Interview
Ralf Ptak: »Vor 80 Jahren war die Geburtsstunde des Neoliberalismus«
27. August 2018 | Patrick Schreiner
Ralf Ptak über das »Colloque Walter Lippmann«, das vor genau 80 Jahren in Paris stattfand und als eine Art Gründungstreffen des Neoliberalismus gilt. Ptak ist Professor für Ökonomische Bildung an der Universität Köln.
Ende August 1938 fand in Paris das ▸»Colloque Walter Lippmann« statt. Wer war dieser Mann, und warum hat man nach ihm ein Seminar benannt?
Ralf Ptak: Walter Lippmann war ein 1889 geborener US-amerikanischer Publizist, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beträchtlichen Einfluss auf die politische Meinungsbildung in den USA hatte. Sein Buch »Die öffentliche Meinung«, das jüngst von Walter Ötsch und Silja Graupe auf deutsch neu herausgegeben wurde, gilt als eines der ersten Standardwerke über Publik Relations. Insofern ist Lippmann zweifelsohne als Experte für öffentliche Meinungsbeeinflussung zu bezeichnen, was ihn für den neuen Liberalismus der 1930er Jahre interessant machte.
Lippmann beschäftigte sich vor allem in den 1930er Jahren viel mit wirtschaftlichen Fragen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung, wirkte als Netzwerker grundlegender Debatten, die ihn zunächst nicht als Anhänger eines radikalen Wirtschaftsliberalismus kennzeichneten. Er diskutiert mit John Maynard Keynes, versucht wirtschaftsliberale Gedanken mit der Idee politischer Steuerung zu verknüpfen und sympathisiert zunächst mit der Politik des New Deal der Regierung von US-Präsident Roosevelt. Dann bricht Lippmann mit dieser Politik und nähert sich der Idee eines neuen Liberalismus an, der den Markt für Wirtschaft und Gesellschaft zentral stellen will. In seinem 1937 erschienenen Buch »The Good Society« kritisiert er scharf den planwirtschaftlichen Kollektivismus (den er nun auch bei den Keynesianern aufkommen sieht) und zugleich den Laissez-Faire-Kapitalismus, der zu Monopolen und Vermachtung der Wirtschaft geführt habe.
Mit dieser Offerte eines Dritten Weges und mit seinen publizistischen wie Netzwerk-Fähigkeiten ist Lippmann die geeignete und verbindende Person für das erste internationale Treffen zur Begründung eines neuen Liberalismus, das 1938 in Paris stattfindet.
Warum sprechen wir noch heute über dieses Seminar? Wer war damals dabei?
Ralf Ptak: Schon in den 1920er-Jahren zeichnet sich vor dem Hintergrund des Aufkommens interventionistischer Strömungen in der Wirtschaftstheorie die Herausbildung eines neuen, radikalen Wirtschaftsliberalismus ab. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929-1932 und dem völligen Versagen des wirtschaftsliberalen Mainstreams jener Zeit (der Neoklassik) geraten die marktoptimistischen Denkweisen in Politik und Wissenschaft vollends in die Krise. Auf dem Pariser Treffen ging es nun darum, die verschiedenen Anhänger der Idee eines neuen Liberalismus, der im Anschluss unter dem Begriff Neoliberalismus firmierte, und die verschiedenen Netzwerke zu einem Gesamtnetzwerk zusammenzufügen. Das ist die offizielle Geburtsstunde des Neoliberalismus, der dann mit der 1947 gegründeten Mont Pèlerin Society (MPS) eine institutionelle Ausformung als neoliberaler Internationale erhielt.
An der Pariser Tagung haben mehre regionale Netzwerke teilgenommen: Beteiligt waren die Vertreter der 2. Österreichischen Schule mit Friedrich August von Hayek (dem wichtigsten neoliberalen Protagnisten in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts) und seinem akademischen Lehrer Ludwig von Mises; die deutschen Neoliberalen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow (Walter Eucken war eingeladen, aber konnte nicht ausreisen), die später unter der Bezeichnung Ordoliberalimus firmierten; liberale französische Philosophen um Louis Rougier und Willam Rappard sowie Vertreter der ersten Chicago School um Henry C. Simons (bei dem Milton Friedman promovierte), die maßgeblich die Entwicklung des angelsächsischen Neoliberalismus beeinflussen sollten.
