Warum nicht die gute Lage am Arbeitsmarkt den Anstieg der Einkommens-Ungleichheit gestoppt hat
25. März 2015 | Patrick Schreiner
Schon seit mehreren Jahrzehnten steigt die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung in quasi allen Industriestaaten an. Auch Deutschland ist hiervon nicht ausgenommen. Hierzulande ist bei der Einkommens-Ungleichverteilung eine starke Zunahme insbesondere seit Beginn der 1990er Jahre zu beobachten. Seit etwa dem Jahr 2005 allerdings scheint diese Entwicklung gestoppt, die Einkommens-Ungleichheit (vor wie auch nach der Umverteilung durch Steuern, Sozialabgaben und Sozialleistungen) scheint auf hohem Niveau zu verharren. Manche Daten weisen sogar auf einen leichten zeitweisen Rückgang hin.
Diese Entwicklung ist ein gefundenes Fressen für Arbeitgeberverbände, interessierte Medien, Liberale und Konservative. Ihre Interpretation ist eine echte Quartalslüge: Sie behaupten, dass die positive Lage am Arbeitsmarkt der Grund für die positive Entwicklung bei der Einkommens-Ungleichheit sei.
Ein Beispiel hierfür war am 25. Oktober 2012 auf der Homepage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen:
Die Einkommen armer und reicher Leute nähern sich in Deutschland wieder an. Und zwar schon seit 2005. Das liegt vor allem daran, dass die Arbeitslosigkeit sinkt.
Mit ähnlichem Tenor berichteten in jenen Tagen auch zahlreiche andere Medien. Anlass war eine entsprechende Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), geschrieben von den Forschern Markus Grabka, Jan Goebel und Jürgen Schupp. Sie wiesen anhand verschiedener Kennziffern und für die Jahre bis 2010 nach, dass seit etwa 2005 die Einkommens-Ungleichheit in Deutschland in der Tat nicht weiter angestiegen, teilweise sogar rückläufig war:
Von 2005 an hat im Zug der konjunkturellen Besserung und der damit einhergehenden Aufhellung der Lage auf dem Arbeitsmarkt die Einkommensungleichheit in Deutschland abgenommen.
Die Interpretation, dass der gestoppte Anstieg der Einkommens-Ungleichverteilung in erster Linie auf die Lage am Arbeitsmarkt zurückzuführen sei, wurde von interessierter Seite immer wieder aufgegriffen – und wird es bis heute. So hieß es am 11. Mai 2014 auf der Homepage des Manager Magazins:
Seit 2006, dem Beginn der wirtschaftlichen Erholung, ist die gemessene Ungleichheit [der Einkommen, P.S.] sogar wieder leicht rückläufig, insbesondere weil immer weniger Menschen arbeitslos sind und folglich mehr Leute über ein Arbeitseinkommen verfügen.
Der Artikel sucht mit diesen Worten die kritischen Argumente des französischen Ökonomen Thomas Piketty zu entkräften.
Auch die frühere schwarz-gelbe Bundesregierung hat in ihrem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht vom März 2013 die DIW-Studie genutzt, um zu beschwichtigen. Sie schrieb dort:
Das DIW hat in einer Analyse vom Oktober 2012 mit den neuesten SOEP-Daten schlüssig dargelegt, wie die günstige Beschäftigungs- und Einkommensentwicklung neben der Einkommensungleichheit auch die Armutsrisikoquote erkennbar verringerte.
Wenig überraschend, spielte dieses Argument dann auch im nachfolgenden Bundestagswahlkampf eine nicht unwichtige Rolle.
Die Interpretation, dass die gute Lage am Arbeitsmarkt für einen Rückgang der Einkommens-Ungleichheit verantwortlich sei, ist auf diese Weise zum zentralen Argument gegen Forderungen nach (mehr) Umverteilung geworden. Darüber hinaus dient sie zumindest zwischen den Zeilen sogar dazu, die zurückliegenden "Arbeitsmarktreformen" zu rechtfertigen, Stichwort Hartz und Agenda 2010. Denn in der Tat wäre den neoliberalen Reformer(inne)n ja geradezu ein Wunder gelungen, wenn diese Interpretation zutreffend wäre: Man hätte dann Reallöhne und Sozialleistungen gesenkt und einen der größten Niedriglohnsektoren Europas geschaffen – und genau damit den Anstieg der Einkommens-Ungleichheit gestoppt oder gar umgekehrt. Das klingt paradox und ist es auch. Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden.
