Obdachlosigkeit in Deutschland: Eine Frage der Perspektive
4. Februar 2016 | Sandra Schindlauer
„Aber in Deutschland muss doch niemand obdachlos sein.“ Diese Aussage höre ich oft, wenn ich davon berichte, dass ich mich mit dem Thema „Obdachlosigkeit im öffentlichen Raum deutscher Großstädte“ auseinandersetze. Implizit wird davon ausgegangen, dass das wohlfahrtsstaatliche Sicherungssystem so gut ausgebaut ist, dass deutsche Staatsbürger/innen nicht obdachlos sein müssen. Im Umkehrschluss ist daher die Meinung weit verbreitet, dass obdachlose Personen freiwillig auf der Straße leben. Eine Schlussfolgerung, die nur auf einen Bruchteil der knapp 40.000 obdachlosen Menschen in Deutschland zutrifft.
Seit 2010 steigen Wohnungs- und Obdachlosenzahlen in Deutschland. Eine Information, die auf den Ergebnissen eines Schätzmodells beruht. Ein Schätzmodell, fragen Sie? In Deutschland gibt es keine offizielle Statistik zum Umfang der Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Mit Verweis auf die Föderalismusreform aus dem Jahr 2006, die Zuständigkeit der Kommunen für die Beseitigung von Wohnungs-/ Obdachlosigkeit und die Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie aus dem Jahr 1998, werden kleine Anfragen der Parteien zur Erstellung einer solchen Statistik von der Bundesregierung regelmäßig abgelehnt. Zuletzt am 28.07.2015.
In der Machbarkeitsstudie wird darauf verwiesen, dass die Lebenssituation obdachloser Personen äußerst diversifiziert ist (verdeckte Wohnungs-/Obdachlosigkeit) und reliable Statistiken deshalb nicht erstellt werden können. Besonders irritierend erscheint diese Begründung vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung in ihren Armuts- und Reichtumsberichten „Wohnungslosigkeit“ als einen von elf Kernindikatoren ausweist. Bedenkt man, dass es in Deutschland z.B. auch möglich ist, statistische Daten über den durchschnittlichen Pro-Kopf-Eisbällchenkonsum zu erheben, weist die Begründung der Bundesregierung sogar gewisse zynische Tendenzen auf. Darüber hinaus zeigen Beispiele aus anderen Städten (etwa San Francisco), wie eine empirische Erfassung wohnungs-/obdachloser Personen erfolgreich durchgeführt werden kann. Für best-practice Beispiele muss man jedoch nicht erst Weltmeere überqueren; es lohnt sich bereits ein Blick in die Forschungsberichte der „Fédération Européenne des Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri“ (kurz: FEANTSA). Die Erhebung der Wohnungs-/ Obdachlosenzahlen in Deutschland ist keine Machbarkeits-, sondern eine Willensfrage.
In Ermangelung zuverlässiger statistischer Daten verweisen die Autor/innen des Armuts- und Reichtumsberichtes auf die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Auf Basis von Beobachtungen am Wohnungs- und Arbeitsmarkt, der Zuwanderung, der Sozialhilfebedürftigkeit, regionaler Wohnungslosenstatistiken und Blitzumfragen kommt die BAG W zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2014 rund 335.000 Personen in Deutschland wohnungslos waren; davon circa 39.000 obdachlos. Ein Anstieg von ca. 18 Prozent innerhalb von zwei Jahren. Im Kontext der Flüchtlingskrise erscheinen die Prognosen der BAG W geradezu optimistisch: bis 2018 werden mindestens 200.000 weitere Personen in Deutschland wohnungs- oder obdachlos sein. Bereits jetzt weisen kritische Stimmen darauf hin, dass Geflüchtete und obdachlose Personen in naher Zukunft um kommunale Hilfestrukturen konkurrieren werden. Latente und explizite rassistische Tendenzen, die vor rund 10 Jahren mit der Migration von Pol/innen begonnen und sich mit dem Zuzug von Hilfesuchenden aus Bulgarien und Rumänien verschärft haben, könnten ohne Kompensationsmaßnahmen in gewalttätige Auseinandersetzungen umschlagen.
Ebenso wenig, wie es eine Statistik zum Umfang der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland gibt, existiert eine administrativ einheitliche Definition. Die wenigen Studien zu diesem Thema beziehen sich entweder auf die Wohnungsnotfalldefinition des Deutschen Städtetags aus dem Jahr 1987 oder auf die darauf basierende Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe aus dem Jahr 2010. Administrative Gültigkeit besitzt jedoch keine der beiden Definitionen. Dem/der aufmerksamen Leser/in ist vielleicht aufgefallen, dass in diesem Beitrag begrifflich zwischen obdachlosen und wohnungslosen Personen differenziert wurde. Beide Bezeichnungen werden im alltäglichen Sprachgebrauch (und mitunter auch in der Wissenschaft) immer wieder synonym verwendet. Hinsichtlich der Prekarität ihrer Lebenslage unterscheiden sich beide Personengruppen jedoch mitunter deutlich voneinander. Als wohnungslos können Personen bezeichnet werden, die zwar über keinen eigenen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen, aber institutionell (z.B. in Wohnungslosenheimen) oder nicht-institutionell (z.B. bei Bekannten) untergebracht sind. Obdachlose Personen verfügen hingegen über keine permanente menschenwürdige Unterkunft. Das bedeutet: obdachlose Personen sind immer auch wohnungslos, wohnungslose Personen sind jedoch nicht zwingend auch obdachlos.
