Neoliberalismus: Die Ideologie an der Wurzel all unserer Probleme
2. Juni 2016 | George Monbiot
Finanzkrise, Umweltkatastrophen, und selbst der Aufstieg von Donald Trump – der Neoliberalismus hat überall seine Finger im Spiel. Warum ist es der Linken nicht gelungen, eine Alternative zu präsentieren?
Man stelle sich einmal vor, die Menschen in der Sowjetunion hätten nie einen Begriff vom Kommunismus gehabt. Die Ideologie jedenfalls, die unser Leben dominiert, hat für die meisten von uns keinen Namen. Wer ihn in Unterhaltungen nennt, erntet ein Schulterzucken. Selbst wenn Gesprächspartnern der Begriff geläufig ist, werden sie Schwierigkeiten haben, ihn zu erläutern. Neoliberalismus: Wer weiß schon, um was sich es sich dabei genau handelt.
Die Unbekanntheit des Begriffs ist sowohl Symptom als auch Ursache seiner Macht, hat er doch in erstaunlich unterschiedlichen Krisen eine zentrale Rolle gespielt: In der Finanzkrise von 2007/08; beim Verschieben von Reichtum und Macht in Offshore-Paradiese (von dem die Panama Papiere nur einen kleinen Einblick geben); in der Zerschlagung von öffentlicher Gesundheitsvorsorge und Bildungssystemen; beim Wiederaufflammen von Kinderarmut; bei der Zerstörung sozialer Bindungen, dem Zusammenbruch der Ökosysteme und dem Aufstieg von Donald Trump. Und doch reagieren wir auf diese Krisen, als seien sie je für sich entstanden, denn es ist uns offensichtlich nicht bewusst, dass sie alle von ein und derselben zusammenhängenden Philosophie beschleunigt oder verschärft worden sind, einer Philosophie die einen Namen trägt, oder getragen hat. Ist eine größere als eine unerkannte und namenlos operierende Macht denkbar?
Der Neoliberalismus ist derart allgegenwärtig, dass kaum jemand ihn überhaupt noch als Ideologie wahrnimmt. Die Einflüsterung scheint allgemein akzeptiert, dass es sich bei diesem utopischen, Heil versprechenden Glauben um so etwas wie eine neutrale Kraft, um eine Art biologisches Gesetz, ähnlich Darwins Evolutionstheorie handelt. Dabei entstand diese Philosophie in dem bewussten Versuch, das Leben der Menschen umzugestalten und das Machtgefüge zu verschieben.
Der Neoliberalismus sieht im Wettbewerb das bestimmende Merkmal aller menschlichen Beziehungen. Bürger werden daher zu Konsumenten umdefiniert, die ihre demokratischen Entscheidungen am besten in Form des Kaufs und Verkaufs treffen, ein Verfahren, das Leistung belohnt und Leistungsschwäche bestraft. Damit behauptet er, dass „der Markt“ in Punkto Leistungsfähigkeit jeglicher Planung überlegen ist.
Versuche, Wettbewerb und Konkurrenz zu begrenzen, werden zu einer Bedrohung der Freiheit erklärt. Steuern und Regulierungen sollen minimiert, öffentliche Dienstleistungen privatisiert werden. Das Organisieren von Beschäftigten durch und die Tarifverhandlungen von Gewerkschaften werden als verzerrende Markteingriffe dargestellt, durch die die Herausbildung einer natürlichen Hierarchie von Gewinnern und Verlierern behindert wird. Ungleichheit wird zu etwas Tugendhaftem umgedeutet, zum Lohn für Nützlichkeit und zum Erzeuger von Wohlstand, der zum Nutzen aller nach unten durchsickert. Versuche, eine gleichere Gesellschaft zu schaffen, sind kontraproduktiv und zerstören die Moral. Es ist der Markt, der sicherstellt, dass jeder Mensch das bekommt, was er verdient.
