Wenn Armut nur Ungleichheit sein soll
25. November 2016 | Patrick Schreiner
Was ist Armut? Um diese Frage wird seit einigen Jahren heftig gestritten. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei lediglich um eine Frage sozialwissenschaftlicher Methodik und Definition zu handeln. Tatsächlich aber steht dahinter eine politische Auseinandersetzung: Kann es eine Gesellschaft akzeptieren, dass immer größere Bevölkerungsteile von sozialer und politischer Teilhabe ausgeschlossen sind?
Anlass für den Streit um eine adäquate Definition und Berechnung von Armut waren wiederholt die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung, insbesondere aber die Armutsberichte des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV). Die Positionen der Beteiligten sind klar unterscheidbar: Auf der einen Seite legt jede Bundesregierung eine Neigung an den Tag, das Armutsproblem in Deutschland herunterzuspielen. Nicht zuletzt im vierten regierungsoffiziellen Armuts- und Reichtumsbericht von 2013 wird dies anhand zahlreicher Relativierungen und Beschönigungen deutlich. Sekundiert wird ihr dabei von konservativen und neoliberalen Wissenschaftlern und Medien, etwa der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, dem Focus oder Spiegel Online. Auf der anderen Seite unterstreichen und kritisieren viele Sozialverbände, Gewerkschaften, linke Wissenschaftler und Medien den Umfang und die Bedeutung von Armut in Deutschland.
Im Kern dreht sich der Streit um die Frage, ab welchem Ausmaß der Entbehrung überhaupt von Armut gesprochen werden könne: Liegt Armut vor, wenn es an elementarsten Dingen des Lebens mangelt – an Nahrung, Kleidung und einem Dach über dem Kopf? Ist also nur arm, wer zu verhungern oder zu erfrieren droht? Wer so argumentiert, folgt einem absoluten Armutsbegriff. Oder kann von Armut auch gesprochen werden, wenn Nahrung, Kleidung und Wohnung zwar vorhanden sind, aber die Teilhabe an Gesellschaft, Kultur und Demokratie aufgrund eines – im Vergleich zum Rest der Bevölkerung – (zu) niedrigen Einkommens gefährdet ist? Ist also auch arm, wer sich nicht leisten kann, was in einer Gesellschaft als normal gilt? Wer so argumentiert, folgt einem relativen Armutsbegriff.[1]
Relative Armut
Der DPWV verwendet in seinen Armutsberichten einen relativen Armutsbegriff – in Übereinstimmung mit der Europäischen Union, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder der OECD. Selbst die Bundesregierung führt ihn in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht als eines von mehreren Merkmalen für Armut auf. Dem relativen Armutsbegriff zufolge ist eine Person dann relativ arm oder armutsgefährdet, wenn sie weniger als einen bestimmten Prozentsatz vom Median des so genannten Netto-Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hat.[2] Dieser Prozentsatz liegt laut EU-Übereinkunft bei 60 Prozent für Armutsgefährdung und 40 Prozent für Armut; laut WHO- und OECD-Definition bei 50 Prozent für Armut. Der DPWV spricht von Armut, wenn eine Person über weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Äquivalenzeinkommens verfügt.
Diese relative Armutsquote (bzw. Armutsgefährdungsquote) ist in Deutschland nach Angaben des DPWV zwischen 2005 und 2013 von 14,7 auf 15,5 Prozent angestiegen, wobei der Wert zwischen 2006 und 2010 teils deutlich unter 14,7 Prozent lag. Besonders hoch ist die Armutsquote in Bremen mit 24,6 Prozent sowie in Mecklenburg-Vorpommern mit 23,6 Prozent, am niedrigsten in Bayern und Baden-Württemberg mit 11,3 Prozent bzw. 11,4 Prozent. Auffällig stark war der Anstieg im genannten Zeitraum in Nordrhein-Westfalen – nämlich von 14,4 Prozent auf 17,1 Prozent. Dafür ist im Wesentlichen eine weit überdurchschnittliche Zunahme der relativen Armut im bevölkerungsstarken Ruhrgebiet verantwortlich.
