Volker Telljohann: "Für die Gewerkschaften reduzieren sich die Verhandlungsspielräume"
20. November 2014 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Volker Telljohann über das Verhältnis von Arbeitgebern und Gewerkschaften in Italien. Volker Telljohann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IRES Emilia-Romagna in Bologna. IRES ist ein wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut der größten italienischen Gewerkschaft CGIL.
Sie sind in Deutschland aufgewachsen, haben hier gearbeitet und studiert, und leben nun schon seit vielen Jahren in Italien. Dort arbeiten Sie für ein gewerkschaftsnahes Forschungsinstitut in Bologna. Sie kennen daher die Situation der Gewerkschaften in Italien wie auch in Deutschland gut. Was sind die wesentlichen Unterschiede in den industriellen Beziehungen zwischen Italien und Deutschland? Worin unterscheiden sich die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern hier und dort?
Volker Telljohann: Der auffälligste Unterschied ist sicherlich, dass wir in Italien keine Einheitsgewerkschaften wie in Deutschland haben, sondern politische Richtungsgewerkschaften. Das sind in erster Linie die drei großen Dachverbände: die CGIL, die CISL und die UIL. Das hat natürlich auch, vor allem in den vergangen Jahren, auf die industriellen Beziehungen ziemlich starke Auswirkungen gehabt, insbesondere infolge der mangelnden Gewerkschaftseinheit, die mit den Spannungen zwischen den italienischen Richtungsgewerkschaften einhergeht. Das war unter anderem ein Grund dafür, dass die Gewerkschaftsbewegung in Italien im Zuge der Krise und der politischen Anti-Krisen-Maßnahmen geschwächt worden ist. Ein weiteres typisches Charakteristikum des italienischen Systems besteht darin, dass es – im Unterschied zu Deutschland – kaum eine Verrechtlichung gibt. Die industriellen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften sind nur geringfügig institutionalisiert.
So gibt es keine verbrieften oder gesetzlich geregelten Mitbestimmungsrechte, wie wir sie in Deutschland kennen. Es gibt weder ein Betriebsverfassungsgesetz noch ein Gesetz zur Unternehmensmitbestimmung. Damit gehört Italien zu einem der wenigen Länder in der Europäischen Union, in denen es keinerlei Formen der
Unternehmensmitbestimmung gibt. Das hat zur Folge, dass die industriellen Beziehungen in Italien fast ausschließlich im Rahmen von Tarifvertragsbeziehungen geregelt werden. Ein weiteres Charakteristikum des italienischen Systems hängt hiermit zusammen: Es gibt in Italien so etwas wie tripartistische Beziehungen auf der Spitzenebene. Damit ist das gemeint, was man in Deutschland vielleicht als konzertierte Aktion bezeichnen würde, also Beziehungen zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern. Diese tripartistischen Beziehungen auf nationaler Ebene waren in den letzten 20 bis 30 Jahren von großer Bedeutung, weil dort beispielsweise mit dem Sozialpakt von 1993 die industriellen Beziehungen als solche grundlegend definiert worden sind. Das Tarifvertragssystem, die betriebliche Interessenvertretung, all das wurde im Rahmen dieses Abkommens geregelt. Unter der aktuellen Regierung Renzi spielen tripartistische Vereinbarungen allerdings keine Rolle mehr. Sein Ziel ist es, den Einfluss der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zurückzudrängen. Das bedeutet vor allem für die Gewerkschaften eine Schwächung.
Sie haben das Stichwort betriebliche Interessenvertretung genannt. Wie funktioniert betriebliche Interessenvertretung, wenn es keine Mitbestimmung gibt?
Volker Telljohann: Es gibt betriebliche Interessenvertretung in Italien, aber die funktioniert anders als in Deutschland. In Italien haben wir ein so  genanntes "monistisches" System der Interessenvertretung, also kein duales System, wie wir es in Deutschland kennen, mit gegenüber den Gewerkschaften formell autonomen Betriebsräten. In Italien sind die betrieblichen Interessenvertretungsstrukturen gleichzeitig auch gewerkschaftliche Organisationsstrukturen auf betrieblicher Ebene. Sie heißen "RSU", "Rappresentanze Sindacali Unitarie", sie setzen sich aus Vertreterinnen und Vertretern der im jeweiligen Betrieb maßgeblichen Gewerkschaften zusammen. In dieser Funktion als gewerkschaftliche betriebliche Organisationsstrukturen haben sie auch die Aufgabe, betriebliche Tarifverträge auszuhandeln und zu unterzeichnen. Das machen sie gemeinsam mit den externen Gewerkschaftsstrukturen. Und auch hier haben wir es mit einem wesentlichen Unterschied zum deutschen System zu tun: In Italien gibt es ein zweigliedriges Tarifvertragssystem. Es gibt einen nationalen Branchentarifvertrag und die entsprechenden Verhandlungen auf nationaler Ebene. Und dann gibt es die
dezentralen Tarifverhandlungen, die in der Regel auf betrieblicher Ebene geführt werden. Hier verhandeln auf Gewerkschaftsseite diese RSU.
