Märchen aus der Deutschen Bank (2): Wachstum durch Sozialabbau und Kürzungen
20. Mai 2012 | Patrick Schreiner
Die Debatten um die Bekämpfung der Eurokrise drehen sich in jüngster Zeit vermehrt um das Wachstum. In der Frage allerdings, wie Wachstum zu erzielen sei, gibt es zwei gegensätzliche Grundkonzeptionen. Hinter ihnen steht im Kern der Gegensatz von Angebotspolitik und Nachfragepolitik. Erstere will "Strukturreformen" und "Sparmaßnahmen", letztere eine Stärkung der Nachfrage etwa durch Investitionsprogramme oder auch höhere Löhne und Staatsausgaben. Deutsche Bank Research hat sich in jüngster Zeit mit zwei Veröffentlichungen wenig überraschend auf die Seite der Angebotspolitik gestellt. Anliegen der Texte ist es, in der Eurokrise Wege zu mehr Wachstum aufzuweisen. Die hierfür vorgeschlagenen Instrumente aber sind genau jene, die schon in der Vergangenheit zu Krise und Verelendung geführt haben. Ich analysiere hier den zweiten der beiden Texte. Sein Schwerpunkt liegt im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und vor allem der Haushaltspolitik.
Die Veröffentlichung von Deutsche Bank Research (DBR) mit dem Titel "Wachstum und Sparmaßnahmen im Euroraum" erschien am 10. Mai in der Reihe "Research Briefing Europäische Integration". Geschrieben wurde sie von Thomas Mayer und Jochen Möbert. Zur anderen DBR-Veröffentlichung habe ich einen eigenen Artikel verfasst.
Die aktuelle Krise wird im neoliberalen Mehrheits-Diskurs von weit rechts bis weit in die Sozialdemokratie hinein in erster Linie als Staatsschuldenkrise interpretiert. Wer von dieser Annahme ausgeht, wird folgerichtig Kürzungen der Staatsausgaben und damit den Abbau sozialer Sicherheit als Mittel der Wahl ansehen. Da mittlerweile auch die Marktradikalen erkannt haben, dass die extremen Leistungsbilanz-Ungleichgewichte in Europa ein Problem sind, werden diese vermeintlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Staatsschuldenkrise um angebliche Maßnahmen zur Steigerung der "Wettbewerbsfähigkeit" ergänzt. Damit wiederum geht ein zusätzlicher Abbau sozialer Sicherheit einher, verbunden etwa auch mit Lohnsenkungen und "Reformen" am Arbeitsmarkt.
Wer eine solche Austeritätspolitik verfolgt, hat aber ein Problem: Sie ist komplett wachstumsfeindlich. Sie führt zu einem Einbruch der Wirtschaftsleistung betroffener Länder, was wiederum zu einem Einbruch der Steuereinnahmen und einer Erhöhung der Ausgaben führt. Die Neuverschuldung wird dadurch nicht zurückgeführt, sondern steigt weiter an. Dies lässt sich derzeit in den Krisenstaaten des Euroraums geradezu beispielhaft beobachten. Am Beispiel Griechenlands habe ich diesen Vorgang kürzlich etwas genauer untersucht.
Nun hängt, wenig überraschend, auch Deutsche Bank Research der eben beschriebenen neoliberalen Ideologie von einer Staatsschuldenkrise an, die durch Kürzungen und Sozialabbau bekämpft werden müsse. Wenn aber die tatsächlichen Ergebnisse dieser Politik nicht so recht zu den eigenen Überzeugungen passen wollen, so gibt es zwei Wege: Entweder man verwirft seine Ideologie, oder man interpretiert die Realität um. Mayer/Möbert gehen in ihrer Publikation – wie viele andere auch – den zweiten Weg, allerdings mit bescheidenem Erfolg. Ich will dies im Folgenden an einigen Punkten deutlich machen.
Kern der Uminterpretation à la Mayer/Möbert ist die Annahme, man habe es im Grunde in zweifacher Weise mit einer Vertrauenskrise zu tun:
- Mit Zweifel an der Fähigkeit der Krisenstaaten, ihre Staatsdefizite und ihr Leitungsbilanzdefizite zu reduzieren.
- Mit Zweifel an der Wirksamkeit der europäischen Bemühungen, die Krise in den Griff zu bekommen.