Armut ist nicht nur regional unterschiedlich ausgeprägt, sondern trifft bestimmte Bevölkerungsgruppen weit überdurchschnittlich. So sind 24,6 Prozent der Unter-25-Jährigen, 41,9 Prozent der Alleinerziehenden, 57,6 Prozent der Erwerbslosen, 30,8 Prozent der Niedrigqualifizierten, 32,5 Prozent der Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und 26,7 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund von relativer Armut betroffen. Ein recht hoher Anstieg der Armutsquote ist unter anderem bei Rentnerinnen und Pensionären zu beobachten, wenngleich von niedrigem Niveau ausgehend: Ihre Armutsquote stieg von 2005 bis 2014 von 10,7 auf 15,6 Prozent an.[3]
Die relative Armut in Deutschland hat also im Zeitverlauf zugenommen, und bestimmte Bevölkerungsgruppen sind davon besonders betroffen. Aber sind diese Zahlen überhaupt aussagekräftig? Können sie Orientierungspunkte für politisches Handeln sein? Wenn man den Kritikerinnen und Kritikern des relativen Armutsbegriffs glaubt, dann nicht.
Armutsdefinitionen und politisches Interesse
Letztlich sind es gegensätzliche politische und normative Überzeugungen, die in dieser Auseinandersetzung aufeinanderprallen. Formuliert werden sie allerdings regelmäßig als Fragen der Methodik oder der Definition. So beispielsweise durch Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund. In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur vom 20. Februar 2015 kritisierte er den DPWV scharf. Den relativen Armutsbegriff bezeichnete er als »totalen Mist« und »Unfug«, er stellte ihm einen absoluten Armutsbegriff als einzig sinnvollen gegenüber: »Es gibt durchaus seriöse Methoden, die Armut zu messen. Erst mal indem man guckt, wie viele Leute keine warme Wohnung haben, kein Dach über dem Kopf, hungern müssen zum Beispiel, richtig physisch am Existenzminimum leben. Das kann man durchaus ermitteln und wird auch in anderen Ländern getan, nur bei uns nicht.«[4]
Den Versuch der Interviewerin, eine Brücke dahingehend zu bauen, dass Statistiken eben immer auch Interpretationssache seien, weist Krämer brüsk zurück. Er insistiert, es handle sich beim Gegensatz von relativer und absoluter Armut nicht um verschiedene Interpretationen oder Sichtweisen, sondern um den objektiven Gegensatz von richtig und falsch: »Das ist halt eine falsche Interpretation«.
Ein beliebtes, gegen den relativen Armutsbegriff regelmäßig vorgebrachtes Argument lautet in etwa wie folgt: Wenn sich alle Einkommen schlagartig um beispielsweise das Zehnfache erhöhten, verfügten plötzlich alle Menschen über ein auskömmliches bis hohes Einkommen – mathematisch aber würde sich an der relativen Armut nichts ändern, denn nach wie vor liege ja der gleiche Anteil der Haushalte unterhalb der Armutsgrenze von 40 oder 60 Prozent des mittleren Netto-Äquivalenzeinkommens. Diese Grenze verschiebe sich schließlich gleichfalls um das Zehnfache nach oben. (Meist bleibt dabei unerwähnt, dass reale Einkommen gemeint sein müssen.) Auch Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) wandte sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung mit diesem Argument gegen den relativen Armutsbegriff: »Der Ansatz führt leider schnell in die Irre. Angenommen, der Wohlstand in unserem Land würde explodieren, dann bleibt nach dieser Definition das Ausmaß an Armut gleich«.[5]
Gerne ziehen Kritikerinnen und Kritiker des relativen Armutsbegriffs daraus die Schlussfolgerung, dass relative Armut gar keine Armut sei, sondern die Daten lediglich »Ungleichheit« anzeigten. So führte Krämer 2012 im Rahmen seiner Reihe »Unstatistik des Monats« aus: »Jeder am Durchschnittseinkommen festgemachte Armutsbegriff misst daher nicht die Armut (wie beispielsweise die Definition der Weltbank, die alle Menschen als arm einstuft, die von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben müssen), sondern die Ungleichheit.«[6]
Was Krämer und Co. hier und anderswo als Frage der wissenschaftlichen Definition und Methode formulieren, ist in Wirklichkeit eine politische Frage.[7] Deutlich wird dies etwa, wenn Krämer im oben angeführten Interview behauptet: »Um über Armut zu reden, muss man die Reichen außen vor lassen und nur gucken: Wie kommen die Leute über die Runden, die am unteren Ende der Einkommenspyramide leben?« Der Reichtum besonders gut situierter Personen und Klassen spielt für ihn zur Beurteilung und Berechnung von Armut also ebenso wenig eine Rolle wie der Reichtum einer Gesellschaft insgesamt. Arm ist nur, wer (fast) nichts hat.
