Argentinien vor einem peronistischen Comeback
24. Oktober 2019 | Gerhard Dilger, Martin Ling
Gibt es keine drastischen Verschiebungen in der politischen Stimmungslage mehr, dann dürfte das Duo Fernández/Fernández bereits im ersten Wahlgang die argentinische Präsidentschaftswahl gewinnen. Es wäre eine deutliche Quittung für das erneute Versagen neoliberaler Rezepte, diesmal der Unternehmerregierung Macri.
Mit zwei Paukenschlägen hatten die Herausforderer die politische Szene in diesem Jahr geprägt: im Mai, als Cristina Fernández de Kirchner, die bereits acht Jahre im rosa Präsidentenpalast von Buenos Aires regiert hatte, in einer wohlinszenierten Videobotschaft zur allgemeinen Verblüffung ihren vormaligen Kabinettschef Alberto Fernández als Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen am 27. Oktober ausrief – sie selbst werde nur als Vizekandidatin antreten.
Klug vermied sie es somit, im Wahlkampf im Fokus zu stehen – auf Grund ihrer durchwachsenen zweiten Amtszeit (2011-2015), unzähliger Korruptionsverfahren, einem häufig als arrogant empfundenen Auftreten und einer Außenseiterposition innerhalb ihrer peronistischen Partei (Partido Justicialista, PJ) schien ein Sieg über Amtsinhaber Mauricio Macri so gut wie unmöglich. Es war eine strategische Meisterleistung, Alberto Fernández, der schon unter Néstor Kirchner (2003-2007) Kabinettschef war, den Vortritt zu lassen.
Dem moderaten peronistischen Kandidaten gelang es innerhalb weniger Monate tatsächlich, im Wahlkampfbündnis Frente de Todos (»Front von allen«) – und anders als seinem glücklosen Vorgänger Daniel Scioli vor vier Jahren – nicht nur einen Großteil der PJ hinter sich zu vereinen, sondern auch weite Teile des linksliberalen, in Kleinparteien organisierten Spektrums. Damit setzt er sich als Kandidat der Versöhnung in Szene, dem viele zutrauen, den tiefen Riss durch das politische Establishment wenigstens teilweise zu überwinden.
Dies zeigte sich bei den Vorwahlen am 11. August, die »Alberto« und »Cristina« mit 47,7 Prozent klar gewannen. Nur auf 32,1 Prozent kam der rechtsliberale Amtsinhaber Mauricio Macri mit seiner Wahlkampfallianz Juntos por el Cambio (ein doppeldeutiges »Zusammen für den Wandel«; anknüpfend an den Namen seiner Regierungskoalition Cambiemos, »Ändern wir´s«).
»Am 11. August hat Macri nicht nur eine Wahl verloren, sondern die Macht. Der König stand nackt da«, brachte der linke Journalist Fernando Rosso die Bedeutung dieser Vorwahl auf den Punkt, die diesmal weitaus mehr war als ein Stimmungsbarometer. Der Hauptgrund für die in dieser Höhe unerwartete Niederlage liegt im spektakulären wirtschaftspolitischen Versagen der Regierung.
In Argentinien ist Macris Bonmot vom Juni 2018 präsent: »Wir waren auf einem guten Weg… aber dann sind plötzlich Dinge passiert.« Damit wollte er externe Faktoren für die abrupte Abwertung des Peso ab April 2018 verantwortlich machen, nicht aber die neoliberalen Rezepte, die schon wie unter der Militärdiktatur (1976-1983) und in den 1990ern die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht hatten.
Massenarmut und drohende Staatspleite
Konnten sich Mauricio Macri und sein Manager-Kabinett lange durchaus Hoffnungen auf die Wiederwahl machen, brachen die zentralen wirtschaftlichen Indikatoren seit vergangenem Jahr weg. Die Inflation lag im September 2019 bei 53,5 Prozent jährlich und Banken, die sich bei der Zentralbank frisches Geld beschaffen wollen, müssen dafür mehr als 70 Prozent Zinsen zahlen. Unternehmen gehen reihenweise in Konkurs, es gibt Massenentlassungen, und ein Drittel der Argentinier*innen lebt unter der Armutsgrenze – fast 16 Millionen. Allein 2018 sollen wegen schleppender Konjunktur und starker Inflation etwa 3,4 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht sein.