Mayer/Möbert bringen die Kategorie des "Vertrauens" als zentrales Gegenargument gegen nachfragepolitische Annahmen ins Spiel. Ich zitiere und kommentiere:
Vertrauen ist notwendig, damit die Unternehmen investieren, die Banken Kredite vergeben und die Verbraucher konsumieren. Wenn die privaten Haushalte, die Banken und die Unternehmen kein Vertrauen haben, hat eine Erhöhung des Staatsverbrauchs und der staatlichen Investitionen bestenfalls vorübergehend Auswirkungen auf das Wachstum.
Auf diese Weise wollen Mayer/Möbert ihre These untermauern, dass Austeritätspolitik und Wachstum kein Gegensatz seien. Was sie hier nur übersehen, ist, dass Kürzungspolitik und Sozialabbau Vertrauen gerade nicht schaffen, sondern unterminieren. Denn sie führen zu einem Einbruch der Wirtschaft. Wenn eine Wirtschaft permanent zurückgeht, wie die griechische seit fünf Jahren, dann wird kein Unternehmen investieren, keine Bank Kredite vergeben und kein Privathaushalt ausreichend konsumieren. Volkswirtschaftliche Nachfrage bricht noch weiter ein, was zum weiteren Rückgang der Wirtschaft führt – ein Teufelskreis. In einer solchen Situation ist der Wachstumseinbruch eben nicht, wie Mayer/Möbert behaupten, "vorübergehend", sondern dauerhaft. Selbstverständlich ist es langfristig nicht ausreichend, wenn alleine der Staat Nachfrage generiert. Es ist aber durchaus notwendig, dass er dies dauerhaft tut, um damit Sicherheit und Vertrauen in das Funktionieren einer Volkswirtschaft zu schaffen und Unternehmen, Banken sowie Privathaushalte zu eigenem expansiverem Verhalten anzuregen. Nur der Staat kann den eben beschriebenen Teufelskreis durchbrechen.
Mayer/Möbert tun aber so, als könne man abstrakt in irgendeiner Form "Vertrauen" schaffen, um die volkswirtschaftlichen Akteure zu einem expansiveren Verhalten anzuhalten. Wie das beispielsweise in Spanien geschehen soll, wo Banken ebenso völlig überschuldet sind wie Privathaushalte, ist und bleibt ein Rätsel. Vertrauen kann dort nicht zu mehr Kreditvergaben und mehr Konsum führen, da Staat, Banken und Privathaushalte ihre Überschuldung zurückführen wollen (und im Fall der Banken und Privathaushalte auch müssen).
Dennoch ist das Argument des fehlenden "Vertrauens" ein aus neoliberaler Sicht geschicktes und auch außerhalb von Deutsche Bank Research häufig gebrauchtes. Es ermöglicht nämlich allen empirischen Fakten zum Trotz, eine offensichtlich gescheiterte Politik als richtig und angemessen zu behaupten. Dies tut es, indem es den Blick auf vermeintliche Ursachen der Krisen lenkt, die aber allenfalls periphere Begleiterscheinungen der tatsächlichen Ursachen sind. Vermeintliche Ursachen, auf die dann mit den bekannten neoliberalen Rezepten reagiert werden soll – Staatsquote senken, Kürzungspolitik, Sozialabbau, Flexibilisierung am Arbeitsmarkt und so weiter.
Interessanterweise – und wohl wenig überraschend – verheddern sich Mayer/Möbert aber selbst in Widersprüche beim Versuch, einen Ausweg aus der (Vertrauens-) Krise zu beschreiben. Ihre Uminterpretation der Realität scheitert, denn es gelingt ihnen nicht, die Realität an die eigene Ideologie anzupassen. Sie vergleichen im mittleren Teil ihres Textes die Krisenreaktions-Politik in Spanien und Italien miteinander, um Schlussfolgerungen über angemessene Krisenmaßnahmen zu ziehen. Damit wollen sie zeigen, welche wichtige Rolle das "Vertrauen" angeblich spielt.
- In Spanien sehen Mayer/Möbert das, im Vergleich zu Italien, "ehrgeizigere" Programm zur Haushaltssanierung, auch habe das Land "umfassendere Arbeitsmarktreformen" vorgenommen. Deutliche Haushaltskürzungen gehen mit einer drastischen Verschlechterung der Situation von Beschäftigten einher.