Wechselwirkungen zwischen Reichtum und Armut
Wer Armut auf diese Weise versteht, wird Reichtum nicht mehr als Ursache für zunehmende Armut thematisieren.[8] Was wiederum Auswirkungen auf die Wahl und Beurteilung politischer Maßnahmen hat. Und genau darin liegt des Pudels Kern: Wer Reichtum nämlich in Zusammenhang mit Armut thematisiert, wird ihn mit einiger Wahrscheinlichkeit in politische Strategien zur Bekämpfung von Armut einbeziehen – Stichwort Umverteilung. Ein relativer Armutsbegriff macht es zumindest möglich, die Verteilungsfrage zu thematisieren. Wer hingegen Reichtum ausblendet, wird einzig Maßnahmen entwickeln, die unmittelbar auf Armut zielen. Reichtum bleibt verschont. Die Frage, ob beide möglicherweise miteinander zu tun haben, wird dann nicht gestellt.
Wer nicht über Reichtum sprechen und nachdenken möchte, kann und wird Ursachen für Armut überdies einzig bei den Betroffenen suchen. Ihnen selbst wird dann die Schuld und die Verantwortung für ihre Armut zugeschrieben. Der Blick richtet sich auf individuelle Probleme, beispielsweise Überschuldung oder Geldmangel, ebenso wie auf (angebliche) individuelle Defizite, beispielsweise unzureichende Bildung, mangelnde soziale Kompetenzen, »Faulheit« oder ungenügende Selbstdisziplin. Und entsprechend konzentrieren sich politische Maßnahmen, die eine solche Perspektive nahelegt, auf den einzelnen Menschen: Karitative Angebote, beispielsweise Lebensmitteltafeln oder Weihnachtsfeiern für arme Kinder, sind dann ebenso Mittel der Wahl wie Angebote zur individuellen Aktivierung und Optimierung für den Arbeitsmarkt, beispielsweise durch Fortbildungen, Praktika und Bewerbungstrainings. Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner, folgerichtiger Schritt, die Letztgenannten – Stichwort »Fördern und Fordern« – mit Zwang und Sanktionen durchzusetzen.
Wer wie Krämer und Co. vom relativen Armutsbegriff nichts wissen will, gibt jede gesamtgesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Perspektive auf. Dabei wäre gerade sie notwendig, um zu erkennen, dass es politische Maßnahmen waren, die zur wachsenden Armut in Deutschland und zugleich zum immer größeren Reichtum in den Händen Weniger geführt haben. So war es politischer Wille, die Löhne in Deutschland zu senken: Die Verhandlungsposition von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verschlechterte sich in den 1990er und 2000er Jahren vor allem durch eine reduzierte Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit, verbunden mit verschärften Zumutbarkeitsregeln, durch die Ausweitung von Leiharbeit, Befristungen und Minijobs, durch die Ausweitung internationaler Konkurrenz und durch die Zerschlagung von tarifgebundenen, gewerkschaftlich gut organisierten, insbesondere öffentlichen Unternehmen. Infolgedessen ist zum einen der Niedriglohnsektor in Deutschland deutlich angewachsen. 2013 arbeiteten 24,4 Prozent der Beschäftigten zu Niedriglöhnen, 1995 waren es noch 18,7 Prozent. Besonders betroffen sind dabei – wenig überraschend – jene Bevölkerungsgruppen, die auch von Armut besonders betroffen sind: Unter-25-Jährige, Niedrigqualifizierte, Nichtdeutsche. Die unmittelbare Wirkung der genannten politischen Maßnahmen lässt sich auch daran erkennen, dass befristet oder im Minijob Beschäftigte weit überdurchschnittlich oft zu Niedriglöhnen arbeiten müssen.[9]