35,4 Prozent der Argentinier*innen lebten unterhalb der Armutsgrenze, teilte das Nationale Institut für Statistik und Volkszählungen INDEC im September 2019 mit, 8,1 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Laut einer INDEC-Studie ist der Wert des sogenannten Basis-Warenkorbs (canasta básica) 2018 um rund 50 Prozent auf 32.000 Pesos – derzeit rund 530 Dollar – gestiegen, das Einkommen also, das eine vierköpfige Familie benötigt, um statistisch nicht als arm zu gelten. Der Mindestlohn lag im September bei 15.625 Pesos und damit unter 255 Dollar im Monat. Eine Studie der katholischen Universität zeigte schon vor einem halben Jahr, dass 3,4 Millionen Argentinier*innen nur noch einmal am Tag essen.
Im Kampf gegen die Armut – einem seiner zentralen Wahlversprechen – ist Mauricio Macri spektakulär gescheitert. Die Linie der extremen Armut (indigencia) beträgt 12.773 Pesos, das entspricht dem Wert des Grundnahrungsmittelkorbs (canasta básica alimentaria). 2018 mussten 57 Prozent mehr für den Grundnahrungsmittelkorb ausgegeben werden. Bei Macris Regierungsantritt im Dezember 2015 lag dieser Wert noch bei 3.582 Pesos. 2019 hat sich diese Entwicklung fortgesetzt, auch wenn das statistisch noch nicht ausgewertet ist.
Argentinien steckt also wieder einmal in einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise. Eine Reaktion auf diese Krise war der Wechsel des Finanzministers Mitte August: »Was auch immer passiert, wer auch immer die Wahl gewinnt, die Herausforderung besteht darin, das Boot am 10. Dezember ins Dock zu bringen, nicht vorher oder nachher.« Der Satz stammt von Macris aktuellem Finanzminister Hernán Lacunza und die Frage ist tatsächlich, ob das Boot bis dahin nicht schon untergegangen sein wird.
Seit dem 17. August ist Lacunza im Amt: Er soll den neunten staatlichen Offenbarungseid in der Landesgeschichte seit der Unabhängigkeit 1816 abwenden. Ob dies gelingt, liegt in den Händen der Gläubiger. Stimmen sie der von Lacunza Ende August vorgeschlagenen Stundung und Schuldenstreckung nicht zu, ist Argentinien pleite, wiewohl es mangels staatlichen Insolvenzrechts nicht pleitegehen kann und somit in die nächste unregulierte Staats- und Wirtschaftskrise abgleiten würde.
Die aktuelle Krise verschärfte sich Ende August, weil es Lacunza nicht gelang, auslaufende Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit neu zu finanzieren und er deswegen längere Laufzeiten ins Spiel brachte. Das hoch verschuldete Land will sich damit finanziell Luft verschaffen. Es geht um Staatsanleihen bei privaten Investoren sowie um Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Gesamtwert von rund 100 Milliarden Dollar.
Der IWF lässt seinen Liebling Macri noch nicht fallen. IWF-Sprecher Gerry Rice: »Wir verstehen, dass die Regierung diesen Schritt getan hat, um für Liquidität zu sorgen und die Reserven zu schützen. Wir stehen in diesen herausfordernden Zeiten an der Seite von Argentinien.«
Das Verständnis hat einen handfesten Grund: Der IWF hatte Argentinien 2018 einen Bereitschaftskredit in der Rekordhöhe von 57 Milliarden Dollar gewährt, als die Landeswährung Peso stark abwertete. Der Kurs war seinerzeit von etwa 20 Pesos für den Dollar auf mehr als 40 Pesos gefallen. Das war eine Folge der sich beschleunigenden Kapitalflucht. Die Inflation schoss in die Höhe. Es war Macris Geschäftsfreund Donald Trump, der den IWF zum Eingreifen aufforderte und bei IWF-Chefin Christine Lagarde auf aktive Unterstützung traf. Von den 57 Milliarden Dollar sind schon 80 Prozent ausbezahlt worden.
Die Regierung Macri setzte unter dem damaligen Finanzminister Nicolás Dujovne große Teile des IWF-Kredits für Stützungskäufe des Peso ein, konnte damit die Abwertung aber nur verlangsamen. Nach Macris klarer Niederlage bei der Vorwahl geriet der Peso abermals unter Druck und wertete von 45 bis auf 60 Pesos für den Dollar ab.