Schon der Umstand, dass der enorme Anstieg der Beschäftigung in Deutschland nur zu einem äußerst verhaltenen Rückgang der Einkommens-Ungleichheit führte, sollte stutzig machen. So wies der DIW-Forscher Stefan Bach 2013 in einem Beitrag für die Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" darauf hin, dass bei einem Anstieg der Beschäftigung in Deutschland seit 2005 um 2,5 Millionen Menschen und einem Rückgang der Arbeitslosigkeit um zwei Millionen die Ungleichheit der Einkommen eigentlich deutlicher hätte zurückgehen müssen. Als Gründe dafür, dass sie es nicht tat, verwies Bach auf die zunehmende Teilzeitarbeit sowie die Ausweitung des Niedriglohnsektors.
Noch einen Schritt weiter geht ein Report des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung vom Oktober 2014. Die Autor(inne)n Gustav Horn, Sebastian Gechert, Miriam Rehm und Kai Schmid zerlegen darin die privaten Einkommen in drei Gruppen: in (1.) Einkommen aus Kapitalvermögen, (2.) Einkommen aus Vollzeiterwerb sowie (3.) Einkommen aus Teilzeit- bzw. Minijob-Tätigkeit. Auf diese Weise ist es ihnen möglich, den Beitrag jeder einzelnen dieser Einkommensarten zur Entwicklung der Einkommens-Ungleichheit zu bestimmen.
Tatsächlich können sie zeigen, dass keineswegs die gute Lage am Arbeitsmarkt für den Rückgang der Einkommens-Ungleichheit verantwortlich ist. Einkommen aus Vollzeiterwerb tragen vielmehr schon seit 2005, insbesondere aber seit dem Ausbruch der Krise 2008 stark zur Einkommens-Ungleichheit bei. Für die zunehmende Teilzeit- und Minijob-Beschäftigung gilt dies schon seit dem Jahr 2000 – mit steigender Tendenz. Lediglich in den konjunkturell guten Jahren 2006 und 2007 kam dieser Effekt vorübergehend zum Stillstand. Dies ist die Ursache dafür, dass in jenen beiden Jahren die Einkommens-Ungleichheit über alle drei Einkommensarten hinweg stagnierte.
Doch der Grund dafür, dass die Einkommens-Ungleichheit nach 2007 nicht weiter anstieg, liegt woanders:
Noch bedeutsamer für die Entwicklung der Verteilung in den 2000er Jahren waren allerdings die Kapitaleinkommen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass diese konjunkturell bedingt besonders stark schwanken und beide Rezessionen in Deutschland in diesem Zeitraum mit einem Auflösen von Vermögenspreisblasen einhergingen. Im vergangenen Jahrzehnt stiegen die Kapitaleinkommen und mit ihnen ihr Beitrag zur Ungleichheit in Folge des weltwirtschaftlichen Aufschwungs bis 2007 stark an. Die gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen ab 2008 und die damit verbundenen sinkenden Kapitaleinkommen wirkten jedoch ungleichheitsreduzierend.
Die Einkommens-Ungleichheit ist in Deutschland seit 2005 also nicht wegen der Lage am Arbeitsmarkt zurückgegangen, sondern trotz der schlechten Lohnentwicklung und trotz eines explodierenden Niedriglohnsektors. Grund dafür ist, dass die Krise zu einem Einbruch bei den Kapitaleinkommen geführt hat, der die schlechte Entwicklung der Löhne mehr als wettgemacht hat. Das bedeutet aber umgekehrt, dass mit Erholung der Kapitaleinkommen auch die Einkommens-Ungleichheit wieder zunehmen wird. Und genau dies scheint sich in jüngeren Zahlen anzudeuten. So schreiben die DIW-Forscher Markus Grabka und Jan Goebel in einer Studie vom November 2013:
Die wieder leicht erhöhte Ungleichheit der Markteinkommen im Jahr 2011 kann – neben einer steigenden Ungleichheit der Erwerbseinkommen – auch auf die wieder zunehmende Ungleichheit der Kapitaleinkommen zurückgeführt werden. Die Gewinnentnahmen und Dividenden haben erheblich zugenommen, und die Aktienmärkte haben sich seit 2009 deutlich erholt.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.