Rezension
Wirtschaftswunderland. Eine Abrechnung mit der Wirtschaftspolitik von Gerhard Schröder bis heute
10. Dezember 2018 | Lena Müller
»Wirtschaftswunderland«, das ist ein Titel, der aufhorchen lässt: Das Buch von Kai Eicker-Wolf wirft einen kritischen Blick hinter die glitzernde Fassade des angeblichen deutschen Exportwunders.
Das Grundrezept des neuesten deutschen »Wirtschaftswunders« ist eine Wirtschaftspolitik, die sich durch Deregulierungen, durch zu geringe Lohnsteigerungen und durch ein ideologisches Festhalten am falschen Ideal der Nullverschuldung auszeichnet. Wegweisend hierbei waren die Agenda 2010 und die Leitidee der »schwarzen Null«. Weil Deutschland als vermeintlich gutes Vorbild galt und noch immer gilt, wurde beides nach Ausbruch der Eurokrise den am stärksten von ihr betroffenen europäischen Ländern als »notwendige« Medizin zur Heilung ihrer labilen Volkswirtschaften verschrieben.
Die vermeintlich positive wirtschaftliche Entwicklung des einstigen Sorgenkindes Deutschland, zu Beginn der 2000er Jahre oft als »kranker Mann Europas« bezeichnet, wird dabei jedoch äußerst naiv und unkritisch betrachtet. So wird etwa die gesunkene Arbeitslosigkeit häufig und fälschlicherweise auf die Agenda-Reformen zurückgeführt.
Wie der Titel bereits vermuten lässt, beschreibt Kai Eicker-Wolf in seinem Buch nicht nur ausführlich die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands. Er leistet vielmehr auch und vor allem einen wichtigen Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik Deutschlands seit Anfang der 2000er Jahre. Dazu gibt er einen ausführlichen Überblick über die Schattenseiten des deutschen Wachstumsmodells.
Schattenseiten des »Wirtschaftswunders«
Eine der Schattenseiten des exportorientierten Wachstumsmodells Deutschlands zeigt sich auf europäischer Ebene. Das Land zwang mit hohen Außenhandelsüberschüssen andere Länder im Euroraum zu Außenhandelsdefiziten. Hierin könne eine wesentliche Ursache der oft auf eine reine »Staatsschuldenkrise« reduzierten Eurokrise gesehen werden: Den »Schlüssel zum Verständnis der Eurokrise« (S. 38) sieht Eicker-Wolf in der gesamtwirtschaftlichen Verschuldung, die aus Außenhandelsdefiziten resultierte.
Auf nationaler Ebene ergeben sich durch die Priorisierung internationaler Wettbewerbsfähigkeit zunehmend verteilungspolitische Probleme. Um Exportüberschüsse zu Wachstumsmotoren zu machen, wurden die Lohnstückkosten (zu) niedrig gehalten. Instrumente dafür waren eine unternehmerfreundliche Steuer- und Abgabenpolitik sowie eine drastische Deregulierung des Arbeitsmarktes – Stichworte prekäre Beschäftigung, Niedriglohnsektor, und abnehmende Tarifbindung. Einkommen und Vermögen wurden von unten nach oben umverteilt. Die Staatseinnahmen wurden geschmälert, während man zugleich ausgeglichene Haushalte anstrebte. Armut stieg trotz positiver Beschäftigungsentwicklung an. Die Schere zwischen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen vergrößerte sich, die bereinigte Lohnquote ist heute niedriger als im Jahr 2000.
Diese Entwicklung ist nicht nur ungerecht, sondern sie schwächt auch die effektive Nachfrage der privaten Haushalte – damit bremst sie auch das Wirtschaftswachstum. Zugleich führt sie, so Eicker-Wolf, zu massiven strukturpolitischen Ungleichgewichten.
Resultat: Strukturprobleme
Solche Strukturprobleme, die aus der überzogenen Exportorientierung Deutschlands resultieren, arbeitet Eicker-Wolf im vierten Teil seines Buches heraus. Dabei thematisiert er nicht nur die oft diskutierte Investitionslücke der deutschen Infrastruktur, sondern auch die unzureichende »Bereitstellung von staatlich finanzierten personenbezogenen Dienstleistungen« (S. 75). Er widmet sich insbesondere den Bereichen Bildung sowie Gesundheits- und Sozialwesen. So geht er detailliert auf den Pflegenotstand, auf unzureichende Bildungsausgaben und auf Diskriminierung im Bildungssystem ein. All dies führe zu schwersten Folgen für die Schwächsten einer Gesellschaft. In der Forderung nach einer »aktiven Politik der öffentlichen Hand« (S. 126) sieht Kai Eicker-Wolf zum einen eine Lösung der Strukturprobleme und der damit einhergehenden Unterversorgung in den genannten Bereichen. Zum anderen bestehe darin die Chance einer neuen Binnenmarktorientierung für ein nachhaltigeres und besseres Wirtschaftswachstum. Dies ließe dann auch mehr Raum für soziale und verteilungspolitische Fragen.
Die aktuelle Debatte zur Reform von Harz IV wie auch der jüngste Bundestags-Beschluss zur Lockerung des Kooperationsverbots im Bildungsbereich zeigen: Eine Aufarbeitung der fatalen wirtschaftspolitischen Ausrichtung Deutschlands in den letzten zwei Jahrzehnten ist dringend notwendig. Eicker-Wolf hat dafür einen ersten wichtigen Schritt gemacht. Er liefert grundlegendes Hintergrundwissen (dabei richtet er sich weniger an Laien als an vorinformierte Leserinnen und Leser). Und er verweist auf den dringenden politischen Handlungsbedarf, der sich mittlerweile ergeben hat.
Bibliografische Angaben
Kai Eicker-Wolf: Wirtschaftswunderland. Eine Abrechnung mit der Wirtschaftspolitik von Gerhard Schröder bis heute. Büchner Verlag. 150 Seiten, ISBN 978-3-941310-82-7, 16,00 Euro.
Lena Müller studiert International Economics (M.A.) an der HWR Berlin.