Inzwischen zeigen die von der Regierung am 1. September eingeführten Kapitalverkehrskontrollen Wirkung: Die langen Schlangen vor den Banken sind fürs Erste passé. Diese hatten sich selbst nach dem an einem Sonntag verhängten Dekret zur Devisenkontrolle noch die ersten Tage gebildet. Auch der Verfall des argentinischen Peso ist vorerst gestoppt. Gut 60 Pesos müssen inzwischen für einen US-Dollar berappt werden.
Weil der Regierung die Devisen ausgingen, verhängte sie am 1. September, einem Sonntag, ein Dekret, wonach große Exporteure künftig eine Erlaubnis der Notenbank für den Kauf von Fremdwährungen und zur Überweisung von Devisen ins Ausland einholen müssen. Für Privatpersonen, die die US-Währung erwerben wollen, gilt künftig eine monatliche Obergrenze von 10.000 Dollar (rund 9.100 Euro).
Damit hat Macri einen drastischen Kurswechsel vollzogen. 2015 hatte er versprochen, die »von der Vorgängerregierung bevorzugten Kontrollen aufzugeben.« Die Maßnahmen seien nötig, um »den Devisenhandel intensiver zu regulieren und das normale Funktionieren der Wirtschaft zu stärken«, heißt es nun in dem Dekret.
Gleich nach seinem Amtsantritt im Dezember 2015 hatte er mit der Freigabe des Wechselkurses, der Aufhebung der Agrarexportbesteuerung beziehungsweise der Senkung beim Soja, der Abschaffung der Steuern auf den Bergbau, eine erste Liberalisierungswelle eingeleitet. Die von ihm versprochene Flut bei Neuinvestitionen haben sie nicht ausgelöst. Eine »Revolution der Freude« hatte er im Wahlkampf ausgerufen. Stattdessen kam im Juni 2018 der IWF nach Argentinien zurück, wo er zu Recht einen denkbar schlechten Ruf hat.
Die neoliberalen Neunziger und die Krise von 2001/2002
Unter dem Rechtsperonisten Carlos Menem (1989-99) hatte sich Argentinien sklavisch an die Vorgaben des IWF gehalten. Die Einfuhrzölle wurden minimiert; Unternehmensgewinne wurden niedriger besteuert als in den USA; die Mehrwertsteuer, die alle zahlen, wurde massiv erhöht; das Land gab Anleihen zu hohen Renditen aus, um Kapital anzulocken. Davon profitierten die Anleger, dafür zahlte der argentinische Durchschnittsmensch die Zeche.
Trotz steigender Zinszahlungen verweigerte der IWF im Dezember 2001 die Auszahlung einer weiteren Kredittranche, was der Auslöser der Zahlungsunfähigkeit und der größten Staatspleite der Nachkriegszeit war.
Millionen argentinische Sparer*innen verloren große Teile ihrer Guthaben. Unvergessen die dramatischen Weihnachtstage, als mehr als die Hälfte der argentinischen Bevölkerung in die Armut abrutschte und der politischen Klasse auf den Straßen die Parole Que se vayan todos (»Sie sollen alle abhauen«) entgegengeschmettert wurde. Binnen weniger Tage gaben sich damals fünf Präsidenten die Klinke der Casa Rosada in die Hand, erst ab der Regierungsübernahme von Néstor Kirchner im Mai 2003 beruhigte sich die Lage wieder.
Seither gilt der IWF jenseits der Oberschicht als kollektives Feindbild. Kirchner zahlte 2005dank eines Kredits von Venezuelas damaligem Präsidenten Hugo Chávez sämtliche IWF-Schulden vorzeitig zurück, fast zehn Milliarden Dollar, um wieder eigenständig Wirtschaftspolitik machen zu können.
Kein Wunder also, dass selbst Macri 2018 der symbolträchtige Gang zum IWF nicht leichtfiel. Doch ohne den IWF-Kredit sah er kein Land, auch weil die Zinswende in den USA den Schuldendienst Argentiniens 2018 mächtig erhöht hatte. Aus 30 Milliarden Dollar, die anfänglich beim IWF angefragt wurden, wurden im September schließlich 57 Milliarden. Die Bedingung: Bereits im Jahr 2020 sollte ein ausgeglichener Primärhaushalt (ohne Schuldendienst) zwischen Staatseinnahmen und -ausgaben erreicht werden.
