Die Mindestlohn-Ausnahme für Langzeitarbeitslose ist sinnlos und diskriminierend
15. November 2016 | Markus Krüsemann
Mit Einführung des Mindestlohns wurde für Langzeitarbeitslose eine Ausnahmeregel erlassen. Bei Neueinstellung sollen sie in den ersten sechs Monaten zu Gehältern unterhalb des Mindestlohns arbeiten dürfen. Eine breit angelegte Analyse ergab, dass die Regelung völlig nutzlos ist. Zeit, sie abzuschaffen, könnte man meinen. Doch einige von Deutschlands vermeintlichen Top-Ökonomen kommen zu anderen, von der Realität unbeirrten Schlüssen.
Die Regelung, Langzeitarbeitslose (Arbeitssuchende, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind) für die ersten sechs Monate nach Neueinstellung vom Mindestlohn auszunehmen, ist praktisch wirkungslos, darüber hatten diverse Zeitungen bereits im Juni 2016 berichtet. Grundlage für dieses arbeitsmarktpolitisch wenig schmeichelhafte Urteil bildete die Veröffentlichung einer vom Arbeitsministerium beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Expertise. Das IAB hatte darin schlicht keine Belege dafür finden können, dass Arbeitgeber aufgrund der Ausnahmeregelung verstärkt Langzeitarbeitslose unter Mindestlohn eingestellt haben.
Nun hat das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit einen hauseigenen Bericht vorgelegt, der die damaligen Befunde in geraffter Form für eine breitere Leser/innenschaft aufbereitet. So wird deutlich, dass die Ausnahmeregel nicht nur wirkungslos ist, sie stellt auch weder für die Langzeitarbeitslosen noch für die Vermittlungsagenturen eine attraktives Förderinstrument dar. Stattdessen besteht die Gefahr der Demotivierung und auch Diskriminierung einer sowieso schon benachteiligten Beschäftigtengruppe. Selbst bei Arbeitgebern ist die Regel nicht beliebt. Für sie sind Qualifikation und Arbeitsmotivation entscheidende Einstellungskriterien, nicht aber ein Billiglohn, durch den man sich womöglich auch noch Lohnkonkurrenzdenken in die Belegschaft holt, so stellt zumindest die Studie fest.
Eindeutige Ergebnisse
Das IAB hat sich viel Mühe gegeben, die Wirkung der Ausnahmeregel zu erfassen. Am Ende der Analyse von Daten aus der Beschäftigungs- und der Arbeitslosenstatistik sowie der Angaben von ca. 14.000 befragten Personen, die nach längerer Arbeitslosigkeit eine Beschäftigung aufgenommen hatten, und nach Auswertung der Befragung von 84 Jobcenter-Mitarbeiter/innen von sechs ausgewählten Job-Centern sowie von neun Experten aus dem politischen Raum lagen eindeutige Ergebnisse vor. Die Regelung ist nicht geeignet, um Langzeitarbeitslosen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.
Seit Bestehen hat sich weder die Einstellungswahrscheinlichkeit von Langzeitarbeitslosen erhöht, noch haben sich die Einstiegslöhne verändert. Stattdessen ist die Ausnahme mit Nachteilen behaftet, weshalb sie den Vermittler/innen in den Jobcentern als Förderinstrument wenig geeignet erscheint. Die Vermittlung in eine Niedriglohnbeschäftigung könne die Arbeitsmotivation einschränken und in der übrigen Belegschaft ein Gefühl der Lohnkonkurrenz schaffen, heißt es. Anstatt an einer Lohndiskriminierung für ihre Klientel mitzuwirken und so auch den Mindestlohn auszuhebeln, setzen die Vermittler/innen lieber auf passgenaue Förderinstrumente.
Kein eindeutiger Schluss?
Die Befunde lassen an Klarheit nichts vermissen und nur einen logischen Schluss zu: Die unsinnige und diskriminierende Ausnahme Langzeitarbeitsloser vom Mindestlohn gehört umgehend abgeschafft. Damit dürften wohl auch die immer mal wieder grassierenden Forderungen vom Tisch sein, diese Ausnahmeregelung auf zwölf Monate auszudehnen - sollte man meinen.
Einige von Deutschlands sogenannten Top-Ökonomen kommen tatsächlich zu abweichenden Schlüssen: Die Expert/innen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) haben in ihrem aktuellen Jahresgutachten 2016/17 eine andere Empfehlung parat. In Kenntnis der im Juni 2016 veröffentlichten Befunde zur Wirkungslosigkeit der Ausnahmeregel schreiben sie auf S. 393 ihres Gutachtens:
Die Ausnahmen vom Mindestlohn für Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten einer neuen Beschäftigung sind als Versicherungselement sinnvoll. Sie sollten daher nicht nur erhalten, sondern auf zwölf Monate ausgeweitet werden. Aus dem Umstand, dass die Ausnahmeregelung bislang nicht stark zur Anwendung gekommen ist (...), darf nicht gefolgert werden, dass sie in schlechten konjunkturellen Zeiten nicht zum Rettungsanker für Langzeitarbeitslose werden könnte.
Der Sachverständigenrat - notorisch realitätsfern
Solche argumentativen Verstiegenheiten sind nichts Neues. Scheinbar löst alles was mit dem bei den Ratsmitgliedern (mit Ausnahme Peter Bofingers) verhassten Mindestlohn auch nur entfernt zu tun hat, ideologischen Speichelfluss aus. Mit neoklassischen bis neoliberalen Theoriedogmen, einseitigen Erklärungsmustern und fragwürdigen Prognosen ziehen vier der fünf Wirtschaftsweisen ja schon seit Jahren gegen den Mindestlohn zu Felde.
Sie offenbaren dabei nicht nur eine notorische Realitätsferne, sondern auch eine für seriöse Wissenschaftler erstaunliche Vorliebe, die eigenen Positionen durch eine gezielte Auswahl von Quellen oft zweifelhafter Natur zu belegen und gegenteilige Befunde (seien sie noch so valide) unter den Tisch fallen zu lassen. Norbert Häring hat sich die Mühe gemacht, im aktuellen Jahresgutachten des Sachverständigenrats auch die weiteren Stellungnahmen der Mehrheit des Rats zum Mindestlohn unter die Lupe zu nehmen. Er ist dabei auf "mehrere Fälle von grob unwissenschaftlichem Arbeiten und Täuschung der Öffentlichkeit" gestoßen. So besehen erscheint dann auch die Empfehlung, die unnütze Ausnahmeregel für Langzeitarbeitslose auf zwölf Monate auszudehnen, plötzlich in ganz anderem Licht.
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Zum Weiterlesen:
vom Berge, P./ Klingert, I. u.a. (2016): Mindestlohnausnahme für Langzeitarbeitslose: Wenig wirksam und kaum genutzt. IAB-Kurzbericht, Nr. 23/2016, Nürnberg.
Sell, S. (2016): Die nicht existenten Nicht-Mindestlohn-Langzeitarbeitslosen. Von einer Opfergabe innerhalb der Großen Koalition vor dem Mindestlohngesetz zu einer erwartbar geplatzten Seifenblase. In: Aktuelle Sozialpolitik, Blogeintrag vom 12.05.2016.
„Täuschende Wirtschaftsweise 2016 (1): Mindestlohn - Mehr auf Arbeitgeberlinie als die Arbeitgeber selbst“. Norbert Häring, Geld und mehr, Blogeintrag vom 03.11.2016.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.