat. Es ist der Weg, den die Niederlande mit ihrem "Poldermodell" gegangen sind. Es ist der Weg, den die USA nach Abschluss des Freihandelsabkommens NAFTA verstärkt eingeschlagen haben. Es ist der Weg, der derzeit mit den so genannten "Strukturreformen" den südeuropäischen Krisenländern aufgezwungen wird. Es ist der Weg, den sich nun Frankreich anschickt zu gehen. Und so weiter, und so fort. Das sind Billig-Strategien, die nicht in Innovation und Produktivität münden, sondern in immer größere soziale Ungleichheit, in Verelendung, wirtschaftliche Stagnation und Krise.
Wie aber bringt und zwingt man Unternehmen dazu, auf Innovation und Produktivität zu setzen? Wie verhindert man, dass Unternehmen oder Staaten stattdessen Billig-Strategien verfolgen? Auf nationalstaatlicher Ebene ist die Lösung so einfach wie einleuchtend: Durch soziale Sicherungssysteme sowie durch Tarifvertragssysteme, die möglichst alle Arbeitgeber und abhängig Beschäftigte erfassen. Sie setzen hohe verbindliche Standards für idealerweise alle. So bleiben nur Innovation und Produktivität, um gegen andere Unternehmen zu bestehen. Übrigens ist dies ist nicht zuletzt eine Lehre aus dem 19. Jahrhundert: Damals konnten Armut und Verelendung in den sich industrialisierenden Gesellschaften erst beendet werden, als sich die eben genannten Systeme kollektiver Absicherung etablierten. Auch die Arbeitgeber hatten hieran Interesse – verhinderten sie auf diese Weise doch Schmutzkonkurrenz.
Wenn es nun allerdings um Freihandelsabkommen geht, scheinen diese – eigentlich wohlbekannten – Zusammenhänge vergessen. Man werde, heißt es, Standards durch diese Abkommen nicht senken. Wie man allerdings verhindern will, dass Staaten und Unternehmen in der verschärften Konkurrenz Billig-Strategien fahren, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, sagt niemand. Allenfalls auf "Mindeststandards" wird verwiesen. Die aber helfen nicht im Geringsten – sie schützen weitaus höhere Standards nicht. Sie verhindern nicht, dass Unternehmen und Beschäftigte aus Ländern mit höheren (und damit teureren) Standards ins Hintertreffen geraten.
Die Gewerkschaften haben gute Vorschläge gemacht, um dieses Problem zu lösen. Im Kern muss es darum gehen, das, was auf nationalstaatlicher Ebene einst erreicht wurde, nun auch auf internationaler Ebene umzusetzen. Es muss darum gehen, in Handelsabkommen die höchsten Standards für alle beteiligten Länder (und damit für deren Unternehmen) als verbindlich festzuschreiben. So heißt es im Beschluss des DGB-Bundeskongresses zu TTIP:
Ziel muss […] sein, eine Annäherung von Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherstandards auf dem jeweils höchsten Niveau zu erreichen, um einen Dumpingwettbewerb auszuschließen.
Dieser Forderung schloss sich in einer Pressemeldung unter anderem der verdi-Vorsitzende Frank Bsirske an: Erforderlich sei die Anpassung von Sozial- und Umweltstandards auf dem höchsten Niveau.
Dies umgesetzt, wäre eine erste wichtige Voraussetzung dafür erfüllt, dass Handelsabkommen wirklich Bedingungen für einen fairen und wohlstandsmehrenden Handel schaffen, von dem alle etwas haben. Allerdings: Freihandelsabkommen enthalten üblicherweise – über Konkurrenz hinaus – auch direkte Mechanismen und Regelungen, die geeignet sind, Standards unter Druck zu setzen. Allein die höchsten Standards festzuschreiben, genügt deshalb nicht. Notwendig ist vielmehr auch, (mindestens) auf Folgendes zu verzichten:
- Auf eine gegenseitige Anerkennung von Standards mit nichtgleichwertigen Funktionen oder Wirkungen.
- Auf Liberalisierungen und Privatisierungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge.
- Auf Sonderklagerechte für Investoren. Durch sie können private Investoren vor intransparenten Schiedsgerichten gegen Gesetze vorgehen. Regierungen würden aufgrund ihrer Gesetzgebung mit hohen Prozesskosten und Schadensersatzforderungen konfrontiert. Ähnliche Klagerechte werden derzeit bereits genutzt, um Entschädigungen in Milliardenhöhe wegen des in Deutschland erfolgten Atomausstiegs durchzusetzen. Es ist nicht hinzunehmen, wenn der Schutz von Arbeitnehmer/innen-Rechten oder der Umwelt oder andere staatliche Maßnahmen im Sinne der Bevölkerung den Interessen ausländischer Investoren untergeordnet werden.
- Auf Negativlisten. Bei diesem Ansatz müssen alle Bereiche liberalisiert werden, die nicht explizit aufgelistet sind – was der Liberalisierung und dem Abbau von Standards Tür und Tor öffnet. Stattdessen ist eine Positivliste zu erstellen, die die zu öffnenden Bereiche definiert. Sie muss zusammen mit den betroffenen Kreisen, einschließlich der Gewerkschaften, detailliert und sektorbezogen diskutiert und erstellt werden.
- Auf Ratchet-Klauseln und Standstill-Klauseln. Solche Vertragsklauseln schreiben das aktuelle sowie jedes zukünftige weitreichendere Liberalisierungs-Niveau fest und verhindern jede Re-Regulierung. Sie befördern hierdurch also eine einseitige Entwicklung in Richtung einer immer weiter reichenden Liberalisierung.
- Auf „Regulierungsräte“. Es gibt Hinweise auf Pläne, durch TTIP eine solche Institution zu schaffen, die nach Inkrafttreten des Abkommens neue Regeln und Gesetze kontrolliert und beurteilt. Das könnte dem Einfluss von Lobbyisten Tür und Tor öffnen und die Fähigkeit von Parlamenten und Regierungen beschränken, sinnvolle Gesetze und Regeln im Sinne der Bevölkerung zu erlassen.
Nur wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt werden, wird es gelingen, Handelspolitik grundsätzlich neu auszurichten und globale Standards für eine gerechte Gestaltung der Globalisierung zu setzen.
Dieser Text erschien zuerst als Flugblatt “Vision Europa” der Friedrich-Ebert-Stiftung Niedersachsen. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.