Wir haben solche Glaubensbekenntnisse verinnerlicht und beten sie ständig nach. Die Reichen reden sich ein, sie hätten ihre Vermögen aufgrund eigener Verdienste erworben, wobei sie die in Form von Bildung, Erbe und Klassenzugehörigkeit genossenen Vorteile ignorieren, die zur Sicherung des Reichtums hilfreich gewesen sein dürften. Die Armen hingegen machen sich selbst für ihr Scheitern verantwortlich, auch wenn sie kaum etwas tun können, um ihre Lebensumstände zu verändern.
Strukturelle Arbeitslosigkeit? Wer keinen Job hat, war nicht unternehmerisch genug. Kaum bezahlbarer Wohnraum? Wessen Kreditkarte ausgereizt ist, der ist untauglich und zu sorglos im Umgang mit ihr. Keine Spielbereiche für Kinder mehr im Schulhof? Wenn sie Übergewicht haben, sind die Eltern schuld. In einer von Wettbewerb und Konkurrenz bestimmten Welt sind all jene, die den Anschluss verlieren, per Definition und Selbstdefinition Verlierer.
Wie Paul Verhaeghe in seinem Buch „What About Me?" darstellt, führt dies zu regelrechten Epidemien von Selbstverletzungen, Essstörungen, Depressionen, Vereinsamung, Versagensängsten und sozialen Phobien. Es ist vermutlich nicht überraschend, dass Großbritannien, das Land, in dem die neoliberale Ideologie die extremste Geltung erlangte, der europäische Hotspot der Vereinsamung ist.
***
Der Begriff des Neoliberalismus wurde auf einer Versammlung in Paris im Jahre 1938 geprägt. Unter den Teilnehmern waren zwei Männer, die die Ideologie schließlich definierten: Ludwig von Mises und Friedrich Hayek. Als österreichische Exilanten sahen sie in der Sozialdemokratie, sowohl in der Gestalt von Franklin Roosevelts „New Deal“, als auch in Form der sukzessiven Entwicklung des britischen Wohlfahrtsstaates die Manifestation eines Kollektivismus vom Range eines Nationalsozialismus oder Kommunismus.
In seinem 1944 veröffentlichten Buch „The Road to Serfdom“ (als „Der Weg zur Knechtschaft“ 1945 auf Deutsch veröffentlicht; M.K.) argumentierte Hayek, dass staatliche Planung durch Zerstörung des Individualismus unweigerlich zu totalitärer Kontrolle führen müsse. Das Werk erfuhr, wie Mises Buch „Bureaucracy“, breite Rezeption und erregte die Aufmerksamkeit einiger sehr reicher Leute, die in Hayeks Philosophie eine Gelegenheit erblickten, sich von Regulierungen und Steuern zu befreien. Als Hayek 1947 mit der Mont Pelerin Society die erste Organisation gründete, die die neoliberalistische Doktrin verbreiten sollte, wurde sie von Millionären und ihren Stiftungen finanziell unterstützt.
Mit ihrer Hilfe begann Hayek das zu schaffen, was Daniel Stedman Jones in „Masters of the Universe” als eine Art “neoliberale Internationale” umschreibt, ein transnationales Netzwerk von Wissenschaftlern, Geschäftsleuten, Journalisten und Aktivisten. Die wohlhabenden Hintermänner der Bewegung finanzierten eine Reihe von Denkfabriken, welche die Ideologie fördern und weiterentwickeln sollten. Unter ihnen waren das American Enterprise Institute, die Heritage Foundation, das Cato-Institute, das Institute of Economic Affairs, das Centre for Policy Studies und das Adam Smith Institute. Finanziert wurden auch akademische Stellen und Institute, insbesondere an den Universitäten von Chicago und Virginia.
In seiner Weiterentwicklung nahm der Neoliberalismus an Schärfe zu. Hayeks Auffassung, dass Regierungen den Wettbewerb regulieren sollten, um Monopolbildungen zu verhindern, wich bei amerikanischen Aposteln wie etwa Milton Friedman der Ansicht, dass monopolistische Macht als Lohn für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anzusehen sei.