Erinnerungen an die zivil-militärische Diktatur
Argentiniens Krise kam mit Ansage. Wie schon die Schergen des Militärregimes von 1976 bis 1983 wollte Macri mittels Deregulierung und Auslandsverschuldung Wachstum generieren – erfolglos. Während der Diktatur wurde unter dem Wirtschaftsminister José Alfredo MartÃnez de Hoz auf Deregulierung und Liberalisierung gesetzt und die Auslandsverschuldung hoch getrieben. Hatte 1976 die Staatsverschuldung 9 Milliarden US-Dollar betragen, so erreichte sie sieben Jahre später 46 Milliarden US-Dollar.
Laut Berichten der Weltbank wurden 44 Prozent der zwischen 1976 und 1983 aufgenommenen Schulden dazu genutzt, die Kapitalflucht zu finanzieren, 33 Prozent, um die Zins- und Tilgungsraten bei den ausländischen Banken abzubezahlen und 23 Prozent wurden in Importe von Waffen und nicht registrierten Waren investiert. Auch die Deindustrialisierung setzte unter den Militärs ein, die mit einem überbewerteten Wechselkurs Waffenkäufe verbilligten und argentinische Industrieexporte erschwerten.Macris wirtschaftspolitisches Konzept ähnelt dem der Militärs. Zu allem Überfluss hielt er sich nicht einmal an die Vorgabe der Defizitreduzierung, die mit der Deregulierung und der Privatisierung den Dreiklang der neoliberalen Entwicklungsblaupause des sogenannten Konsens von Washington bildet, wie er seit Ende der 80er vom IWF und der Weltbank propagiert wird.
Stattdessen schlug das sogenannte Zwillingsdefizit ins Kontor: 2018 überstiegen Argentiniens Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit jeweils 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In der darauf folgenden Wirtschafts- und Finanzkrise stieg die Staatsverschuldung steil auf fast 90 Prozent des BIP an – das sind 334 Milliarden US-Dollar. Drei Viertel der Ausstände sind in ausländischen Währungen denominiert, rund 100 Milliarden Dollar hat allein die Regierung Macri an neuen Auslandsschulden aufgenommen.
Die Zinsen und Tilgungsraten müssen dafür über Überschüsse im Außenhandel erwirtschaftet werden. Gelingt das wie derzeit nicht, muss das Loch durch neue Kredite gestopft werden, womit wieder der Verschuldungsgrad steigt. Ein Ausdruck davon ist der Wertverfall des Peso. Ein anderer die Kapitalflucht, die in der Ära Macri seit Ende 2015 bereits auf annähernd 75 Milliarden Dollar beziffert wird.
Viel Spielraum wird Argentiniens neuer Präsident, der am 10. Dezember ins Amt eingeführt wird, nicht haben. Nicht zuletzt sorgt US-Präsident Donald Trump mit seinen Handelskonflikten für eine Eintrübung der globalen Konjunktur, die Argentinien eine Exportoffensive auf dem Weltmarkt erschweren dürfte, die wiederum als Teil einer Revitalisierungsstrategie unverzichtbar wäre.
Mehr als Sojaexport ist möglich
»Argentinien braucht als Schwellenland und Nahrungsmittelproduzent Handelsregeln, damit es ohne Barrieren und protektionistische Maßnahmen exportieren kann. Wenn China und die USA sich streiten und die Welthandelsorganisation zerstören, ist das für uns sehr riskant. Hinzu kommt, dass Chinas Strafzoll auf Soja aus den USA den Preis drückt – und das schadet uns«, sagt Gustavo IdÃgoras, Präsident der Industrie- und Exportkammer in Argentinien.
Die oft verbreitete Auffassung, dass Argentiniens Wirtschaftswachstum allein an hohen Preisen für seine Agrarexporte, insbesondere Soja, abhängt, ist indes falsch. In der Amtszeit von Néstor Kirchner hatte Argentinien schon vor dem ab 2006 einsetzenden Sojaboom hohe Wachstumsraten, die vor allem auf der Revitalisierung der argentinischen Wirtschaft beruhten. Der 2010 verstorbene Kirchner stellte die Weichen für den bis 2012 fast ununterbrochen anhaltenden Wirtschaftsaufschwung, insbesondere durch eine radikale Umschuldung der Auslandsschulden zu Lasten der privaten Gläubiger und eine Politik der strategischen Unterbewertung des Pesos, die der Wettbewerbsfähigkeit der argentinischen Exporte zu Gute kam.
