Mindestlohnbilanzen allerorten - Fakten, Argumente und Propaganda inklusive
21. September 2015 | Markus Krüsemann
Vergangenen Dienstag hat der DGB eine erste Zwischenbilanz des Mindestlohngesetzes gezogen. Die Arbeitgeber haben im Vorfeld versucht, die erwartbar positive Medienberichterstattung zu konterkarieren. Doch die Gewerkschaften haben die besseren Argumente für sich. Eine Nachlese.
Eigentlich sind sich alle Seiten einig: Für eine Bewertung der Mindestlohnwirkungen ist es noch zu früh. Dennoch vergeht mittlerweile kaum ein Monat, in dem nicht erneut eine (Zwischen-) Bilanz zum Mindestlohn präsentiert wird. Das ist nicht überraschend, denn Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften (und mit ihnen die Medien) können nicht umhin, sich an einem der wichtigsten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Projekte der vergangenen Legislaturperioden abzuarbeiten, sei es, um doch schon erste Anhaltspunkte seiner Wirkungen kundzutun, oder um sich im Kampf um die Deutungshoheit aber auch die Fortentwicklung des Instruments in Stellung zu bringen.
Am vergangenen Dienstag war es am Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), eine erste Zwischenbilanz des Mindestlohngesetzes zu ziehen. Unter dem Titel „Kommt der Mindestlohn überall an?“ hatte der DGB zu einer Konferenz nach Berlin geladen. Mit der durch Reden von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles und DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell eröffneten Tagung sollte der Erfolg des Gesetzes ausgiebig gewürdigt werden.
Negative Bilanz der Arbeitgeber substanzlos
Im Kampf um die Deutungshoheit wollten die Arbeitgeber den Gewerkschaften das Feld aber nicht ohne Gegenwehr überlassen. Und so glaubten sie, einen Coup gelandet zu haben, als sie kurz vor Eröffnung der Tagung als Erste ihre Botschaft in den Medien verbreiten konnten: Die Mindestlohnbilanz falle negativ aus, ließ Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer unmittelbar vor Konferenzbeginn gegenüber der Presse verlauten. Seit Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes sei die Zahl der Minijobs um über 120.000 gesunken, sagte er. Zudem lasse sich nicht belegen, dass die entfallenen Minijobs in reguläre Arbeitsplätze umgewandelt worden seien (vgl. dazu annotazioni vom 17.06.2015). Der anschließende Vorwurf, viele Unternehmen würden durch die Mindestlohn-Bürokratie, insbesondere durch die Dokumentationspflichten, belastet, war dann auch schon alles, was Kramer Substanzielles gegen den Mindestlohn vorbringen konnte.
Die Medien machten ihren Job, gaben die Aussagen weiter, und ihnen schien nicht aufzufallen, dass der BDA-Präsident keinen einzigen belegbaren Kritikpunkt angeführt hatte, der eine Negativbilanz begründet hätte. Dabei gibt es durchaus Kritikwürdiges. So ist der Mindestlohn mit einer Höhe von 8,50 Euro zu niedrig veranschlagt, um allen abhängig Beschäftigten eine Existenz durch eigene Arbeit zu sichern. Überhaupt profitieren von der tief angesetzten Lohnuntergrenze relativ wenig Beschäftigte, hatte sich zu Beginn des Jahres 2015 die Niedriglohnbeschäftigung unterhalb des Mindestlohns doch nur noch auf relativ wenige Betriebe beschränkt (siehe miese-jobs.de vom 09.07.2015). Auch die viel zu vielen und unnötigen Ausnahmen für einzelne Beschäftigtengruppen und Langzeitarbeitslose sind so kritikwürdig wie überflüssig.
DGB-Konferenz hat die besseren Argumente für sich
So hatten die Gewerkschaften und die Arbeitsministerin (nicht nur) an diesem Tag die besseren Argumente für sich. Mehr Lohn, mehr Beschäftigte, mehr Schutz vor Ausbeutung und Lohndumping, hieß es. In der Tat: Alle vorab entworfenen Horrorszenarien sind in sich zusammengefallen, die beschworene Katastrophe ist ausgeblieben. Nicht Jobverluste, sondern fortgesetzter Beschäftigungsaufbau prägt das Bild am Arbeitsmarkt. Insbesondere die Mär vom Mindestlohn als Jobkiller (siehe miese-jobs.de vom 20.03.2014) hat sich als solche erwiesen, was die Gruppe der so mahnenden neoliberalen Volkswirte im trüben Licht des wissenschaftlich verbrämten Propagandismus erscheinen lässt.
Dass es sich bei dieser weitgehend positiven Bilanz nicht nur um Propaganda oder um eine argumentativ unterfütterte politische Positionierung handelt, zeigte eine auf der DGB-Konferenz vorgelegte Studie, die Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen und Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung verfasst haben. Anhand einer Auswertung von Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) und des Statistischen Bundesamts kommen sie zu dem Ergebnis, dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung seit Einführung des Mindestlohns spürbar gestiegen ist, und zwar gerade in traditionellen Niedriglohnbranchen. So weise mit dem Gastgewerbe eine „klassische Niedriglohnbranche“ den prozentual größten Zuwachs auf, während in den einzigen Wirtschaftszweigen mit Arbeitsplatzverlusten (Finanzdienstleistungen, öffentliche Verwaltung und Energiewirtschaft) Niedriglöhne kaum eine Rolle gespielt hätten.
Mag es für eine umfassende Bewertung der Mindestlohnwirkungen noch zu früh sein, alle bisher bekannten Fakten weisen darauf hin, dass die Einführung einer Lohnuntergrenze in Deutschland keine negativen Arbeitsmarkteffekte hervorgerufen hat. Dem DGB dürfte es daher nicht schwer gefallen sein, sich auf der Konferenz für seine Kampagne zur Etablierung eines allgemein verbindlichen Mindestlohns zu feiern.
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Quellen:
RP Online vom 15.09.2015
Pressemitteilung der Böckler-Stiftung vom 15.09.2015
Literaturtipp:
Schulten, T./ Weinkopf, C. (2015): Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns – eine erste Zwischenbilanz. In: Körzell, S./ Falk, C. (Hg.): Kommt der Mindestlohn überall an? Eine Zwischenbilanz, Hamburg, S. 79-91.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.