Während dieser Phase des Wandels passierte noch etwas anderes: Die Bewegung verlor ihren Namen. 1951 noch beschrieb sich Milton Friedman gerne als Neoliberaler. Kurz darauf aber begann der Begriff zu verschwinden. Was noch seltsamer war, obwohl die Ideologie schärfere Konturen bekam und sich die Bewegung weiter formierte, wurde der verlorene Name durch keine geläufige Alternative ersetzt.
Zunächst blieb der Neoliberalismus trotz üppiger Finanzierung eine Randerscheinung. Der Nachkriegskonsens war beinahe allumfassend, da John Maynard Keynes’ Rezepte auf breiter Front übernommen wurden: Vollbeschäftigung und die Beseitigung der Armut standen in den USA und in den meisten westeuropäischen Ländern auf der politischen Agenda, die Spitzensteuersätze waren hoch, und die Regierungen strebten unbefangen nach sozialen Verbesserungen und weiteten die öffentliche Daseinsvorsorge und die sozialen Sicherungssysteme aus.
Als aber in den 1970er Jahren keynesianische Programme fehlschlugen und Wirtschaftskrisen beiderseits des Atlantiks einsetzten, begannen neoliberale Ideen mehrheitsfähig zu werden. Wie Friedman dazu anmerkte, „lag bereits eine Alternative bereit, als die Zeit für Veränderungen gekommen war.“ Mit Hilfe wohlwollender Journalisten und politischer Berater wurden Elemente der neoliberalen Doktrin, insbesondere ihre geldpolitischen Rezepte, in den USA von der Regierung Jimmy Carters und in Großbritannien von der Regierung Jim Callaghans übernommen.
Nachdem Margaret Thatcher und Ronald Reagan die Macht übernommen hatten, folgte bald der Rest des Programmpakets: drastische Steuererleichterungen für Wohlhabende, das Zerschlagen von Gewerkschaften, Deregulierung, Privatisierung, Fremdvergabe und Wettbewerb bei den öffentlichen Dienstleistungen. Neoliberale Politiken wurden auf Betreiben des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der Welthandelsorganisation (WHO) und mittels der Maastricht Verträge verhängt, oft auch unter Verzicht auf demokratische Beschlüsse. Am bemerkenswertesten war dabei wohl die Übernahme durch vormals linke politische Parteien, wie zum Beispiel Labour in Großbritannien oder die Sozialdemokraten in Deutschland. Wie Stedman Jones dazu bemerkte, „kommt einem kaum eine andere Utopie in den Sinn, die so vollständig in die Realität überführt worden ist.“
***
Eine Doktrin, die Wahlmöglichkeiten und Freiheit mit dem Slogan der Alternativlosigkeit verspricht, mag sonderbar anmuten. Doch, wie bemerkte Hayek während eines Besuchs im Chile Pinochets (eines der ersten Länder, in denen das neoliberale Programm umfassend angewandt wurde), „meine persönliche Vorliebe neigt sich eher einer liberalen Diktatur als einer demokratischen Regierung ohne Liberalismus zu“. Die vom Neoliberalismus angebotene Freiheit, die in abstrakter Begrifflichkeit so betörend klingt, sie ist eine Freiheit des Starken, nicht der Schwachen.
Die negative Freiheit von Gewerkschaften und Lohnverhandlungen steht für die Freiheit Löhne zu drücken. Freiheit von Regulierungen bedeutet die Freiheit Flüsse zu vergiften, Arbeitnehmer/innen zu gefährden, ungerechte Zinsen zu erheben und exotische Finanzinstrumente auszuhecken. Steuerfreiheit steht für den Verzicht auf eine Verteilung des Wohlstands, um Menschen aus Armutsverhältnissen zu holen.
