"Jobwunder"? Vom Umverteilen und Downsizing der Arbeit
5. Juli 2017 | Markus Krüsemann
Nein, die Agenda 2010 ließ kein Jobwunder geschehen. Wie Patrick Schreiner und Joshua Seger hier kürzlich darlegten, hat sich der Arbeitsmarkt nicht wegen, sondern trotz der für die Beschäftigten so fatalen neoliberalen Arbeitsmarktpolitik positiv entwickelt. Im folgenden Beitrag zum Thema Jobwunder wird anhand einiger Arbeitsmarktzahlen die Rede vom Arbeitsmartkmirakel ins Reich der Fabel verwiesen.
Immer mehr Jobs und immer weniger Arbeitslose, so lautet die allseits verkündete Botschaft. Der Arbeitsmarkt eile von Rekord zu Rekord, und schon ist von einem Jobwunder die Rede, das die Beschäftigten gerade erlebten. Tatsächlich wartet die Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder mit zunächst beeindruckenden Zahlen auf: Seit 2006 ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland durchgängig gestiegen. Nachdem 2007 erstmals die 40 Millionen-Grenze überschritten worden ist, wurde 2016 mit rund 43,6 Mio. Erwerbstätigen der höchste Stand seit der Wiedervereinigung erreicht. Damit waren etwa 4,8 Millionen mehr Personen erwerbstätig als im Jahr 1991.
Parallel dazu geht die Arbeitslosigkeit seit 2005 nahezu stetig zurück. 2016 ist die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf 2,69 Mio. im Jahresdurchschnitt gesunken. 2005 hatte die BA noch 4,86 Millionen gezählt. Die Arbeitslosenquote (bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen) sank damit von 11,7 Prozent im Jahr 2005 auf 6,1 Prozent im Jahr 2016.
Diese zwei Eckdaten einer positiven Arbeitsmarktentwicklung klingen beeindruckend. Doch ist damit schon alles gesagt? Wer sich nicht von den nackten Zahlen blenden lässt und stattdessen auch die qualitativen Aspekte in den Blick nimmt, kommt schnell zu sehr viel ernüchternderen Ergebnissen. Arbeit wurde weniger geschaffen, denn umverteilt, mit der Folge, dass sich die Qualität der meisten Arbeitsplätze verschlechterte.
Es gibt immer mehr Jobs, aber immer weniger Arbeit
Immer mehr Menschen haben eine Arbeitsstelle, oft auch im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Doch sagt die Zahl der Jobs noch nichts über die Menge der tatsächlich geleisteten Arbeit aus. Angaben dazu finden sich in der Arbeitszeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Ihr zufolge ist das Arbeitsvolumen zwischen 1992 und 2005 trotz steigender Erwerbstätigkeit gesunken. Zuletzt hat das Arbeitsvolumen zwar wieder zulegen können, doch wurde 2016 immer noch nicht das Niveau von 1992 erreicht.
Weil parallel dazu die Zahl der Beschäftigten steigt, sinkt die rechnerisch auf jede/n Beschäftigte/n entfallene Jahresarbeitszeit. Im Endeffekt arbeiteten die 43,6 Mio. Erwerbstätigen des Jahres 2016 weniger als die 38,3 Mio. des Jahres 1992. Damit ist die Pro-Kopf-Arbeitszeit seit 1991 klar gesunken. Faktisch gibt es heute (auch produktivitätsbedingt) weniger Arbeit als zuvor, sie wird nur anders verteilt.
Die Qualität der Jobs lässt oft zu wünschen übrig
Wenn Arbeit auf mehr Menschen verteilt wird, verschlechtert sich ganz oft die Qualität der Arbeit: weniger Vollzeitjobs, mehr, in der Regel schlechter entlohnte und oft nicht mehr existenzsichernde Teilzeit- und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind die Folge. Wie das vorliegende Datenmaterial zur Entwicklung der abhängigen Beschäftigung zeigt, hat sich der Beschäftigungsaufbau seit über einem Jahrzehnt weniger im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung, sondern im Sektor atypischer Beschäftigungsverhältnisse abgespielt.