Zum anderen blieben auch fernab des Niedriglohnbereichs die Einkommen abhängig Beschäftigter zurück. Das Lohngefüge insgesamt ist unter Druck geraten. Während die Unternehmens- und Vermögenseinkommen im Jahr 2015 um über 30 Prozent höher lagen als im Jahr 2000, war das Arbeitnehmerentgelt je Stunde um gerade einmal 7 Prozent angestiegen.[10] Von den gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsgewinnen konnten in diesem Zeitraum also fast ausschließlich Unternehmens- und Vermögenseinkommen profitieren – die weit überwiegend von Reichen und Superreichen vereinnahmt werden. Hinzu kommt, dass auch in der Gruppe der abhängig Beschäftigten die Spreizung der Einkommen zunimmt: Niedrige und mittlere Löhne und Gehälter entwickelten sich in den zurückliegenden Jahren deutlich schlechter als hohe.[11] Fast 60 Prozent der Vollzeit-Beschäftigten verdienten 2013 inflationsbereinigt noch immer weniger als im Jahr 2000.[12]
Zu den genannten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen kamen steuerpolitische. Einige Beispiele: Seit Ende der 1990er Jahre wird die Vermögensteuer nicht mehr erhoben. Die Erbschaftsteuer ist heute kaum mehr als eine Bagatellsteuer. Den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer hat man in mehreren Schritten deutlich reduziert. Die Besteuerung von Kapitalerträgen hat man gedeckelt. Auch Unternehmenssteuern wurden gesenkt: Entlastungen gab es etwa bei der Körperschaftssteuer und der Gewerbesteuer; einige Unternehmenssteuern hat man abgeschafft. Die Umsatzsteuer hingegen, die vor allem kleine und mittlere Einkommen belastet, hat man in mehreren Schritten erhöht. Im Ergebnis ist seit Ende der 1970er Jahre der Anteil der direkten Steuern von über 60 Prozent auf unter 50 Prozent in 2010 gefallen. Spiegelbildlich wuchs die Bedeutung der indirekten Steuern: Seit Ende der 1990er Jahre ist die Umsatzsteuer sogar die Einzelsteuer mit dem höchsten Ertrag. Zugleich wuchs insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren die Bedeutung der Lohnsteuer. Auf sie entfielen einst kaum 10 Prozent des Steueraufkommens, heute über 25 Prozent.[13]
Neben den schon erwähnten Verschlechterungen bei der Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit wirken sich insbesondere verschiedene Rentenreformen der letzten 15 Jahre verteilungspolitisch negativ aus. Ein beständig sinkendes Rentenniveau, gerade in Verbindung mit einem Arbeitsmarkt, der immer seltener klassische Erwerbsbiografien ermöglicht, muss in zunehmendem Maße zu Altersarmut führen. Wenngleich heute mit 15,6 Prozent noch auf durchschnittlichem Niveau, so wird der Anteil der Armen unter den Rentnerinnen und Rentner ohne politisches Gegensteuern in den kommenden Jahren stark zunehmen.
Armut definieren - Armut bekämpfen
Seit Jahrzehnten wird also umverteilt – und zwar von unten nach oben. Es ist reichlich weltfremd, so zu tun, als seien all die genannten lohn-, sozial-, arbeitsmarkt- und steuerpolitischen Maßnahmen nicht für die wachsende Armut in Deutschland verantwortlich. Und es ist reichlich ideologisch, so zu tun, als sei der zunehmende Reichtum nicht die andere Seite der gleichen Medaille.
Und genau deshalb stehen hinter dem Streit um den relativen Armutsbegriff nicht primär Fragen der Methode oder Definition, sondern politische Überzeugungen und Interessen. Wer vom relativen Armutsbegriff nichts wissen will, wird von Kritik an den eben genannten politischen Maßnahmen gleichfalls nichts wissen wollen. Wer Armut auf den absoluten Armutsbegriff reduziert, wird im Regelfall die ökonomischen Annahmen teilen, die hinter den genannten Maßnahmen stehen: dass niedrigere Löhne und Sozialleistungen für Wachstum und Wohlstand sorgten, dass mehr Ungleichheit alternativlos sei, dass sie auch für die Menschen ganz unten Vorteile habe.