Wie Naomi Klein in ihrem Buch „Shock Doctrine“ ausführt, plädierten neoliberale Theoretiker dafür, Krisen zu nutzen, um in einer dadurch abgelenkten Bevölkerung unpopuläre politische Maßnahmen durchzusetzen. Beispiele, die wie ein Nachspiel zum Putsch von Pinochet erscheinen, sind der Irak-Krieg und der Hurrikan Katrina, den Friedman als Chance begriff, das Bildungssystem in New Orleans radikal reformieren zu können.
Dort, wo neoliberale Politik nicht auf nationalem Wege etabliert werden kann, wird sie international durchgesetzt, etwa durch Handelsverträge, in denen ein Streitschlichtungsverfahren zwischen Staaten und Investoren vorgesehen ist: Ausländische Strafgerichtsbarkeiten (private Schiedsgerichte), in denen Unternehmen die Beseitigung von sozialen und Umweltschutzstandards durchdrücken können. Sollten nationale Parlamente für Verkaufsbeschränkungen für Zigaretten gestimmt haben, für den Schutz der Trinkwasserversorgung vor Bergbauunternehmen, für ein Einfrieren der Energiekosten, oder dafür, Pharmaunternehmen daran zu hindern, den Staat übers Ohr zu hauen, so wurden sie dafür, oft auch erfolgreich, von Unternehmen verklagt. Demokratie schrumpft hier auf bloßes Theater.
Ein weiterer Widerspruch des Neoliberalismus liegt darin, dass ein allumfassender Wettbewerb auf ein ebenso umfassendes Quantifizieren und Vergleichen angewiesen ist. Dies hat zur Folge, dass Beschäftigte, Arbeitssuchende und alle Bereiche öffentlicher Daseinsvorsorge einem pedantischen und erdrückenden Bewertungs- und Kontrollsystem unterworfen werden müssen, welches die Gewinner ermitteln und die Verlierer bestrafen soll. Die Doktrin, die uns laut von Mises' Versprechen vom bürokratischen Alptraum einer zentralistischen Planung befreien sollte, hat selbst einen geschaffen.
Der Neoliberalismus wurde zwar nicht als eigennütziger Schwindel entworfen, doch verkam er sehr schnell dazu. In der neoliberalen Ära (in GB und den USA seit 1980) verlief das Wirtschaftswachstum deutlich langsamer als in den vorangegangenen Jahrzehnten - außer für die Superreichen. Nach sechzig Jahren des Rückgangs stieg die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in dieser Epoche rapide an, eine Folge der Zerschlagung von Gewerkschaften, von Steuersenkungen und steigenden Mieten, von Privatisierung und Deregulierung.
Privatisierung und Vermarktlichung öffentlicher Leistungsbereiche wie dem Energiesektor, der Wasserversorgung, dem Bahnverkehr, dem Gesundheits- und Bildungswesen, dem Straßenbau und den Haftanstalten ermöglichten es Unternehmen, Mautstellen vor notwendigen Wirtschaftsgütern aufzurichten und Gebühren zu erheben, Gebühren als Synonym für Vermögenseinkommen: Wenn für ein Bahnticket ein überhöhter Preis gezahlt werden muss, dann dient nur ein Teil davon zur Begleichung der Ausgaben des Betreibers für Treibstoff, Löhne, Fahrzeugbestand und weitere Auslagen. Der andere Teil verweist auf die Tatsache, dass die Betreiber die Konsumenten in der Hand haben.
Besitzer und Betreiber privatisierter oder teilprivatisierter öffentlicher Dienste machen im Vereinigten Königreich ein Vermögen damit, wenig zu investieren, aber hohe Preise zu verlangen. In Russland und Indien haben Oligarchen Staatsvermögen aus Notverkäufen erworben. In Mexiko wurde Carlos Slim die Kontrolle über fast alle Festnetz- und Mobilfunkdienste bewilligt, was ihn schnell zum reichsten Mann der Welt aufsteigen ließ.