Kann man sich das so vorstellen, dass auf nationaler Ebene die Tarifverträge Rahmen setzen, die dann in den Betrieben ausgestaltet werden?
Volker Telljohann: Ja genau, das kann man im Wesentlichen so sagen. Und die Gewerkschaften, hier vor allen Dingen die Einzelgewerkschaften, die in der CGIL organisiert sind, heben natürlich immer das Primat des nationalen Tarifvertrages hervor. Betriebliche Tarifverhandlungen finden nämlich gar nicht überall statt. Da haben wir eine verhältnismäßig geringe Deckungsrate, betriebliche Tarifverhandlungen gibt es vor allen Dingen in Norditalien, in der Industrie und in den Mittel- und Großbetrieben. Das heißt, dass die Beschäftigten in allen anderen Bereichen von betrieblichen Tarifverhandlungen weitgehend ausgeschlossen bleiben. Das macht den nationalen Branchentarifvertrag so wichtig. Deshalb ist aber genau dieser nationale Branchentarifvertrag viel massiver den Angriffen seitens der Arbeitgeberverbände und auch der Regierungen ausgesetzt. Und diese Angriffe liegen natürlich voll auf der Linie auch der Vorgaben, die seit einigen Jahren die Europäische Kommission macht.
Darf der betriebliche Tarifvertrag zu Ungunsten der Arbeitnehmer vom nationalen Tarifvertrag abweichen?
Volker Telljohann: Ja, mittlerweile ist auch das möglich.
War das eine Veränderung, die durch die Krise erst eingetreten ist, oder gab es das vorher schon?
Volker Telljohann: Das gibt es in Italien erst seit 2011. Das war seinerzeit Ergebnis eines solchen tripartistischen Abkommens auf nationaler Ebene, das von allen drei großen Gewerkschaftsdachverbänden unterzeichnet worden ist. Das hat dann erstmals die Möglichkeit eröffnet, auf betrieblicher Ebene – sofern die nationalen Branchentarifverträge das vorsehen – abweichende Lösungen von nationalen Tarifstandards zu verhandeln, die eben auch unterhalb der nationalen Standards liegen können. Das ist das eine, doch darüber hinaus gibt es noch etwas viel Schwerwiegenderes: Als eine der letzten Amtshandlungen hatte die frühere Berlusconi-Regierung ein Gesetz beschlossen, das es sogar erlaubt, auf betrieblicher Ebene abweichende Regelungen von gesetzlichen Standards zu treffen, also zum Beispiel von gesetzlichen Arbeitszeitregelungen. Selbst gesetzliche Standards können jetzt durch betriebliche Tarifvereinbarungen unterlaufen werden.
Die Politik, die auf europäischer Ebene betrieben wird, hat also für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Italien unmittelbar
negative Auswirkungen?
Volker Telljohann: Ja, auf jeden Fall. Italien gehört zu den Ländern, die mit besonderer Akribie von der Europäischen Kommission beobachtet werden. Und das führt natürlich dazu, dass die europäische Kürzungs- und Austeritätspolitik in Italien sehr große Verwerfungen anrichtet. Für die Gewerkschaften reduzieren sich damit auch die Verhandlungsspielräume. So sind zum Beispiel im öffentlichen Dienst die Tarifverhandlungen blockiert, weil eben aufgrund der angeblich notwendigen Sparmaßnahmen schon vor Jahren seitens der Regierung entschieden wurde, dass es im  öffentlichen Dienst keine Gehaltserhöhungen mehr gibt. Damit ist die Funktion der Gewerkschaften untergraben.
Dieser Artikel erschien zuerst in WISO-Info 3 (2014).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.