Keineswegs "ungerecht": Warum "Besserverdienende" die meisten Einkommen-Steuern zahlen
27. September 2012 | Patrick Schreiner
Auf Forderungen nach höheren Steuern auf hohe Einkommen antworten Arbeitgeber- und Unternehmerverbände, bürgerliche Parteien und der unsägliche "Bund der Steuerzahler" gerne mit einem altbekannten, aber irreführenden Argument: Schon heute, behaupten sie, würden die "Besserverdienenden" für einen Großteil des Steueraufkommens sorgen – eine noch höhere Besteuerung sei daher unfair. Tatsächlich aber gab es in den vergangenen Jahren massive Steuersenkungen, die nicht nur zu drastischen Kürzungen in den öffentlichen Haushalten geführt, sondern – aufgrund der Entlastungswirkungen vor allem für "Besserverdienende" – auch bestehende Ungerechtigkeiten im Steuersystem verstärkt haben. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in Parteien, Öffentlichkeit und Medien Forderungen nach Steuererhöhungen und mehr Steuergerechtigkeit immer lauter werden. Dies betrifft nicht nur, aber auch die Einkommensteuer. Es lohnt sich daher, das oben genannte Argument gegen höhere Steuern auf hohe Einkommen ein wenig genauer anzusehen. - Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
Eine schnelle und einfache Internet-Recherche genügt, um dieses Argument in den verschiedensten Varianten wiederzufinden:
(1) Homepage der FAZ, Artikel vom 10.10.2007:
Die einkommensstärksten zehn Prozent der Bevölkerung bestreiten mehr als die Hälfte der Einnahmen aus der Einkommensteuer. [...] Dagegen trug die untere Hälfte der Einkommensbezieher [...] nicht einmal 8 Prozent zum Einkommensteueraufkommen bei.
(2) Homepage des Manager Magazin, Artikel vom 25.08.2008:
Eine Minderheit kommt in Deutschland für den Großteil der Einkommensteuer auf.
(3) Herausgeber Josef Joffe auf der Homepage der Zeit, Artikel vom 01.09.2011:
Lasst die 'Reichen' in Ruhe. Die oberen zehn Prozent bezahlen schon die Hälfte der Steuern.
(4) Web-Forum auf finanzfrage.net:
Ich finds unverschämt, diejenigen, welche für einen Großteil des Steueraufkommens sorgen, noch mehr zu schröpfen.
(5) Web-Forum des FDP-Bundesverbands:
Wer in Deutschland für einen Großteil des Steueraufkommens sorgt, sind die Gutverdiener.
(6) Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (Ex-SPD) am 26.09.2012 im Handelsblatt:
[...] zum Gesamtbild gehört dann auch die Feststellung, dass die oberen zehn Prozent der Einkommen fast die Hälfte des Steueraufkommens zahlen, die obere Hälfte der Steuerpflichtigen sogar für fast 94 Prozent aufkommt.
Es sind im Wesentlichen zwei aktuellere Veröffentlichungen, auf die sich diejenigen stützen, die dieses Argument vorbringen: Zum einen eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2008 sowie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW aus dem gleichen Jahr. Zudem gab es vergleichende Veröffentlichungen regelmäßig auch schon in den Jahren zuvor. Wir können davon ausgehen, dass es auch in Zukunft immer wieder ähnliche Veröffentlichungen und – darauf folgend – ähnliche Debatten geben wird. Die Grundaussage dieser Texte ist in der Tat, dass die Einkommensteuerzahlungen in Deutschland sehr ungleich verteilt sind: Ein kleiner Teil der Steuerzahlenden bestreite einen Großteil dieses Steueraufkommens.
Dies kann aber nicht wirklich überraschen und ist auch alles andere als ungerecht:
Einkommensteuer-Aufkommen ist nicht Gesamt-Steueraufkommen!