Wie Chris Hedges anmerkt, „gründen faschistische Bewegungen nicht auf den politisch Aktiven, sondern den Inaktiven, den ‚Verlierern’, die oft zurecht das Gefühl haben, vom politischen Establishment nicht gehört zu werden. Wenn die politischen Debatten an den Leuten vorbei gehen, so werden sie für Parolen, Symbole und Eklats empfänglich. Für die Anhänger Trumps etwa scheinen Fakten und Argumente bedeutungslos zu sein.
Judt erklärte, wenn das dichte Interaktionsgeflecht zwischen der Bevölkerung und dem Staat zu nichts anderem als Autorität und Gehorsam ausgedünnt wird, dann bleibt als einzige bindende Kraft nur noch die Staatsgewalt übrig. Der von Hayek gefürchtete Totalitarismus droht eher dann, wenn Regierungen, die ihre aus der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen stammende moralische Autorität verloren haben, sich auf auf „Schmeicheleien, Drohungen und schließlich dem Erzwingen von Gehorsam“ beschränken.
***
Wie schon der Kommunismus, so ist auch der Neoliberalismus eine gescheiterte Gottheit. Doch Untoten gleich taumelt die Doktrin weiter, und das liegt an ihrer Anonymität, oder vielmehr an einem Bündel an Namenlosigkeiten.
Die unsichtbare Doktrin der unsichtbaren Hand wird von unsichtbaren Hintermännern vorangetrieben. Nur sehr langsam ist es uns gelungen, die Namen einiger von ihnen aufzudecken. So zeigt sich, dass das Institute of Economic Affairs, das in den Medien vehement gegen jegliche weitere Regulierung der Tabakindustrie Stellung bezogen hat, seit 1963 heimlich von British American Tobacco finanziert wurde. Wir entdecken, dass Charles und David Koch, zwei der reichsten Männer der Erde, das Institut finanzierten, das die Tea Party-Bewegung konstituierte. Wir finden heraus, dass Charles Koch im Zusammenhang mit der Gründung einer seiner Denkfabriken vermerkte, dass es nicht an die große Glocke gehängt werden sollte „wie die Einrichtung gesteuert und geleitet wird, um unerwünschte Kritik zu vermeiden“.
Die vom Neoliberalismus verwendeten Worte verbergen oft mehr, als dass sie etwas erläutern. "Der Markt", das klingt wie ein naturgegebenes System, das uns gleichbedeutend wie die Schwerkraft oder der Luftdruck vorkommt, dabei ist er von Machtbeziehungen regelrecht überfrachtet. Was „die Märkte verlangen“ bedeutet eher, was die Unternehmen und ihre Chefs wollen. Das Wort „Investitionen“, schreibt Sayer, steht für zwei ganz verschiedene Sachverhalte: Einerseits für die Finanzierung produktiver und gesellschaftlich sinnvoller Tätigkeiten, andererseits für den Erwerb bestehender Vermögenswerte, um Mieten, Zinsen, Dividenden und Kapitalerträge aus ihnen herauszuholen. Wer dasselbe Wort für verschiedene Aktivitäten verwendet, der "tarnt die Quellen des Reichtums", was uns dazu bringt, das Abzweigen von Wohlstand mit der Schaffung von Wohlstand zu verwechseln.
Vor einem Jahrhundert wurden die Neureichen von denen verunglimpft, die ihr Geld geerbt hatten. Unternehmer suchten nach sozialer Anerkennung, indem sie sich für Privatiers ausgaben. Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Rentiers und Erben geben sich als Unternehmer und behaupten, ihre Vermögen selbst erwirtschaftet zu haben.
Dieses Unbenannte und verwirrend Unübersichtliche verzahnt sich mit der Namen- und Ortlosigkeit des modernen Kapitalismus: Franchise-Modelle, die sicherstellen, dass die Arbeitnehmer/innen nicht wissen, für wen sie arbeiten; Unternehmen, die im Ausland in einem derart komplexen Netzwerk von Geheimhaltungsregimen registriert sind, dass sich die davon profitierenden Besitzer selbst in polizeilichen Ermittlungen nicht identifizieren lassen; Steuerkonstrukte, die Regierungen austricksen; Finanzprodukte, die niemand versteht.
