Mindestlohn, Inflation und die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft": Nichts dazugelernt...
3. Juni 2015 | Patrick Schreiner
Führt der Mindestlohn dazu, dass die Preise steigen und dies wiederum die gestiegenen Löhne am unteren Rand des Lohngefüges (fast) vollständig wieder auffrisst? Ja, behauptet die arbeitgebernahe "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" nach wie vor. Und das, obwohl sie es eigentlich besser weiß: Einst musste sie selbst einräumen, dass diese Behauptung falsch bzw. weit übertrieben ist.
Dass die neoliberale "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) gegen Mindestlöhne agitiert, ist weder neu noch überraschend. Interessant ist aber, wie sie dabei agiert. Aus Fehlern scheint sie jedenfalls nicht zu lernen.
Auf einer Webseite, die sich gezielt an LehrerInnen und SchülerInnen richtet, hatte die INSM bis September 2013 unter anderem geschrieben:
Der Mindestlohn geht außerdem zulasten des Unternehmensgewinns oder – bei einer Überwälzung der steigenden Produktionskosten auf die Preise – zulasten der Käufer. Verteuert sich dadurch die Lebenshaltung, bewirkt der Mindestlohn unter Umständen nicht einmal eine spürbare reale (inflationsbereinigte) Einkommenserhöhung.
Unter Umständen führe der Mindestlohn dazu, dass steigende Preise die reale Lohnerhöhung für Mindestlohn-EmpfängerInnen (fast) vollständig wieder auffressen. Im Rahmen eines Artikels zur erwähnten INSM-Webseite habe ich unter anderem die eben zitierte Behauptung kritisiert:
Auch diese Behauptung ist hanebüchen. Erstens ist ein Mindestlohn-induzierter Anstieg der Inflation in einem Ausmaß, das den gesamten Anstieg real wieder auffrisst, rechnerisch schlicht nicht möglich. Denn wenn es solche inflationären Effekte geben sollte, so treffen sie alle Einkommen gleichermaßen, so dass sich die Effekte breiter verteilen und relativ zur großen Gruppe derer, deren Einkommen oberhalb der Mindestlohnschwelle liegen, der Mindestlohn immer noch eine Verbesserung darstellt. Davon abgesehen, ist eine Reallohnsicherung für den Mindestlohn sehr einfach zu bewerkstelligen: Es genügt, jedes Jahr den Mindestlohn um die Inflationsrate des Vorjahres anzuheben. Aber auch darüber schweigt die INSM.
Daraufhin reagierte die zuständige INSM-Mitarbeiterin mit einem Kommentar auf annotazioni.de (zu finden unterhalb des Artikels). Zum Thema Inflation und Mindestlohn räumte sie dort ein:
Auch richtig ist Ihr Einwand, dass ein möglicher Anstieg der Lebenshaltungskosten infolge der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nicht den gesamten Einkommensanstieg zunichte machen kann. Diese Formulierung haben wir daher relativiert.
So weit, so richtig. Tatsächlich wurde die entsprechende Passage daraufhin - im September 2013 - geändert. Sie lautet nun (Stand gestern):
Der Mindestlohn geht außerdem zulasten des Unternehmensgewinns oder – bei einer Überwälzung der steigenden Produktionskosten auf die Preise – zulasten der Käufer. Dadurch kann sich die Lebenshaltung verteuern, was den Einkommensanstieg, der mit einem Mindestlohn erreicht werden soll, zum Teil wieder aufzehren würde.
Im März 2014 aber erschien im "INSM-Blog" ein Mindestlohn-kritischer Artikel, in dem die gleiche falsche Behauptung erneut aufgestellt wird (und zwar sogar noch schärfer ausformuliert als in der ursprünglichen Fassung, die ich oben zuallererst zitiert habe). Leider bin ich erst jetzt auf diesen Text gestoßen, in dem es heißt:
Der Mindestlohn macht den Produktionsfaktor “Arbeit” für Unternehmen teurer. Das wird dazu führen, dass Unternehmen versuchen, ihren Arbeitseinsatz zu verringern und dort, wo es möglich ist, Arbeit durch Kapital zu substituieren. Die gestiegenen Kosten werden an die Verbraucher weitergegeben. Dies wird zwangsläufig zu einer steigenden Inflation führen, so dass die Arbeitnehmer im Schnitt kaum bis gar nicht an realer Kaufkraft dazu gewinnen werden.
Fazit: Nichts dazugelernt.
Übrigens: Auch die aktuellen Zahlen zeigen, dass die INSM danebenliegt. Zwar zieht die Inflation derzeit endlich langsam wieder an (volkswirtschaftlich ist das angesichts der viel zu niedrigen Raten vernünftig und richtig). Selbst wenn man dies auf den Mindestlohn zurückführen mag, wie es manche Medien tun, was aber wohl eine etwas vereinfachende Erklärung ist: Die Reallöhne insgesamt steigen trotz leicht zunehmender Inflation. So zitiert Reuters die Ökonomin Ulrike Kastens von der Bank Sal. Oppenheimer:
Die Kaufkraft vieler Verbraucher steigt trotzdem spürbar. Denn bei Lohnerhöhungen um die drei Prozent bleibt auch nach Abzug der Inflation mehr in den Portemonnaies.
Und es dürften derzeit gerade die Löhne am untersten Rand des Lohngefüges steigen - dem Mindestlohn sei dank. Ein Hinweis darauf ist etwa, dass im Gastgewerbe die Tarifverdienste im ersten Quartal 2015 mit 3,4 Prozent überdurchschnittlich angestiegen sind (gegenüber 2,7 Prozent im Mittel aller Branchen.) Das Gastgewerbe ist eine klassische Niedriglohnbranche, in der besonders viele Beschäftigte vom Mindestlohn profitiert haben. Und zwar auch nach Abzug der Inflation.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.