Nach Angaben aus der Datenbank „Atypische Beschäftigung“ des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung ist die Zahl der atypisch Beschäftigten zwischen 2003 und 2016 von 9,26 Mio. auf 14,47 Mio. Personen gestiegen, ein Zuwachs um mehr als 56 Prozent. Die Zahl der Vollzeitkräfte stieg im gleichen Zeitraum dagegen nur um 6,8 Prozent von 14,12 auf 15,08 Mio. Personen. Zuletzt befanden sich schon fast 40 Prozent aller abhängig Beschäftigten in einem der drei ausgewiesenen atypischen Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, Minijob, Leiharbeit).
Neben der Leiharbeit ist es vor allem die sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung, die mit Abstand als größter Treiber für das Jobwachstum jenseits der Normalarbeit fungiert. Ein Zuwachs um fast 84 Prozent zwischen 2003 und 2016 zeugt von einem regelrechten Boom. Zuletzt zählte das WSI jedenfalls 8,4 Mio. Teilzeitkräfte, wobei hier jede Beschäftigung bereits dann als atypische Teilzeitarbeit gilt, sobald die regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer ist als bei einer vergleichbaren Vollzeitkraft. Trotzdem kann festgehalten werden: Das vermeintliche Jobwunder spielt sich jenseits des Normalarbeitsverhältnisses statt, es stützt sich vor allem auf ein stark gestiegenes Angebot an Teilzeitstellen.
Die Vollzeitbeschäftigung ist nicht zu alter Stärke zurückgekehrt
Bis heute bildet die unbefristete sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung (jenseits der Leiharbeit) das Rückgrat des deutschen Beschäftigungssystems. Der dafür weiterhin gängige Begriff des Normalarbeitsverhältnisses suggeriert allerdings eine selbstverständliche Dominanz dieser Erwerbsform, die seit einer bereits in den 1980er Jahren beginnenden neoliberalen Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik zuletzt immer weniger der Realität entsprach.
Die auf Daten aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) des Statistischen Bundesamtes beruhende Arbeitszeitrechnung des IAB dokumentiert die negative Entwicklung der Vollzeitbeschäftigung seit 1991. Demnach sank die Zahl der Vollzeitkräfte von 28,9 Millionen in 1991 nahezu kontinuierlich auf knapp 22,9 Millionen im Jahr 2006. In dieser Phase wurde der Beschäftigungsaufbau ganz überwiegend von dem stürmischen Wachstum der Teilzeitarbeit getragen.
Nach leichten Schwankungen hat das Jahr 2010 mit nur noch 22,8 Mio. ArbeitnehmerInnen in Vollzeit den vorläufigen Tiefpunkt der Entwicklung markiert. Seitdem geht es langsam wieder bergauf. 2016 wurde mit 24 Mio. Vollzeitkräften zumindest das Niveau von 2003 wieder erreicht. Damit beruhten die letzten sechs Jahre des Jobwachstums endlich auch wieder auf einer Ausweitung der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung.
Das ist kein Grund zur Entwarnung, denn die Zahl der Vollzeitstellen wächst deutlich langsamer als die der Teilzeit und damit der atypischen Beschäftigung insgesamt. Das war auch 2016 so. „Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Vollzeit ist deutlich gewachsen. Noch stärker hat allerdings die atypische Beschäftigung zugenommen“, schrieb die Hans-Böckler-Stiftung Mitte Mai 2107 in einer Pressemitteilung zu den aktualisierten Daten der WSI-Datenbank. „Atypische Beschäftigung“. Offensichtlich können die Vollzeitjobs die atypische Beschäftigung nicht mehr zurückdrängen. Das Normalarbeitsverhältnis findet nicht zu alter Stärke zurück.