Erstens wird in der politischen Debatte häufig das Einkommensteueraufkommen mit dem Gesamtsteueraufkommen verwechselt. Die Zitate 3-6, die ich oben aufgeführt habe, zeigen das sehr anschaulich. Gerade für einen Zeit-Herausgeber und für einen Ex-Wirtschaftsminister ist es peinlich, solche einfachen Zusammenhänge nicht zu erkennen. Das vom Statistischen Bundesamt und vom DIW beschriebene Ungleichgewicht bezieht sich nämlich ausschließlich auf die Einkommensteuer. Deren Anteil an allen Steuereinnahmen aber betrug beispielsweise 2010 in Deutschland lediglich 36,3 Prozent. Dem stehen Steuern gegenüber, die überproportional von Menschen mit geringen Einkommen bezahlt werden: etwa Umsatzsteuer, Energiesteuer und Tabaksteuer. Solche so genannten indirekten Steuern beliefen sich 2010 zusammen auf 49,7 Prozent des Gesamtsteueraufkommens (Abbildung 1). Dies relativiert die angeblich hohen Steuerzahlungen der "Besserverdienenden" deutlich.
Abbildung 1: Steueraufkommen in Deutschland 2010. Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen.
Gesamtsteueraufkommen ist nicht die einzige Einnahmequelle des Gemeinwesens!
Zweitens tätigen öffentliche Ausgaben in Deutschland nicht nur der Bund, die Länder und die Kommunen, sondern auch die Sozialversicherungen – die gesetzliche Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung. Sie finanzieren sich über Beiträge der Versicherten. Eine Versicherungspflicht besteht aber nicht für alle gesellschaftliche Gruppen. So erfasst sie beispielsweise nicht die Selbständigen und die freiberuflich Tätigen, die in vielen Fällen über sehr hohe Einkommen verfügen. Bei entsprechend hohen Einkommen können sich "Besserverdienende" zudem der Kranken- und Pflegeversicherungspflicht entziehen.
Für die verbleibenden Versicherten wird der Versicherungsbeitrag individuell als Prozentsatz des sozialversicherungspflichtigen Bruttolohns erhoben. Der zu zahlende Betrag ist dabei für hohe Einkommen gedeckelt: Auf Einkommensanteile, die die so genannte Beitragsbemessungsgrenze übersteigen, werden keine Sozialversicherungsbeiträge erhoben. Wenn sie also überhaupt gesetzlich versichert sind, so zahlen "Besserverdienende" relativ zu ihrem Einkommen nur einen geringen Betrag. In der gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung liegt die Beitragsbemessungsgrenze 2012 bei 67.200 Euro jährlich (West) bzw. 57.600 Euro (Ost). In der Kranken- und Pflegeversicherung liegt sie 2012 bei 45.900 Euro jährlich. Auch wenn es verfassungsrechtliche Gründe für diese Deckelung geben mag, so ändert es doch nichts an dem Umstand, dass sie hohe und sehr hohe Einkommen deutlich bevorteilt.
Gerade Menschen mit hohen Einkommen zahlen relativ wenig Einkommensteuer!
Drittens relativiert sich die angeblich hohe Steuerzahlung der "Besserverdienenden", wenn man sich vor Augen führt, dass gerade sie die zu erbringende Einkommensteuer besonders gut kleinrechnen können. So ist anzunehmen, dass die effektive Einkommensteuer-Belastung vor allem für mittlere und höhere Einkommen hoch ist, nicht aber für sehr hohe Einkommen. Das DIW schreibt in seiner Pressemitteilung, bezogen auf seine oben genannte Studie:
Die 450 Deutschen mit dem höchsten Einkommen zahlten im Jahr 2002 durchschnittlich 34 Prozent Einkommensteuer und damit deutlich weniger als den gesetzlichen Steuersatz.
Ähnliche Ergebnisse zeigen auch die Zahlen des Statistischen Bundesamts. Ihnen zufolge gab es 2004 insgesamt 9688 "Euro-Millionäre" mit einem Durchschnittseinkommen von 2,7 Millionen Euro. Sie bezahlten darauf einen Durchschnittssteuersatz von lediglich 35,8 Prozent. Auch dies lässt auf besonders ausgeprägte Möglichkeiten schließen, die eigenen Steuerverpflichtungen kleinzurechnen. Hier wäre, um mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, neben höheren Steuersätzen insbesondere auch an die Streichung von Abschreibungs- und Steuergestaltungsmöglichkeiten zu denken.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang zudem auch, dass gerade Kapitaleinkünfte - etwa Zinsen, Dividenden, Veräußerungsgewinne - in Deutschland seit der Einführung der so genannten Abgeltungssteuer 2009 besonders gering besteuert werden: Während Arbeits- und sonstige Einkommen einer progressiven, also mit zunehmender Höhe wachsenden Besteuerung unterliegen, ist die Besteuerung der Kapitaleinkommen bei 25 Prozent plus Solidaritätszuschlag gedeckelt. Gerade hohe Einkommen aber sind häufig Kapitaleinkommen, so dass dies zusätzlich zu einer Entlastung hoher Einkommen führt. Hier wäre, um mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, die Abgeltungssteuer abzuschaffen, so dass Einkünfte jeglicher Art gleich behandelt werden.
