Die Tochter von Angela Merkel und François Hollande
11. Dezember 2015 | Guido Iodice, Daniela Palma
"Man sagt, der Satte versteht den Hungrigen nicht; aber ich füge hinzu, auch der Hungrige versteht den Hungrigen nicht immer" (Fjodr Dostojewski: Erniedrigte und Beleidigte). – Das Ergebnis der französischen Wahlen der vergangenen Woche in Frankreich, bei denen der Front National von Marine Le Pen die stärkste Partei auf nationaler Ebene wurde und den ersten Platz in quasi der Hälfte der Regionen erobert hat, ist die Folge einer langen Reihe von Fehlern des französischen Präsidenten François Hollande.
Die Fehler begannen schon am Anfang seiner Präsidentschaft, als sich der französische Präsident – nach einer Wahlkampagne, die auf eine Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen Deutschland und Frankreich zielte und eine Neuverhandlung der europäischen Verträge versprach – an Berlin wandte, um seine Hochachtung gegenüber Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Ausdruck zu bringen und sich ihr zu unterwerfen. Kurze Zeit später ratifizierte Frankreich den Fiskalpakt.
Im französischen Wahlergebnis stecken nicht nur Euroskepsis und traditioneller Revanchismus, wie sie in den letzten Jahrzehnten zunehmend ans Tageslicht kamen – vom knappen Sieg des Referendums zum Vertrag von Maastricht über die Ablehnung des Referendums zur europäischen Verfassung bis hin zu den Wahlen der vergangenen Woche. In diesem Wahlergebnis steckt die Angst vor dem Terrorismus und die Angst vor Einwanderung, die – so erscheint es vielen, auch wenn es nicht im Geringsten wahr ist, wie empirische Untersuchungen zeigen – die armen Franzosen in Konkurrenz bringt mit jenen Armen, die aus dem Rest der Welt nach Frankreich kommen.
Bei näherer Betrachtung aber zeigt sich, dass alle diese Nebenwidersprüche (um einen Begriff der marxistischen Tradition zu benutzen) sich auf jenen Hauptwiderspruch beziehen, der im Falle Frankreichs und Europas in der fortdauernden ökonomischen Krise gründet, mit hohen Arbeitslosenraten, der gegenüberstehend die traditionellen Parteien distanziert und unnütz erscheinen (und dies auch sind).
Die "Verlierer der Globalisierung" sind in den Blick zu nehmen. Im Laufe der Zeit sind in Europa die gegen die Austerität gerichteten Kräfte gewachsen. Bisweilen haben diese fortschrittliche Züge, oft ohne antieuropäische Vorurteile, wie in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland. In anderen Fällen hingegen fangen die Kräfte der extremen Rechten den Unmut auf, offen gegen Europa als solches positioniert, wie in Frankreich und teilweise in Italien. Nicht zufällig geschieht dies leichter dort, wo Mitte-Links-Regierungen an der Macht sind, werden diese doch als Teil des Problems und nicht der Lösung wahrgenommen (was sie tatsächlich auch sind). Zwischen der europäischen Sozialdemokratie und den Austeritäts-Parteien ist quasi kein Unterschied mehr festzustellen – und in manchen Fällen zeigt sich dies schon in deren erster Reihe: Jeroen Dijsselbloem, der Präsident der Eurogruppe, die Griechenland einer regelrechten Fiskalfolter unterwarf, gehört der niederländischen Partei der Arbeit an. Diese Wende der europäischen Sozialdemokratie hin zu Neoliberalismus und Austeritätspolitik ist allerdings kein Charakteristikum, das auf die Eurozone beschränkt wäre, wenn man zum Beispiel an die britische Labour Party denkt, die erst in jüngster Zeit wieder einen linken Parteivorsitzenden hat.
Wenn in Frankreich der FN nun die stärkste und die Sozialistische Partei nur die dritte Partei geworden ist, braucht man sich folglich nicht zu wundern. Marine Le Pen ist die Tochter der Fehler von Hollande und Merkel. Genauso, wie in Italien der Aufstieg der Lega Nord die Tochter der Fehler der Demokratischen Partei ist: Einst die Unterstützung der Regierung von Mario Monti und jetzt die Furcht der Regierung von Matteo Renzi, die sich der Schlinge bewusst ist, die die europäische Austeritätspolitik ihr um den Hals legt, die aber dennoch nicht gegen diese Politik angeht, sondern sich überzeugt gibt, dass der Weg zur Besserung durch Strukturreformen führe.
Es gäbe nun einiges wiedergutzumachen, aber da ist wenig Hoffnung. Jedenfalls helfen da kaum die Pro-Einwanderer-Parolen, die Rhetorik der Offenheit gegenüber dem Anderen und ähnliches. In ihnen kommen zwar großherzige und edle Einstellungen zum Ausdruck – die aber im Handumdrehen weggewischt sind, wenn du arbeitslos bist und der Vermieter wegen der Miete anklopft. Wenn man die Gefahr der nationalistischen Rechten bekämpfen will, ist das einzige wirksame Mittel der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit – so, wie man einen Krieg führen würde (ohne aber einen wirklichen Krieg zu führen.)
Ein großer Liberaler, William Beveridge, schrieb einmal:
Solange Massenarbeitslosigkeit möglich erscheint, solange wird jeder Mensch im Kampf um einen Arbeitsplatz als Feind seines Nächsten erscheinen. Dieser Kampf hat noch unerfreulichere Konsequenzen: Hass gegen Ausländer, Hass gegen Juden, Feindseligkeit zwischen den Geschlechtern. Die unzureichenden Arbeitsplätze für unsere Produktivkräfte sind die Ursache einer unendlichen Serie des Schlechten. Wenn diese unzureichende Beschäftigung eliminiert sein wird, wird der Weg zu einem Fortschritt ohne Angst offen sein.
Wenn man die Welle der nationalistischen Rechten in Europa stoppen will, gibt es nur eine Möglichkeit: Zu erklären, dass Arbeitslosigkeit ein größeres Übel ist als ein Haushaltsdefizit, und dementsprechend zu handeln. Die europäischen Technokraten würden dann klagen, Wolfgang Schäuble würde drohen, aber gegenüber zwei großen Ländern wie Frankreich und Italien könnten sie nicht viel ausrichten. Leider gibt es wenig Grund zur Hoffnung, dass das passieren wird. Ganz im Gegenteil ist nicht auszuschließen, dass die nationalistische Rechte in einem wichtigen Land an die Macht kommt und ihre unheilvollen Versprechungen umsetzt.
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Guido Iodice ist Journalist, Politikberater und Mitherausgeber von www.keynesblog.com.
Daniela Palma ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Mitherausgeberin von www.keynesblog.com.