Immer weniger Arbeitslose, aber zu wenig Arbeit für alle
Es ist erfreulich, dass immer mehr Arbeitslose und Arbeitssuchende den Weg in den ersten Arbeitsmarkt finden. Doch schon die von der Bundesagentur für Arbeit (BA) genannte offizielle Zahl von zuletzt 2,47 Mio. Arbeitslosen und eine Quote von 5,5 Prozent (Juni 2017) zeigen, dass es immer noch deutlich zu wenig Arbeit für alle gibt. Dies gilt umso mehr mit Blick auf die versteckte Arbeitslosigkeit, die in den sehr viel aussagekräftigeren Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zur Unterbeschäftigung zumindest in Teilen abgebildet wird.
Laut Unterbeschäftigungsstatistik der BA, die auch jene Arbeitslose berücksichtigt, die an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnehmen, die am Tag der statistischen Erhebung krank geschrieben waren, oder die als über 58-Jährige seit 12 Monate kein Jobangebot von der BA erhielten, belief sich die Zahl der tatsächlich Arbeitslosen im Juni 2017 auf 3,47 Mio. Menschen, und auch das sind nur jene Erwerbssuchenden, die sich bei der BA arbeitslos gemeldet haben. Noch mehr arbeitswillige Erwerbslose schlummern in der sog. Stillen Reserve, Menschen, die nicht als Arbeitslose registriert sind, die aber bereit und interessiert sind, eine Arbeit aufzunehmen. Nach einer aktuellen Schätzung des IAB dürfte sich ihre Zahl im Jahresdurchschnitt 2017 auf etwa 983.000 Personen belaufen.
Damit ist noch längst nicht alles gesagt zur Unterbeschäftigung. Mit Blick auf den Teilzeitboom macht Lars Niggemeyer auf eine weitere Form von Arbeitslosigkeit aufmerksam, die sich in der Unterbeschäftigung von Teilzeitkräften verbirgt: die „Teilzeitarbeitslosigkeit“. Sie betrifft jene Gruppe an Teilzeitbeschäftigten und MinijobberInnen, die unfreiwillig weniger arbeiten als gewünscht. Niggemeyer spricht von einem nicht realisierten Arbeitsvolumen in Höhe von 2,3 Mrd. Stunden. Allerdings müsste noch jene Stunden gegengerechnet werden, die Andere, vor allem Vollzeitkräfte, weniger arbeiten möchten.
Die wenigsten Arbeitslosen wechseln in eine abhängige Beschäftigung
Seit 2005 geht die Zahl der Arbeitslosen zurück, doch überraschend wenige von ihnen haben den Weg in den ersten Arbeitsmarkt gefunden. Von den Arbeitslosen, die zwischen Januar 2007 und Dezember 2009 aus der Arbeitslosenstatistik verschwunden sind, wechselten nach einer Analyse von Thomas Rothe und Klaus Wälde nicht einmal neun Prozent auf eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung. Weitere 18 Prozent fanden Arbeit in einem Teilzeitjob oder einer geringfügigen Beschäftigung. 28 Prozent gingen in den Ruhestand und mehr als 32 Prozent wechselten "nur" in eine beschäftigungsschaffende oder eine andere Trainingsmaßnahme.
Auch wenn der Anteil vormals Arbeitsloser mit Vollzeitjob nach drei bis vier Jahren größer geworden und der Arbeitsmarkt heute sicher um Einiges aufnahmefähiger ist als zum Beobachtungszeitraum, so sind die Befunde mehr als ernüchternd. „The ‘German unemployment miracle’ might teach us how to reduce unemployment but not how to increase employment under standard conditions“, bewerten die Forscher ihre Ergebnisse. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Jobboom und steigende Einkommensungleichheit gehen Hand in Hand
Nach all den Jahren des Beschäftigungsaufbaus befindet sich die Einkommensungleichheit immer noch in etwa auf dem Niveau von 2005. Zuvor - seit Anfang der 2000er-Jahre - hatte die Ungleichheit der Haushaltseinkommen stark zugenommen. Während die verfügbaren Einkommen der unteren 40 Prozent der Haushalte inflationsbereinigt sogar gesunken sind, konnten die oberen 10 Prozent überdurchschnittliche Einkommenszuwächse für sich verbuchen.