Nun aber zurück zur Ausgangsfrage dieses Beitrags: Muss in Deutschland niemand obdachlos sein? Deutsche Kommunen sind per Gesetz (sog. „Unterbringungspflicht“) verpflichtet, deutschen Staatsbürger/innen, die (1) unfreiwillig obdachlos sind, (2) den Wunsch äußern, eine Wohnung zu erhalten und sich (3) aus eigener Kraft nicht aus ihrer Lebenslage befreien können, eine menschenwürdige Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Sind also die knapp 40.000 Personen in Deutschland freiwillig obdachlos? In Anbetracht der steigenden Wohnungs- und Obdachlosenzahlen und der desolaten Lebensumstände und Gefahren, denen obdachlose Menschen im öffentlichen Raum ausgesetzt sind, erscheint die Eigenverschuldungs-These wenig überzeugend. Wahrscheinlicher ist, dass die Kommunen nicht in der Lage sind, ihre Unterbringungspflicht zu erfüllen.
Die Darlegung der strukturellen Ursachen, zu denen u.a. die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, der Zuzug von Personen, die nicht leistungsberechtigt sind, der Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau und die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände gehören, würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Betroffene berichten jedoch auch immer wieder davon, dass ihnen Vorurteile und Ressentiments entgegengebracht werden, die ihnen den langen Weg aus der Wohnungs-/ Obdachlosigkeit zusätzlich erschweren. Die Selbstverschuldungs-These haben viele von ihnen internalisiert. Den meisten ist ihre Lebenssituation peinlich. Aus Scham vermeiden sie den Gang zum Sozialamt, den Hilfegesuch bei Verwandten oder den Gang zu einer Hilfeeinrichtung. Einige wollen sich ihre Notlage nicht eingestehen, verdrängen den Ernst der Lage, hoffen darauf, dass sich schon alles von alleine klären wird. Andere wollen unabhängig bleiben, sind zu stolz, Sozialhilfe zu beantragen und wollen sich beweisen, dass sie es auch ohne amtliche Unterstützung schaffen.
Auch wenn Obdachlosigkeit häufig das Ergebnis eines monate- oder sogar jahrelangen Prozesses ist, ist der Tag, an dem eine Person obdachlos wird, zweifellos ein traumatisches Ereignis. Verunsicherung und ein erhebliches Informationsdefizit sorgen dafür, dass viele Betroffene die ersten Nächte unter freiem Himmel, in ihrem Auto, in einer Tiefgarage oder in einem Geschäftseingang verbringen. Dank der Hilfe durch andere obdachlose Personen und der ausdauernden Arbeit der Straßensozialarbeiter/innen kann zumindest der Informationsmangel hinsichtlich geeigneter Anlaufstellen relativ schnell kompensiert werden.
Viele obdachlose Personen meiden dennoch die teils gut ausgebauten Hilfesysteme. Warum? Die Gründe sind vielfältig. Zum Beispiel gibt es für obdachlose Paare nur sehr selten Möglichkeiten, gemeinsam in einer Einrichtung zu übernachten. Sie übernachten deshalb lieber gemeinsam im Freien. Aus hygienischen und sicherheitsrelevanten Gründen dürfen keine Tiere in die Übernachtungseinrichtungen mitgenommen werden. Tiere sind Gesprächspartner, sie spenden Wärme, geben Zuneigung, bieten Schutz und sind häufig der einzige stabilisierende Faktor in einer höchst prekären Lebenssituation. Viele obdachlose Tierbesitzer/innen verbringen die Nacht lieber zusammen mit ihren Weggefährten im Freien. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der infrastrukturellen Notwendigkeit, dass in den Schlafräumen der Wohnungsloseneinrichtungen häufig mehrere Personen untergebracht werden. Hilfebedürftige berichten, dass es aufgrund von Lärm- und Geruchsbelästigungen unmöglich ist, in diesen Sälen zu schlafen. Darüber hinaus kommt es zu Diebstählen und mitunter auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Nicht zuletzt führen der Mangel an Privatsphäre und/oder psychische Erkrankungen dazu, dass Personen lieber außerhalb der Einrichtungen nächtigen. So schlafen Personen, die unter Schizophrenie leiden, häufig an sehr lauten Orten (etwa unter einer Autobahnbrücke), um die Stimmen in ihrem Kopf zu übertönen.
Das Nächtigen im Freien erschwert nicht nur die Vermittlung von Hilfen durch SozialarbeiterInnen, es kann lebensgefährlich sein. Obdachlose Personen berichten von gewalttätigen Übergriffen, davon, dass sie wach wurden, weil jemand auf ihren Schlafsack urinierte, davon, dass sie aufwachten, als jemand gerade dabei war, ihren Schlafsack anzuzünden, davon, dass ihnen jemand an Silvester Feuerwerkskörper in den Schlafsack steckte, davon, dass jemand sie aufweckte und Haarspray ins Gesicht sprühte. „Der Schlafsack muss immer halb offen bleiben, damit ich mich im Notfall wehren kann“, berichtet eine der Personen, die in den Augen Vieler „freiwillig“ obdachlos sind.
Dieser Artikel erschien in einer längeren Fassung zuerst auf dem Blog Stadt- und Migrationsforschung konkret. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Sandra Schindlauer ist Diplom-Stadtgeographin mit Schwerpunkt auf sozialer Ungleichheit im urbanen Kontext. Mit ihrer Promotion zum Thema "Der strategische Umgang mit Obdachlosigkeit im öffentlichen Raum deutscher Großstädte" möchte sie ihre Leser/innen für die Komplexität und Bedeutung des Themas "Obdachlosigkeit in Deutschland" sensibilisieren.