Ungleichverteilung der Einkommensteuer hängt von Ungleichverteilung der Einkommen ab!
Viertens lässt sich die Tatsache, dass das Einkommensteueraufkommen in absoluten Zahlen insbesondere von "Besserverdienenden" erbracht wird, schlicht auf die ungleiche Einkommensverteilung zurückführen. Dies ist aus meiner Sicht der wichtigste, aber leider der in der öffentlichen Debatte am meisten ausgeblendete Aspekt: Die Höhe der Einkommensteuer-Zahlung jedes Menschen ist unmittelbar von der Höhe seines Einkommens abhängig. Wenn die Einkommensverteilung sehr ungleich ist, dann gilt dies entsprechend für die Verteilung der Einkommensteuer-Zahlungen. Denn während auf der einen Seite sehr viele Menschen gar kein oder nur sehr geringe Einkommen haben, gibt es auf der anderen Seite wenige Menschen mit sehr hohen Einkommen. Erstere bezahlen entsprechend weniger oder gar keine Steuern, letztere hingegen werden stärker belastet. Und wenn die Ungleichverteilung bei den Einkommen zunimmt, wird entsprechend auch die Ungleichverteilung bei den Einkommensteuerzahlungen zunehmen.
Ich will dies an einem vereinfachenden Beispiel-Modell aufzeigen. In einem Staat sei idealtypisch Folgendes gegeben:
- Die Währung heißt Euro.
- Der Steuer-Freibetrag beträgt 600 Euro, ab einem Einkommen von 601 Euro greift die Einkommensteuer.
- Die zu entrichtende Einkommensteuer (Grenzsteuersatz) beträgt anfangs 15 Prozent und steigt anschließend linear an.
- Ab einem Einkommen von 4501 Euro greift der Spitzensteuersatz von 50 Prozent.
- Es gibt keinerlei Abschreibungs- und Steuergestaltungsmöglichkeiten.
- Die Einwohnerzahl beträgt 20 Personen.
- Das zu verteilende Gesamteinkommen beträgt 100.000 Euro.
Ich will im Folgenden fünf Szenarien beschreiben. Jedes Szenario beruht auf einer bestimmten Verteilung des Gesamteinkommens von 100.000 Euro auf die 20 Bürgerinnen und Bürger dieses Beispiel-Staates.
- Szenario 1, "Gleichheit": Alle Bürgerinnen und Bürger erhalten das gleiche Einkommen von 5.000 Euro. Der Gini-Koeffizient (Maßzahl für die Ungleichverteilung) beträgt 0,0. Das Verhältnis des Einkommens der 10 reichsten Prozent zu den zehn ärmsten Prozent beträgt 1,0.
- Szenario 2, "Eher Gleichheit": Die Einkommen steigen (von arm nach reich) langsam an, beginnend ab 2000 Euro und endend beim Maximum von 9.000 Euro. Der Gini-Koeffizient beträgt dabei 0,24, das Verhältnis der 10 reichsten Prozent zu den zehn ärmsten Prozent beträgt 4,3. (Das heißt: Die zehn reichsten Prozent der Bevölkerung verdienen im Durchschnitt das 4,3-fache der ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung.)
- Szenario 3, "Eher Ungleichheit": Die Einkommen steigen schneller an, beginnend ab 1.000 Euro und endend beim Maximum von 27.000 Euro. Der Gini-Koeffizient beträgt dabei 0,52, das Verhältnis der 10 reichsten Prozent zu den zehn ärmsten Prozent beträgt 19,5.