Die Anonymität des Neoliberalismus wird grimmig beschützt. Diejenigen, die von den Werken Hayeks, von Mises' und Friedmans beeinflusst sind, neigen dazu, den Begriff mit dem teils gerechtfertigten Verweis darauf, dass er heutzutage nurmehr pejorativ verwendet werde, abzulehnen. Ersatzbegriffe bieten sie jedoch nicht an. Einige bezeichnen sich selbst als klassische Liberale oder Libertäre, aber diese Zuschreibungen sind sowohl irreführend als auch eigenartig zurückhaltend, als wollten sie suggerieren, dass die Werke "The Road to Serfdom", "Bureaucracy" oder Friedmans Klassiker "Capitalism and Freedom" nichts Neuartiges enthielten.
***
Trotz alledem, zumindest in seinem frühen Stadium enthält der Neoliberalismus etwas Bewundernswertes. Er stellte eine eigenständige und neuartige Philosophie dar, die von einem zusammenhängenden Netzwerk von Denkern und Aktivisten vorangetrieben wurde, die einen klaren Handlungsplan hatten, dabei geduldig und ausdauernd waren. So wurde der „Weg zur Knechtschaft“ zum Weg an die Macht.
Der Triumph des Neoliberalismus zeichnet auch das Scheitern der Linken nach. Als eine Laissez-faire Wirtschaftslehre im Jahr 1929 in die Katastrophe führte, entwickelte Keynes eine umfassende Wirtschaftstheorie als Ersatz. Als die Keynesianische Nachfragesteuerung in den 1970er Jahren in die Binsen ging, lag schon eine Alternative bereit. Doch als der Neoliberalismus 2008 zerfiel, gab es … nichts. Daher kann die Doktrin wie ein Untoter weiterleben. Seit achtzig Jahren haben weder die Linken noch die Mitte ein neues allgemeines Rahmenkonzept ökonomischen Denkens entwickelt.
Jegliche Anrufung von Lord Keynes ist ein Eingeständnis des Scheiterns. Keynesianische Lösungen für die Krisen des 21. Jahrhunderts vorzuschlagen, heißt drei offensichtliche Probleme zu ignorieren: Es fällt schwer, Menschen mittels alter Ideen zu mobilisieren; die in den 1970er Jahren aufgedeckten Mängel sind nicht verschwunden; und, was am wichtigsten ist, den Ideen kann nichts zur schwerwiegendsten Zwangslage entnommen werden: der Umweltkrise. Keynesianismus funktioniert, wenn durch Stimulierung der Verbrauchernachfrage das Wirtschaftswachstum gefördert wird. Verbrauchernachfrage und Wirtschaftswachstum aber sind die Treiber der Umweltzerstörung.
Die Geschichte des Keynesianismus wie des Neoliberalismus zeigt, dass es nicht ausreicht, ein defektes System zu bekämpfen. Es kommt darauf an, eine schlüssige Alternative vorzuschlagen. Für die Labour-Partei wie für die Demokraten und die Linke im erweiterten Sinne stellt sich als zentrale Aufgabe, so etwas wie ein ökonomisches Apollo-Programm zu entwickeln, ein bewusster Versuch, eine neues System zu entwerfen, das den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird.
Der Artikel erschien zuerst im britischen Guardian unter dem Titel: Neoliberalism – the ideology at the root of all our problems. Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Übersetzung und zur Zweitveröffentlichung. Übersetzer: Markus Krüsemann.
Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
George Monbiot ist ein britischer Journalist, Autor und politischer Aktivist (http://www.monbiot.com/). Für den britischen "Guardian" ist er als Kolumnist tätig. Als Buchautor hat er kürzlich mit "How Did We Get Into This Mess?" eine umfassende Zeit- und Krisendiagnose vorgelegt.