Die "Schuldenbremse" umsetzen, ohne die "Schuldenbremse" umzusetzen
24. April 2015 | Patrick Schreiner
Fratzscher-Kommission, Juncker-Plan, Schäuble-Plan: Die Vorschläge von konservativen und sozialdemokratischen Politikern, um endlich wieder Investitionen zu schaffen, nehmen zu. Dabei werden die Konstrukte, mit denen "Schuldenbremse" und "Fiskalpakt" faktisch umgangen und zugleich formell umgesetzt werden sollen, immer verwegener, riskanter und teurer. Man würde sich wünschen, die handelnden Personen hätten stattdessen den Mumm, endlich die eigenen Fehler der Vergangenheit einzugestehen.
2009 haben SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP gemeinsam die "Schuldenbremse" eingeführt: Ab 2016 soll die Neuverschuldung des Bundes nur noch maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Die Länder sollen sich ab 2020 gar nicht mehr neu verschulden. 2011 hat man vergleichbare Regelungen auf europäischer Ebene beschlossen, den so genannten "Europäischen Fiskalpakt". Gewerkschaften und Linke haben wiederholt darauf hingewiesen, dass diese Regelungen zu einem Investitionsstau und zur Vernachlässigung öffentlicher Ausgaben führen werden. Genau das ist auch eingetreten - europaweit wie auch bei Bund, Ländern und Gemeinden. Die öffentlichen Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung sind in Deutschland und Europa völlig unzureichend - wie auch die privaten Investitionen der Unternehmen.
Dieses Problem scheinen nun – Jahre später – endlich auch Konservative, Sozialdemokratie und ihnen nahestehende Teile der Wissenschaft erkannt zu haben. Allerdings sind sie weder bereit, ihre vergangenen Fehler einzugestehen, noch, diese zu beheben. Anstatt die "Schuldenbremse" abzuschaffen und staatliche Verschuldung für Zukunftsaufgaben zuzulassen, schlagen sie teure und riskante Umgehungs-Konstruktionen vor. So wird die "Schuldenbremse" formell aufrechterhalten, faktisch aber unterlaufen.
(1) Die von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) eingesetzte Fratzscher-Kommission schlägt zur Finanzierung von Investitionen in die Infrastruktur vor:
- Eine öffentliche Infrastrukturfinanzierungsgesellschaft des Bundes und der Länder einzurichten. Institutionelle Anleger (Versicherungen, Pensionskassen, Investmentfonds, Banken…) könnten in diese Gesellschaft investieren. Die öffentliche Hand käme dies aufgrund der derzeit niedrigen Zinsen teurer als eine Kapitalaufnahme am Kapitalmarkt, die aber "dank" der "Schuldenbremse" nicht mehr möglich ist. - Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat sich diesem Vorschlag der Fratzscher-Kommission angeschlossen.
- Für kommunale Investitionen einen „Bürgerfonds“ als Kapitalsammeltopf für die Eigen- und Fremdfinanzierung von Infrastruktur einzurichten.
- Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP/PPP), die für die öffentlichen Haushalte schon in der Vergangenheit teuer und oft unkontrollierbar geworden sind, auszuweiten.
Alle diese Vorschläge beruhen darauf bzw. setzen voraus, dass die öffentliche Hand einen Teil des Risikos der Kapitalanleger übernimmt.
Die gewerkschaftlichen Mitglieder der Kommission haben als einzige an mehreren Punkten Minderheitsvoten eingelegt. So haben sie etwa darauf verwiesen, dass die Steuereinnahmen der öffentlichen Haushalte erhöht werden müssten, um Handlungsspielräume für Investitionen und Zukunftsaufgaben zu eröffnen. Auch ÖPPs stießen bei den Gewerkschaften auf Kritik.
(2) EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker (EVP) will die private Investitionsbereitschaft in Europa mit einem "Europäischen Fonds für strategische Investitionen" anheizen. In drei Jahren sollen Investitionen in Höhe von 315 Milliarden Euro erfolgen. Dieses Geld soll – ähnlich wie bei Fratzscher – von institutionellen Anlegern kommen. Die europäischen Institutionen sichern die Risiken der Kapitalgeber mit öffentlichen Mitteln im Umfang von 21 Milliarden Euro ab – und hoffen, dass eben dies zu den genannten umfangreichen privaten Mittelzuflüssen führt.
Beide – Fratzscher-Kommissions-Vorschläge und Juncker-Plan – sollen faktisch dazu dienen, die "Schuldenbremse" (bzw. deren europäisches Pendant "Fiskalpakt") zu umgehen. Sie verpflichten beide den Staat zu zukünftigen Zahlungen, die weder Zins noch Tilgung sind und auch nicht als Schuldzahlungen gewertet werden, an private Kapitaleigner. Sie sehen beide die Schaffung von Schattenhaushalten vor. Auch deshalb sind sie beide als Eingeständnis zu werten, dass "Schuldenbremse" und "Fiskalpakt" ein Fehler waren.
Dabei zielen sowohl die Fratzscher-Kommissions-Vorschläge als auch der Juncker-Plan explizit darauf, institutionellen Anbietern neue und für sie bessere Anlagemöglichkeiten zu verschaffen. Bei Fratzscher saßen Finanzmanager gleich mehrfach in der Kommission. Skurril ist das, weil "Schuldenbremse" und "Fiskalpakt" einst unter anderem mit dem "Crowding-Out"-Argument gerechtfertigt wurden: Der Staat solle, wurde gesagt, keine Schulden mehr machen, damit er den privaten Investoren am Kapitalmarkt nicht das Kapital wegnimmt. Kapital, das jetzt - dank "Schuldenbremse" und "Fiskalpakt" - verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten sucht.
Nun spricht nichts grundsätzlich gegen Schattenhaushalte, und ökonomisch ist es angesichts der stagnierenden Wirtschaft in Europa ohne Zweifel richtig, die "Schuldenbremse" bzw. den "Fiskalpakt" zu umgehen. Und selbstverständlich sollen institutionelle Anleger Ihr Geld auch sinnvoll investieren können. Die oben skizzierten Vorschläge aber sind teuer und riskant: Sie schaffen für institutionelle Anleger die Möglichkeit, Kapital zu überhöhten Renditen anzulegen. Die öffenlichen Haushalte werden diese Gelder höher verzinsen müssen, als sie es bei "regulärer" Schuldenaufnahme müssten. Und wie jedes öffentlich-private Mischprojekt – denn nichts anderes sehen die beiden oben skizzierten Vorschläge vor – bleiben Risiken am Ende beim Staat hängen. Gewinne werden wieder einmal privatisiert, Verluste sozialisiert.
Da würde man sich schon wünschen, die handelnden Personen hätten den Mumm, ihre vergangenen Fehler offen einzugestehen und nun endlich das einzig richtige und vernünftige zu tun: Weg mit "Schuldenbremse" und Fiskalpakt, her mit höheren Steuereinnahmen. Oder aber zumindest zu beschließen, Ausgaben für Zukunftsinvestitionen nicht mehr auf Schuldenstandsquoten anzurechnen. Beides wird aber wohl ein frommer Wunsch bleiben.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.