- Szenario 4, "Hohe Ungleichheit": Die Einkommen steigen noch schneller an, beginnend ab 1.000 Euro und endend bei 45.000 Euro. Der niedrige 1.000-Euro-Bereich ist deutlich größer als in Szenario 3. Der Gini-Koeffizient beträgt dabei 0,69, das Verhältnis der 10 reichsten Prozent zu den zehn ärmsten Prozent beträgt 33,0.
- Szenario 5, "Ungleichheit": 19 Bürgerinnen und Bürger haben ein Einkommen von 500 Euro, eine Person hat ein Einkommen von 90.500 Euro. Der Gini-Koeffizient beträgt dabei 0,86, das Verhältnis der 10 reichsten Prozent zu den zehn ärmsten Prozent beträgt 91,0.
Die Einkommensverteilung in den fünf Szenarien sieht wie folgt aus:
Abbildung 2: Einkommensverteilung in fünf Szenarien. Quelle: eigene Beispielrechnungen.
Deutlich wird in Abbildung 1, dass meine fünf Szenarien auf einer Zunahme der Ungleichverteilung von Einkommen beruhen. Während in Szenario 1 noch vollständige Gleichverteilung gegeben ist, nimmt die Ungleichheit mit jedem weiteren Szenario zu. In Szenario 5 ist schließlich eine fast vollständige Ungleichverteilung erreicht.
Wie verhält es sich aber nun mit der Entwicklung der Verteilung von Einkommensteuer-Zahlungen? Wenig überraschend nimmt mit jedem Szenario auch der Anteil der Zahlungen zu, die von den Bürgerinnen und Bürgern mit den höchsten Einkommen zu erbringen sind:
Abbildung 3: Einkommens- und Steueranteil der obersten 30 Prozent in den fünf Szenarien bei progressiver Besteuerung. Quelle: eigene Beispielrechnungen.
Im Szenario 1 "Gleichheit" beträgt der Anteil des Einkommensteuer-Aufkommens der obersten 30 Prozent noch genau 30 Prozent. Dies überrascht nicht: Da es keine Ungleichverteilung der Einkommen gibt, gibt es eigentlich schlicht keine "obersten" 30 Prozent – alle bezahlen die gleichen Steuern. Je größer aber in den weiteren Szenarien der Anteil der obersten 30 Prozent an den Gesamteinkommen ist (blauer Balken), desto größer ist auch deren Steuerzahlung (roter Balken). Auch dies überrascht nicht wirklich.
Das gleiche Phänomen lässt sich auch beobachten, wenn man nicht die obersten 30 Prozent der Einkommen heranzieht, sondern lediglich die obersten zehn Prozent:
Abbildung 4: Einkommens- und Steueranteil der obersten zehn Prozent in den fünf Szenarien bei progressiver Besteuerung. Quelle: eigene Beispielrechnungen.
In den beiden Abbildungen 3 und 4 wird deutlich: Je ungleicher die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind, desto ungleicher sind auch die Einkommensteuerzahlungen verteilt. Dies ist keineswegs ungerecht, sondern gerecht und politisch auch ausdrücklich gewünscht: Diejenigen, die über höhere Einkommen verfügen, können und sollen einen größeren Beitrag zum Gemeinwesen leisten. Und sie tun dies automatisch in einem immer größeren Ausmaß, wenn die Ungleichheit in einer Gesellschaft zunimmt.
Auffällig ist, dass in beiden Abbildungen ab Szenario 2 ("Eher Gleichheit") der rote Einkommensteuer-Balken größer ist als der blaue Einkommen-Balken. Während beispielsweise in Szenario 4 ("Hohe Ungleichheit") die obersten zehn Prozent 66,0 Prozent der Einkommen erhalten, sorgen sie für 81,1 Prozent der Einkommensteuer-Aufkommens.
Diese Differenz ist nur in geringerem Umfang durch die Progression bei der Einkommensteuer zu erklären. (Bei einer progressiven Einkommensteuer steigt mit zunehmendem Einkommen auch der Grenzsteuersatz an. Je höher das Einkommen, desto höher fällt entsprechend der zu bezahlende Steuersatz in Prozent aus.) Eine deutliche Differenz zwischen Anteil am Steueraufkommen und Anteil an der Einkommenssumme ergibt sich vielmehr auch dann, wenn auf alle Einkommen oberhalb des steuerfreien Existenzminimums ein einheitlicher Steuersatz von 25 Prozent erhoben wird. Abbildung 4 sieht dann wie folgt aus:
Abbildung 5: Einkommens- und Steueranteil der obersten zehn Prozent in den fünf Szenarien bei einheitlichem Steuersatz von 25 Prozent. Quelle: eigene Beispielrechnungen.