Neben den schnell steigenden Sojaexporten ab 2006 und dem hohen privaten Konsum waren es vor allem die Autoindustrie und die Telekommunikations- und Softwarebranche, die Argentiniens Wirtschaft antrieben. Roberto Lavagna, 2019 zentristischer Präsidentschaftskandidat ohne Gewinnaussichten (bei den Vorwahlen kam er auf 8,2 Prozent), hatte als Wirtschaftsminister von 2002 bis 2005 den Grundstein für diese wirtschaftliche Entwicklung gelegt. Ihm zufolge habe die Politik der Kirchnersdie Weichen Zug um Zug falsch gestellt. Sowohl die Haushaltsdisziplin als auch die Inflationsbekämpfung seien nach seinem Weggang aufgegeben worden. »2005 wiesen wir noch ein Plus im Haushalt von 16 Milliarden Dollar auf.«
Diese Zeiten sind längst passé, Defizite hinterließ auch die Regierung von Cristina Fernández de Kirchner 2015. Damit fehlten die Mittel, um Investitionen zu tätigen. Macri flüchtete in die Auslandsverschuldung und hinterlässt nun einen riesigen Schuldenberg.
Keine Zukunft ohne Umschuldung
Sicher ist: Eine Umschuldung ist die Voraussetzung, ohne die ein wirtschaftlicher Neuanfang in Argentinien nicht vorstellbar ist. Unter Néstor Kirchner wurden im Januar 2005 die Staatsanleihen umstrukturiert, indem die notleidenden Staatsanleihen in neue Anleihen umgetauscht wurden. Damit wurde eine neue Etappe in der langen Geschichte der staatlichen Verschuldung Argentiniens eingeleitet. Das Ergebnis des Umtauschs war ein Rückgang der Staatsschulden um 55 Milliarden US-Dollar, d. h. von rund 180 Milliarden US-Dollar auf 125 Milliarden US-Dollar. Jetzt sind es 334 Milliarden Dollar.
Alberto Fernández hat mehrfach erklärt, dass die Schulden neu verhandelt werden müssen. Denn sonst werden erneut die Armen und die Mittelschicht die Zeche zahlen. Die erste Tranche des historischen IWF-Kredits von Mitte 2018 wird 2020 fällig: Nicht weniger als 24 Milliarden Dollar muss das Land dann zurückzahlen, 2021 dann weitere 31 Milliarden.
Wohin geht die Reise?
Die unvermeidliche Umschuldung spielt auch in den programmatischen Aussagen von Alberto Fernández und Cristina Fernández de Kirchner eine große Rolle. Mitte Oktober stellte eine Arbeitsgruppe der peronistischen Partei ein 118-Seiten-Papier vor, das sich als Erweiterung der Wahlkampfplattform des Frente de Todos vom Juni versteht. »Unser Land braucht einen neuen Sozialvertrag, um die durch die Politik der Cambiemos-Regierung ausgelöste tiefe Krise zu überwinden, die seit dem Ankommen mit dem IWF gefestigt wurde«, hieß es da bereits.
Nun will Alberto Fernández mit seinem Team die Grundfunktionen des Staates wiederherstellen, den Binnenmarkt zu stimulieren, die Rolle staatlicher Unternehmen auch bei der Rohstoff-Förderung von Gas und Lithium stärken, um so eine wirtschaftliche Erholung einzuleiten. Hinzu käme ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen, um die soziale Krise in Angriff zu nehmen.
Besonders heraus sticht dabei die Initiative »Argentinien gegen den Hunger« hervor, die Alberto Fernández »ab dem 28. Oktober« zusammen mit einem breiten Bündnis umsetzen möchte, mit kirchlichen Gruppen, linken Basisorganisationen bis hin zum Agromulti Syngenta, der ein Prozent seiner Produktion spenden will.. »Es ist mir egal, woher sie kommen oder was sie denken, machen wir das wenigstens einmal zusammen«, rief Fernández bei der Vorstellung der Initiative, »Cristina und ich vertreten jene, denen es schlecht geht, die Ärmsten der Armen«.
In der ersten TV-Debatte zwischen den sechs Präsidentschaftskandidaten sprach er sich zudem klar für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs aus, die vergangenes Jahr nach starkem kirchlichem Druck noch knapp am Senat gescheitert war. Diese Positionsverschiebung ist der massiven Frauenbewegung zu danken, die die argentinische Gesellschaft gerade voranbringt. Dennoch wird allgemein erwartet, dass Papst Franziskus, der in scharfer Opposition zur Macris neoliberalem Kurs stand, sein Heimatland nach dem Wahlsieg der Peronist*innen besuchen wird.