- Italien hingegen hat in Mayers/Möberts Augen auch unter Monti kein solch ehrgeiziges Programm vorgelegt – und dies, obwohl die Schuldenstandsquote des Landes sehr viel höher liegt. Die Haushaltskürzungen in Italien fallen weniger drastisch aus als die Spaniens, der Kündigungsschutz wurde nur leicht gelockert, Zeitarbeit sogar eingeschränkt.
Eigentlich müsste, folgt man Mayer/Möbert und der gängigen neoliberalen Ideologie, Spanien das Land sein, dem die Märkte mehr Vertrauen entgegenbringen. Mayer/Möbert aber müssen unter dem durchaus angemessenen Verweis auf die Entwicklung der Renditen von Staatsanleihen feststellen:
Dennoch hegen die Märkte offensichtlich mehr Vertrauen in Italien als in Spanien.
Das passt nun aber so überhaupt nicht in das Bild, das sie vorher von angemessenen Maßnahmen zur Schaffung von Vertrauen gezeichnet haben. Schließlich hat Spanien doch angeblich sehr viel mehr richtig gemacht als Italien. Als Erklärung hierfür – und als verfälschenden Faktor –haben sie die "Kommunikation" der beiden Regierungen zur Hand:
Die unterschiedliche Wahrnehmung Italiens und Spaniens an den Märkten ist unseres Erachtens in gewissem Umfang auf die Kommunikation der beiden Regierungen zurückzuführen. Die Regierung Monti konnte am Markt ein gewisses Vertrauen schaffen, indem sie die Stärken ihrer wirtschaftspolitischen Maßnahmen betonte und die Schwächen überging; die Regierung Rajoy hat dagegen in zwei wichtigen Bereichen Schwierigkeiten.
(Auf den Umstand, dass hier uralte und unschöne Vorurteile gegenüber Italienerinnen und Italienern hervorgekramt werden, will ich zumindest kurz hingewiesen haben.)
Für eine ökonomische Analyse entscheidend ist, dass Mayers/Möberts Feststellung fundamental der Behauptung widerspricht, durch eine neoliberale Haushalts- und Arbeitsmarktpolitik lasse sich Vertrauen schaffen, das im Weiteren zu Wachstum führe. Ganz offensichtlich wird Vertrauen durch jene Politik, die derzeit als Lösung der Krise verkauft und umgesetzt wird, eben gerade nicht befördert. Auf "Kommunikation" der Regierungen zu verweisen, ist eine Ausflucht, die von den tatsächlichen Umständen ablenkt: Im konkreten Fall dürfte der geringere Vertrauensgewinn in die Politik Spaniens eher darauf zurückzuführen sein, dass die immer schädliche Austeritätspolitik dort derzeit größeren Schaden anrichtet als in Italien.
Obwohl sie eben noch empirisch das Gegenteil bewiesen haben, halten Mayer/Möbert an ihrer Behauptung fest, dass sich Vertrauen durch Austeritätspolitik schaffen lasse, was wiederum zu Wachstum beitrage. Als Maßnahmen zur Förderung von Vertrauen nennen sie unbeirrt folgende:
- Verringerung der Staatsdefizite in den betroffenen Ländern
- "Strukturreformen" in den betroffenen Ländern
- Entwicklung eines "konsistenten und kohärenten" "Krisenmanagement-Regimes" auf europäischer Ebene
- Mehr "disziplinierenden Einfluss" des "Markt[es]" auf nationale Haushaltspolitik
Als ob nicht genau eine solche Politik zu den Schwierigkeiten geführt hätte, unter denen Europa derzeit leidet. Und als ob die von Mayer/Möbert selbst beschriebenen Beispiele Italien und Spanien ihrer These nicht fundamental widersprechen würden. Aber genau deshalb ist dieser Text lesenswert und aufschlussreich: Er zeigt geradezu idealtypisch, was die Ideologinnen und Ideologen an den Schalthebeln der Macht derzeit falsch machen. Und er zeigt geradezu idealtypisch, welche ideologischen Verrenkungen notwendig sind, um eine solche Politik zu rechtfertigen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.