Die OECD rät: Wer die Kuh melken will, sollte sie ein wenig besser füttern
26. Mai 2015 | Markus Krüsemann
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Deutschland immer größer. Weite Teile der Gesellschaft spüren die Folgen einer jahrelangen neoliberalen Politik der Umverteilung nach oben und drohen – wenn sie es nicht schon sind – von wirtschaftlichem Wachstum und wohlfahrtlicher Entwicklung abgehängt zu werden. Die seit der Jahrtausendwende stark wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen hat jetzt erneut die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf den Plan gerufen. In ihrem dritten Sozialbericht zur Ungleichheitsentwicklung kritisiert sie für Deutschland den großen Verdienstabstand atypisch Beschäftigter zu regulär Beschäftigten und moniert zugleich die überdurchschnittlich ausgeprägte Vermögensungleichheit. Sorgt sich ausgerechnet die OECD jetzt um die soziale Lage der Betroffenen? Weit gefehlt. Die Organisation treibt etwas ganz anderes um.
Der letzte Woche veröffentlichte dritte Sozialbericht der OECD dürfte den "Uns geht es gut"-SchönrednerInnen nicht schmecken. Aus ihm geht hervor, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland seit Anfang der 2000er-Jahre stark gestiegen ist. Wie die OECD in einer Pressemitteilung schreibt, verdienten hierzulande die obersten 10 Prozent der Einkommensbezieher mittlerweile 6,6-mal so viel wie die untersten 10 Prozent. In den 1980er Jahren lag dieses Verhältnis noch bei 5:1 und in den 1990er Jahren bei 6:1.
Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung stellt laut OECD die Ausweitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse dar, denn wie in anderen OECD-Ländern würden Menschen in atypischer Beschäftigung in Deutschland deutlich weniger als Normalbeschäftigte verdienen. Gerade diese Einkommenslücke ist in Deutschland sogar größer als in allen anderen OECD-Ländern außer Österreich.
Während die Einkommensungleichheit seit 2007 zumindest nach Zahlen der OECD auf hohem Niveau verharrt, ist die Vermögenskonzentration in den letzten Jahren alarmierend vorangeschritten. Mittlerweile besitzen die reichsten zehn Prozent nahezu 60 Prozent des gesamten Nettohaushaltsvermögens, während die unteren 60 Prozent der Bevölkerung lediglich 6 Prozent des gesamten Nettohaushaltsvermögens halten. Nur in den USA und Österreich ist die Vermögenskonzentration noch höher.
Ausmaß der Ungleichheit in den OECD-Staaten so hoch wie nie
Der jetzt vorgelegte Bericht ist bereits der dritte OECD-Report, der sich mit der voranschreitenden sozialen und ökonomischen Polarisierung in den wohlhabenden Industrienationen auseinandersetzt. Der erste Report zur Entwicklung der Ungleichheit in den OECD-Ländern erschien bereits 2008 unter dem damals noch mit einem Fragezeichen versehenen Titel „Growing Unequal?“. Offensichtlich handelte es sich da bereits um einen stabilen Trend, denn 2011 widmete sich die OECD dem Thema erneut – diesmal schon mit dem Titel „Divided We Stand: Why Inequalitiy Keeps Rising“. Bis zum aktuell dritten Bericht hat sich die Entwicklung nicht zum Besseren gewendet. Im Gegenteil: „Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute“, heißt es in der OECD-Pressemitteilung.
„Wir haben einen Wendepunkt erreicht“, sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurría bei der Vorstellung des Berichts in Paris und meinte wohl, die Mitgliedsstaaten müssten jetzt unbedingt gegensteuern. Steht uns eine Ära der Umverteilung nach unten bevor?
OECD treibt weniger die Sorge um die Menschen als um das Wirtschaftswachstum um
Nun ist die OECD eher für Forderungen nach neoliberal ausgerichteten (Struktur-) Reformen bekannt, als dafür, die Qualität wirtschaftlicher Entwicklungen am Wohlergehen derjenigen festzumachen, die den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten. Und so bleibt sie auch beim Thema Ungleichheit, was sie war und ist: ein Promoter für neoliberale Umbauprojekte hin zu einer umfassend durchökonomisierten Wettbewerbsgesellschaft. Statt sich um die Folgen für den ärmeren und weiter verarmenden Teil der Gesellschaft bzw. um die daraus erwachsende soziale Sprengkraft zu kümmern, sorgt sie sich um die negativen Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum.