Eine Abkehr vom exportorientierten extraktivistischen Wirtschaftsmodell kommt aber auch nach einem Regierungswechsel nicht in Frage, die Perspektive einer sozialökologischen Transformation fehlt den Peronisten völlig. Umweltpolitik ist für sie kein Thema, ebenso wenig eine Politik für die indigenen Völker, die Hauptleidtragenden von Rassismus und Raubbau an der Natur.
Das argentinische Präsidialsystem weist dem Zwei-Kammer-Parlament nach US-amerikanischem Vorbild eine sekundäre Rolle zu; außerdem haben die oft konservativen Gouverneure, die an einem guten Draht zur Zentralregierung interessiert sind, einen großen Einfluss auf »ihre« Abgeordneten und Senator*innen, Fraktionszwang gibt es aber nicht. So konnte beispielsweise Mauricio Macri selbst ohne eigene Parlamentsmehrheit komfortabel regieren.
Noch besser sind die Aussichten für Alberto Fernández: Da die wahrscheinliche Vizepräsidentin und derzeitige oppositionelle Senatorin Cristina Fernández de Kirchner gleichzeitig dem Senat vorsteht, darf mit einer professionellen Arbeitsteilung zwischen dem moderaten Präsidenten und der Linksperonistin gerechnet werden, die wie schon unter dem kirchnerismo mit auch mit rechten peronistischen Gouverneuren trefflich zusammenarbeiten werden. Doch anders als im vorherigen Jahrzehnt, als die Rohstoffpreise boomten, gibt es wenig zu verteilen, und nichts deutet darauf hin, dass sich die künftige Regierung mit den Reichen anlegen will.
Die nichtperonistische, systemkritische Linke formiert sich vor allem in der trotzkistischen Frente de Izquierda y de los Trabajadores (»Links- und Arbeiterfront«). Kandidat Nicolás del Caño schlägt sich wacker und dürfte auf ähnliche Werte kommen wie vor vier Jahren (3,3 Prozent), dazu ziehen wahrscheinlich wieder einige FIT-Politiker*innen ins Abgeordnetenhaus ein (derzeit 3 von 257). Auf der jüngsten Demonstration für Klimagerechtigkeit in Buenos Aires zeigten parteipolitisch nur Trotzkist*innen Flagge, doch viele Mitglieder linker Basisorganisationen setzen pragmatisch auf Fernández-Fernández.
Hoffnungssignal für Lateinamerika
Was bedeutet ein peronistischer Sieg in Argentinien für ganz Lateinamerika? Nach dm Triumph von Andrés Manuel López Obrador in Mexiko im Juli 2018 zunächst ein weiteres wichtiges Signal, dass die Progressiven das Siegen noch nicht verlernt haben. Außenpolitisch will man an die selbstbewussten und zugleich pragmatischen Positionen des kirchnerismo anschließen, der ja bei der Verhinderung der Gesamtamerikanischen Freihandelszone 2005 im argentinischen Mar del Plata eine zentrale Rolle gespielt hat. Auch die lateinamerikanische Integration, die von Rechts torpediert wird, soll wieder vorangetrieben werden.
Doch in den vergangenen Jahren haben sich die politischen Koordinaten auf dem Kontinent radikal nach rechts verschoben, und in Mexiko sieht man gerade, wo die Grenzen sozialdemokratischer Realpolitik heute liegen. Immerhin scheint Argentinien weitgehend immun gegen rechtsextreme Tendenzen wie in Brasilien, auch wenn fundamentalistische Pfingstkirchen auch hier auf dem Vormarsch sind. Demonstrativ hat Alberto Fernández vor einiger Zeit Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva im Gefängnis besucht, und er setzt sich für eine Verhandungslösung in Venezuela ein.
Vom so genannten Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) wird in Südamerika wohl kaum jemand außer dem Agrobusiness profitieren, Alberto Fernández hat sich kritisch geäußert. Daher bekommt die Europäische Kommission auf der Gegenseite endlich einen ernstzunehmenden Verhandlungspartner, der Ratifizierungsprozess dürfte sich komplizierter gestalten als geplant.
Der Artikel erschien zuerst bei der ▸Rosa-Luxemburg-Stiftung. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Gerhard Dilger leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires.
Martin Ling ist Auslandsredakteur des neuen deutschland.