Auch hier ist der rote Einkommensteuer-Balken größer ist als der blaue Einkommen-Balken. Der Grund hierfür ist das steuerfreie Existenzminimum, das niedrige Einkommensanteile sowie untere Einkommen von der Besteuerung verschont. Dieser Effekt wird nicht zufällig auch als "indirekte Progression" bezeichnet. Das steuerfreie Existenzminimum ist der einzige verbleibende Faktor, der geringere und mittlere Einkommen relativ begünstigt, wenn man die eigentliche Progression ausblendet. Allerdings würde auch seine (verfassungsrechtlich ohnehin nicht mögliche) Abschaffung am Grundprinzip nichts ändern, dass Menschen mit höheren Einkommen auch höhere Einkommensteuer bezahlen. Die Abschaffung des steuerfreien Existenzminimums würde lediglich dafür sorgen, dass der Anteil der "Besserverdienenden" an der Einkommensteuer exakt ihrem Anteil an den Einkommen entspräche (sofern man Abschreibungs- und Steuergestaltungsmöglichkeiten, die stets Besserverdienende bevorteilen, wie in meinem Modell vernachlässigt).
Schlussfolgerungen
Der Umstand, dass das Einkommensteuer-Aufkommen überwiegend von einem vergleichsweise kleinen Teil der Bevölkerung getragen wird, hat seine Ursache also schlicht in der ungleichen Verteilung der Einkommen. Führen wir den Grundgedanken der eingangs aufgeführten Argumentation vor dem Hintergrund meiner Ausführungen konsequent zu Ende: Wer kritisiert, dass "Besserverdienende" einen höheren Anteil am Einkommensteuer-Aufkommen beitragen, als es zahlenmäßig ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht, der müsste konsequenterweise die Höhe der individuellen Einkommensteuerzahlung vom tatsächlichen Einkommen abkoppeln. Die Abschaffung der Steuerprogression, die Abschaffung des Grundfreibetrages oder die Senkung der oberen Einkommensteuer-Sätze alleine würde nicht genügen, wie ich gezeigt habe. Ein absoluter Fixbetrag an zu begleichender Einkommensteuer völlig unabhängig vom eigenen Einkommen wäre die Folge.
Im Jahr 2010 hätte dieser in Deutschland für alle Einwohnerinnen und Einwohner, vom Baby bis zum arbeitsunfähigen Greis, von der Reinigungskraft im Bahnhofsklo bis zu Josef Ackermann zu bezahlende Betrag 2354,53 Euro betragen – sofern man das gleiche Einkommensteueraufkommen erzielen wollte, wie es tatsächlich mit gegebenem Steuerrecht erzielt wurde. Dass eine solche "Kopfsteuer" nicht nur verteilungspolitisch verheerend und politisch nicht durchsetzbar, sondern auch verfassungsrechtlich völlig ausgeschlossen wäre, versteht sich von selbst. Schließlich gibt es gute Gründe dafür, dass erstens "Besserverdienende" auch höhere Steuern bezahlen und zweitens Menschen ohne Einkommen oder mit geringem Einkommen keine Steuern bezahlen müssen. Gleichwohl aber zeigt dieses Gedankenexperiment sehr schön, wes beschränkten Geistes Kind die eingangs beschriebene Argumentation ist.
Und doch ist es eine gefährliche Argumentation. Gefährlich vor allem auch, weil sie empirisch immer mehr "Recht" zu bekommen scheint, je ungleicher die Einkommen in Deutschland zukünftig verteilt sind. Schließlich ist davon auszugehen, dass die Einkommensungleichheit weiter zunimmt – und damit auch der Anteil, den die "Besserverdienenden" zum Gesamtaufkommen der Einkommensteuer beitragen.
Der Text erschien in einer überarbeiteten und gekürzten Fassung zuerst in Lunapark21, Ausgabe 18/2012. Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.