Bereits in der Pressemitteilung zum neuen Sozialbericht weist die Organisation unmissverständlich darauf hin, dass eine steigende Ungleichheit „die wirtschaftlichen Aussichten eines Landes“ beeinträchtigt. Volkswirtschaften könnten ihr Potenzial in sehr viel höherem Maße nutzen, wenn sie nicht die unteren 40 Prozent der Gesellschaft abhängten. Einerseits verweist die OECD damit zwar nur auf den längst schon nachgewiesenen negativen Zusammenhang von Polarisierung, Einkommensungleichheit, Unterkonsumption und Wirtschaftswachstum. Anderseits kann man das natürlich auch als deutlichen Hinweis auf noch schlummernde bzw. zu keynesianischen Zeiten schon mal realisierte, auf dem Weg in den Finanzmarktkapitalismus aber wieder verworfene Profitpotenziale verstehen, die für eine (erneute) Erschließung bereit stünden – frei nach dem Motto: Wer die Kuh melken will, muss sie schon ein wenig besser füttern.
Über das Ausmaß der verschwendeten Kapitalisierungsmöglichkeiten, pardon, Wachstumspotenziale, hat Federico Cingano in einem OECD-Arbeitspapier von 2014 (Trends in Income Inequality and Its Impact on Economic Growth) bereits einschlägige Berechnungen angestellt. Demnach ist das inflationsbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland zwischen 1990 und 2010 um etwa 26 Prozent gewachsen. Bei gleichbleibender Einkommensungleichheit allerdings hätte das Wachstum nach Berechnungen des Autors um fast sechs Prozentpunkte höher ausfallen können.
Reformvorschläge folgen der typischen OECD-Logik
Wie lässt sich das in Aussicht gestellte BIP-Wachstum im Jahr 2015 realisieren? Zurück zum Ungleichheitsniveau von 1990? Strukturreformen? In den Vorschlägen für eine Minimierung der Ungleichheit kommt die typische OECD-Ideologie wieder deutlicher zum Ausdruck.
Politische Maßnahmen zur Umverteilung werden nur vereinzelt und sehr abstrakt in Form einer erweiterten Steuerbemessungsgrundlage und einer sanften Korrektur bei der Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung gefordert. Lieber werden für einzelne Politikfelder konkrete und vergleichsweise harmlose Reformvorschläge gemacht, die alle darauf abzielen, die Chancengleichheit für jeden Einzelnen zu erhöhen: mehr Frauen in Vollzeitbeschäftigung bringen, qualitativ hochwertigere Jobs schaffen, Schulbildung verbessern, mehr Bildungsabschlüsse, bessere frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsangebote schaffen usw. In der ökonomistischen Logik der OECD ist halt jeder seines eigenen Glückes Schmied. Der Staat hat nur für gerechte Rahmenbedingungen, für chancengleichen Wettbewerb der Menschen untereinander zu sorgen.
Von Armutsbekämpfung, von höheren Löhnen und von einer neuen Ordnung am Arbeitsmarkt ist keine Rede. Doch das ist nur konsequent: Weil es um Wirtschaftswachstum und Profitmaximierung geht, stehen nicht die am stärksten von der Entwicklung Betroffenen, die Armen, die Arbeitslosen, die unter Arbeitsarmut leidenden prekär beschäftigten Niedriglöhner im Focus. Es geht vor allem um bessere Chancen für die (untere) Mittelschicht, denn: “It is not just poverty or the incomes of the lowest 10% of the population that inhibits growth. Instead, policymakers need to be concerned about how the bottom 40% fare more generally” resümierte ein OECD Focus-Bericht zur Analyse Cinganos. Mit anderen Worten: In der ausgepressten unteren Mittelschicht steckt noch eine das Engagement lohnende, weil profitable Menge an Wachstumspotenzial.
Ob die abgehängte Unterschicht damit als sowieso zu wenig rentabel längst schon abgeschrieben ist? Ein Schuft, wer derart Böses dabei denkt.
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Quellen:
OECD-Pressemitteilung vom 21.05.2014
OECD (2015): In It Together: Why Less Inequality Benefits All, Ländernotiz für Deutschland.
Cingano, F. (2014): Trends in Income Inequality and Its Impact on Economic Growth, OECD SEM Working Papers, No. 163.
OECD (2014): Focus on Inequality and Growth – December 2014.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.