Welche verschiedenen Richtungen des Neoliberalismus haben sich aus dem Teilnehmerkreis in Paris heraus entwickelt, und wie unterschieden sie sich?
Ralf Ptak: Im Großen und Ganzen bildeten sich seit den späten 1930er Jahren zwei Hauptströmungen heraus: Zum einen die angelsächsische Strömung (mit diversen Teilströmungen im Lauf der Zeit) und zum anderen der kontinentaleuropäische Neoliberalismus, der im Wesentlichen mit dem deutschen Neoliberalismus in Gestalt des Ordoliberalismus gleichzusetzen ist. Gemeinsam ist beiden Grundströmungen, dass sie den Markt in das Zentrum von Ökonomie und Gesellschaft stellen und Politik aus dem Feld der Wirtschaft heraushalten wollen. Die Marktwirtschaft gilt als die einzige historische Steuerungsform, die mit dem menschlichen Dasein vereinbar sei, alle anderen Formen – vor allem politische Einflussnahme – enden hiernach in der Bescheidung individueller Freiheit, letztlich in irgendeiner Form von Gewaltherrschaft. Verbindend ist ebenfalls eine Ablehnung des Wohlfahrtsstaats und eine Skepsis bis Feindschaft gegenüber der Parlamentarischen Demokratie, soweit diese fähig und in der Lage ist, auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gesellschaft ernsthaften Einfluss auszuüben.
Obwohl beide Grundströmungen dem Staat eine aktive Rolle bei der Organisation der Marktwirtschaft zuschreiben, geht der deutsche Neoliberalismus dabei weiter. Der Staat gilt hier als »ordnende Potenz« (Walter Eucken), die den Wettbewerb geradezu initiieren und gewährleisten soll. Die US-Neoliberalen hingegen vertreten auch in der Wettbewerbspolitik ein dynamischeres Konzept, das sich auch mit der Existenz von Großkonzernen anfreunden kann, während die Ordoliberalen stets eine vermeintlich dezentrale, auf mittelständische Unternehmen gestützte Wettbewerbswirtschaft favorisieren. Unterschiede gibt es auch im Hinblick auf die Anerkennung der sozialen Frage, die beim Ordoliberalismus deutlicher formuliert wird, aber letztlich auch nur durch marktkonforme Maßnahmen (also nicht sozialstaatliche) gelöst werden soll.
Welche Relevanz haben die damals diskutierten Ideen noch heute?
Ralf Ptak: Der Neoliberalismus hat sich seit seiner Konstituierung 1937 weit ausdifferenziert. Während er bis Mitte der 1970er Jahre lediglich eine intellektuelle Randerscheinung war, konnte er seit den 1980er Jahren die wirtschafts- und sozialpolitische Agenda der westlichen Industriestaaten bestimmen. Auch die Grundzüge der auf Freihandel gestützten Globalisierung sind durch das neoliberale Programm bestimmt. Auch nach der Krise von 2008 hat sich – entgegen vieler Erwartungen oder Hoffnungen – eine an neoliberalen Grundsätzen orientierte Politik fortgesetzt (weitere Privatisierungen und Liberalisierungen, Angriffe auf den Sozialstaat, Schwächung der Gewerkschaften, Zuspitzung sozioökonomischer Ungleichheiten). Diese Politik wird zunehmend durch einen autoritären Rechtspopulismus stabilisiert, der die realen gesellschaftlichen Widersprüche entleert und als ethnisch-religiöse Konflikte auflädt.
Während der deutsche Ordoliberalismus als theoretische Strömung praktisch nicht mehr existiert, sondern vor allem als politisches Instrumentarium auf nationaler und europäischer Ebene fortwirkt (Schuldenbremse, Austerität), ist der angelsächsische Neoliberalismus vor allem im wissenschaftlich-intellektuellen Feld zur bestimmenden Größe geworden. Dazu gehören Richtungen wie die neue Institutionenökonomik, die Verfassungsökonomik oder die Public-Choice-Theorie, die allesamt um die Grundfrage kreisen, wie man staatliches Handeln in der Ökonomie delegitimieren und marktwirtschaftliches Handeln institutionell (und damit alternativlos) absichern kann.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.