Vor diesem Hintergrund gibt es sehr gute Gründe dafür, Armut so zu definieren und zu berechnen, wie es der DPWV und andere tun – eben als relative Armut. Denn die genannten Annahmen sind nicht nur ökonomisch irrig, sie sind auch gesellschaftspolitisch fatal: Eine Gesellschaft kann und darf es nicht akzeptieren, dass immer größere Bevölkerungsteile von sozialer und politischer Teilhabe ausgeschlossen sind. Das sind sie aber, wenn sie schlicht nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um Zugänge zu dem zu haben, was in einer Gesellschaft selbstverständlich ist. In den Worten Christoph Butterwegges: »Armut in einem reichen Land bedeutet eben, von anderen verachtet, ausgegrenzt, verhöhnt, verlacht zu werden.«[14]
Hinzu kommen ungleiche politische Machtverhältnisse. Während mit höherem Reichtum ein weitaus größerer politischer Einfluss einhergeht, führt Armut nur allzu oft in politische Resignation und Ohnmacht. Wenn Colin Crouch von »Postdemokratie« spricht, meint er genau das: Große Teile der Bevölkerung sind von demokratischer Mitwirkung faktisch ausgeschlossen, zugleich bestimmt eine kleine elitäre Gruppe zunehmend das politische Geschehen.[15] Bei der Bundestagswahl 2013 setzte sich die Gruppe der Nichtwählenden zu fast 40 Prozent aus dem ärmsten Einkommensfünftel zusammen; 2014 zeigte eine Studie aus den USA, dass politische Entscheidungen fast ausschließlich die Interessen der reichen Eliten berücksichtigen.[16]
Die Kritikerinnen und Kritiker des relativen Armutsbegriffs tun so, als ginge es ihnen in der Debatte um die Armut erstens alleine um Fragen der Methode und der Definition und als seien sie dabei zweitens wissenschaftlich neutral und objektiv. Das ist falsch und unredlich. Ihre Position ist politisch: Sie legitimiert nicht nur die neoliberale Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte, sondern auch soziale und politische Ausgrenzung.
[1] Auch wenn beide bei genauerer Betrachtung weniger klar voneinander abzugrenzen sind, als es auf den ersten Blick scheint, bestimmt der Gegensatz von relativer und absoluter Armut die Debatte in Deutschland doch seit vielen Jahren.
[2] Der Median bezeichnet in einer nach Höhe sortierten Liste den genau in der Mitte liegenden Wert; das Netto-Äquivalenzeinkommen berücksichtigt die Haushaltsgröße und unterschiedliche Bedarfe der Mitglieder eines Haushalts.
[3] Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2015, Die zerklüftete Republik, Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2014, Berlin. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2011, Von Verhärtungen und neuen Trends, Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2011, Berlin. Den Angaben liegen Mikrozensus-Daten zu Grunde.
[7] Zu weiteren Einwänden gegen den relativen Armutsbegriff siehe Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2015 (En. 3) sowie Ulrich Schneider 2015, Armut kann man nicht skandalisieren, Armut ist der Skandal, in Ulrich Schneider (Hg.), Kampf um die Armut, Frankfurt am Main, S. 12-50.
[8] Siehe zur Verteilung des Reichtums in Deutschland auch den Beitrag von Ralf Krämer in diesem Heft.
[9] Torsten Kalina, Claudia Weinkopf 2014, Niedriglohnbeschäftigung 2013, Stagnation auf hohem Niveau, in IAQ Report 3 (2015).
[10] Statistisches Bundesamt, eigene Berechnung.
[12] Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2016, Memorandum 2016, Köln.
[13] Margit Schratzenstaller 2013, Für einen produktiven und solide finanzierten Staat, Determinanten der Entwicklung der Abgaben in Deutschland – Teilstudie 1, http://library.fes.de/pdf-files/wiso/09604.pdf (Zugriff am 06.02.2013).
[15] Colin Crouch 2008, Postdemokratie, Bonn.
[16] Horst Kahrs 2015, Wahlenthaltung als Klassenwahlverhalten, Zu neueren Befunden aus der Wahlforschung, http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_Wahlenthaltung.pdf (Zugriff am 31.12.2015). Martin Gilens, Benjamin Page 2014, Testing Theories of American Politics, Elites, Interest Groups, and Average Citizens, in Perspectives on Politics 12,3 (2014), S. 564-581. Siehe auch Armin Schäfer 2015, Demokratie? Mehr oder weniger, http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/wahlbeteiligung-demokratie-mehr-oder-weniger-13900793.html (Zugriff am 18.12.2015).
Der Artikel erschien zuerst in Forum Wissenschaft Ausgabe 2 (2016). Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.