Ähnlich sieht es beim Lohngefälle zwischen den ArbeitnehmerInnen aus, denn auch die Lohnschere zwischen den verschiedenen Beschäftigtengruppen hat sich geöffnet. In seinem kürzlich veröffentlichten Verteilungsbericht 2017 stellt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fest, dass die Löhne und Gehälter der ArbeitnehmerInnen langfristig auseinanderdriften und somit zunehmend zu einer ungleichen Verteilung
der Einkommen führen. Zu weitgehend gleichlautenden Ergebnissen kommt eine Analyse von Gerhard Bosch und Thorsten Kalina. Danach sind die Bruttostundenlöhne der Beschäftigten bereits zwischen 1996 und 2004 auseinandergedriftet, weil sowohl die Anteile der unteren wie auch der oberen Lohnschichten deutlich angewachsen sind.
Noch beunruhigender ist wohl der Befund, dass der Prozess der Einkommenspolarisierung bei den abhängig Beschäftigten trotz des Jobbooms ab 2005 nicht zum Stillstand gekommen ist. Der Anteil der untersten Lohnschicht (weniger als 60 % des Medianlohns) hatte 2005 bei 17,4 Prozent gelegen, im Jahr 2014 lag er bei 17,3 Prozent. Erst im Jahr 2015 sank er auf 16,3 Prozent. Der Anteil der obersten zwei Lohnschichten (mehr als 120 % des Medianlohns) stieg dagegen von 33,5 Prozent im Jahr 2005 auf 36,3 Prozent in 2015. Damit korrespondierend kam es in dieser Phase zu einem Schrumpfen der mittleren Lohnschicht.
Auch wenn das Lohngefälle auf anderen Ursachen als der bloßen Beschäftigungsentwicklung beruht (Treiber der Ungleichheit sind eher eine abnehmende Tarifbindung und die darin zum Ausdruck kommende Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit sowie die Hartz-Gesetze), so gehen vom Beschäftigungsaufbau jedenfalls kaum positive Impulse auf die Lohnangleichung aus. Auch hier zeigen sich also gravierende qualitative Defizite des Beschäftigungsaufbaus.
Fazit
Die vor allem vom Export getriebene gute konjunkturelle Entwicklung wirkt sich positiv auf die Beschäftigungsentwicklung aus, es gibt mehr und mehr Jobs. Die entstehen aber weiterhin viel zu oft im Bereich der atypischen Beschäftigungsformen. Obwohl im Zuge des Beschäftigungsaufbaus auch wieder vermehrt sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze entstehen, ist es die (oft nicht oder nicht dauerhaft existenzsichernde) Teilzeit, die einen regelrechten Boom erlebt und für das Plus an Arbeitsplätzen maßgeblich verantwortlich ist.
So entpuppt sich das Arbeitsmarktmirakel der vergangenen Jahre größtenteils als gigantische Umverteilungsmaschinerie. Wenn auf immer mehr Erwerbstätige pro Kopf immer weniger Arbeitsstunden entfallen, dann ist Arbeit nicht neu geschaffen, sondern nur umverteilt worden. Das bedeutet, auch weiterhin ist nicht genug Arbeit für alle Erwerbswilligen vorhanden.
Qualitativ betrachtet hat der Jobboom den Arbeitsmarkt nur wenig zum Positiven verändert. Niedriglöhne und die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen sind weiterhin an der Tagesordnung, sie werden bisher nicht zurückgedrängt, die zerstörte Ordnung am Arbeitsmarkt wird nicht wieder hergestellt.
Die qualitativ unzureichende Erholung des Arbeitsmarktes zeigt sich auch beim Abbau der Arbeitslosigkeit. Nur ein geringer Teil der zuvor Arbeitslosen schafft den Sprung in eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung. Die meisten müssen sich mit Teilzeit- und Minijobs begnügen. Da haben viele ihr blaues Jobwunder erlebt und dürften mit Stefan Sell festgestellt haben: „Das deutsche Jobwunder ist schlechter als sein Ruf.“
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.