Eine Übersicht über wesentliche Kritikpunkte am "Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz"
16. Oktober 2015 | Patrick Schreiner
Bei Flüchtlings-Hilfsorganisationen, -Initiativen, Wohlfahrtsverbänden und vielen anderen Organisationen stößt das gestern vom Bundestag beschlossene "Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz" auf scharfe Kritik. Im Folgenden stellen wir die wesentlichen Aspekte aus verschiedenen Pressemeldungen zusammen.
Der Deutsche Anwaltverein kritisiert unter anderem den Verstoß des Gesetzes gegen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ausdrücklich auch Flüchtlingen ein Grundrecht auf das Existenzminimum zusprach:
"Die Verschärfung des Asylrechts wird viel Leid für die Betroffenen bedeuten, den Zuzug von Schutzsuchenden aber nicht nennenswert reduzieren“, so Rechtsanwältin Gisela Seidler, Vorsitzende des Ausländer- und Asylrechtsausschusses des DAV. Auch die Eile, mit der die gesetzlichen Reglungen umgesetzt werden sollen, ist der Sache nicht angemessen. Die einzig einer vordergründigen Opportunität geschuldete überhastete Vorgehensweise des Gesetzgebers sei mit einem demokratischen Gesetzgebungsprozess nicht mehr in Einklang zu bringen. „Ohne Not werden problematische, grundrechtsrelevante Weichenstellungen ohne die Möglichkeit einer sachlichen Diskussion durchgezogen“, so Seidler weiter. Die Einschränkung der Leistungen für Geduldete unter das durch das Grundrecht auf Menschenwürde vorgegebene Existenzminimum steht zudem in klarem Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10.
Pro Asyl schließt sich dieser Kritik des Anwaltvereins ausdrücklich an und verweist zudem auf die negativen Folgen des Gesetzes für die Integration der Flüchtlinge in Arbeit und Gesellschaft:
Zum Schaden unserer Gesellschaft werden die Weichen auf Abwehr und Ausgrenzung gestellt. Die Kasernierung von Flüchtlingen in Erstaufnahmeeinrichtungen bis zu sechs Monaten, die Ausdehnung des Arbeitsverbotes und die Ausweitung der Residenzpflicht werden die Unterbringungsproblematik verschärfen und Integration verhindern.
Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz werde ferner zu mehr Bürokratie und Kosten führen, so Pro Asyl weiter:
Der Bundestag hat ebenfalls eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes beschlossen, nach der Flüchtlinge in den auf die Erstaufnahme folgenden Gemeinschaftsunterkünften nur noch Sachleistungen erhalten können. Ihnen soll das soziokulturelle Existenzminimum nicht als Bargeld ausgezahlt werden. Der Bundestag produziert mehr Bürokratie für die Ausländer- und Sozialbehörden, denn vom soziokulturellen Existenzminimum sind auch Telefonkosten, Lesestoff, Genussmittel etc. umfasst, für deren Verteilung die Behörden zuständig sein werden.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International macht in einem Offenen Brief auf die Fragwürdigkeit des Konzepts der "sicheren Herkunftsländer" aufmerksam:
Die im Gesetz vorgesehene Erleichterung der Arbeitsmigration aus westlichen Balkanstaaten ist sinnvoll - sie ändert jedoch nichts daran, dass diese die Kriterien eines "sicheren Herkunftsstaates" nicht erfüllen. Die geplante Einstufung dieser Staaten als "sicher" wird der Realität nicht gerecht. Warum sollte etwa ein Staat wie Kosovo sicher sein, wenn dort 5.000 KFOR-Soldaten stationiert sind? Zudem sind landesweit Diskriminierungen von Minderheiten an der Tagesordnung, die in ihrer Kumulierung durchaus der Schwere einer Verfolgung gleich kommen können. Das Konzept der "sicheren Herkunftsstaaten" führt dazu, dass nach Maßgabe politischer Opportunität über das Schicksal von Schutzsuchenden entschieden wird - die aktuelle Diskussion über die Türkei als "sicheres Herkunftsland" zeigt dies in eindrucksvoller Weise. Das Grundrecht auf Asyl ist ein Individualrecht - sein Fundament ist die sorgfältige Prüfung des individuellen Falls.
Die Caritas kritisiert unter anderem den zukünftig erschwerten Zugang bestimmter Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt:
Kritisch sieht der Deutsche Caritasverband auch das geplante gesetzliche Arbeitsverbot für Geduldete, die das Abschiebehindernis selbst zu vertreten haben. Wie die Erfahrung zeigt, halten sich viele Geduldete trotz ihrer grundsätzlich fortbestehenden Ausreisepflicht längerfristig in Deutschland auf. Hierfür gibt es im Einzelfall vielschichtige Gründe, die sich nicht auf die fehlende Mitwirkung der Betroffenen reduzieren lassen. Das Aufenthaltsgesetz sieht daher unter bestimmten Voraussetzungen den Übergang in eine Aufenthaltserlaubnis vor. Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren zusätzliche Rechtsgrundlagen für eine solche Aufenthaltslegalisierung geschaffen, was der Deutsche Caritasverband sehr begrüßt hat. An den Erwägungen, die der Schaffung dieser Bleiberechte zugrunde lagen, hat sich auch angesichts der aktuellen Herausforderungen nichts geändert. Nach wie vor liegt es im Interesse der Betroffenen, aber auch der Gesellschaft, denjenigen, die jedenfalls auf absehbare Zeit in Deutschland bleiben werden, Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen verweist darauf, dass das Gesetz entgegen seinem Titel Asylverfahren nicht beschleunigen werde und auch sonst keines der vermeintlichen Probleme löse:
Der Gesetzentwurf widerspricht nicht nur der Verfassung, er ist auch absolut untauglich, die bestehenden Probleme zu lösen, da er lediglich auf die Abschreckung zielt. So liegt der Anteil der Flüchtlinge aus den Westbalkanländern, die der Gesetzgeber als angebliche Ursache der Probleme ausgemacht hat, im Oktober nur noch bei etwas mehr als 7%. Die großen Herausforderungen bestünden daher weiter, da die bestehenden Strukturen, insbesondere im BAMF überlastet bleiben. Das Gesetzespaket suggeriert zwar mit seinem Namen, dass die Verfahren beschleunigt werden, doch trägt keine Maßnahme im Gesetzespaket dazu bei.
Eine umfangreichere Übersicht über Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft zum Gesetz findet sich bei Pro Asyl. Das Endergebnis der namentlichen Abstimmung im Bundestag dokumentiert Uwe Hiksch auf seinem Blog. Am heutigen Freitag findet die Abstimmung im Bundesrat statt.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.