Interview
Alexandra Staub: »Wer Boden besitzt, hat jeden Grund, keine politischen Unruhen zu wollen«
25. Januar 2023 | Sigrun Matthiesen
Die Architekturwissenschaftlerin Alexandra Staub hat untersucht, wie das Eigenheim in der Nachkriegs-BRD zum Wohntraum gemacht wurde. Sie ist Professorin für Architektur an der Penn State University (USA) und beschäftigt sich seit längerem mit der Ideologie und Wirklichkeit des Einfamilienhauses in Deutschland wie den USA.
Spätestens seit »Babylon Berlin« haben wir wieder vor Augen, wie schrecklich eng vor allem arme Menschen in den 1920er Jahren gewohnt haben und dass es in den Großstädten massive Wohnungsnot gab. Aber wie haben kleine Beamte, Kaufleute und die Mittelschicht in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg gewohnt, auch in den Kleinstädten und auf dem Land?
Staub: Interessanterweise hat das Statistische Bundesamt bis in die 1950er Jahre hinein Bauernhäuser von anderen Wohneinheiten getrennt erfasst. Es gab also ein ländliches Wohnen und ein städtisches – die Vorort-Idee existierte noch nicht. In den Städten war die Arbeiterschicht besonders von der Wohnungsnot betroffen. Während der großen Industrialisierung, als viele Landarbeiter in die Städte zogen, entstanden in Deutschland ja auch die überbelegten Mietskasernen, wo Familien beengt wohnten und oft noch Schlafgänger aufnahmen.
Von 1928 bis 1959 befasste sich eine internationale Organisation der europäischen Architekturmoderne, die CIAM (Internationale Kongresse Moderner Architektur), auf theoretische Weise mit der Wohnungsnot. In dieser Zeit entstand auch erstmals der Gedanke, durch Hochhäuser die Wohnungsnot zu lösen. In Deutschland gab es in den 1920er Jahren konkrete Versuche, neuen und besseren Wohnraum für Arbeiter zu schaffen. Das Bauhaus, das von 1919 bis 1933 existierte, widmete sich unter anderem dieser Aufgabe. In Berlin waren Bruno Taut und Martin Wagner, in Frankfurt die Gruppe um Ernst May und Margarete Schütte-Lihotzky wichtige Akteure. Diese Teams errichteten durchdachte Wohnsiedlungen mit maximal viergeschossigen Gebäuden, meistens im Zeilenbau sowie Reihenhäuser. Die neuen Wohnungen hatten normalerweise keine Wohnküche mehr, wie in der Arbeiterschicht üblich, sondern eine Nutzküche mit getrenntem Wohnzimmer. Dies entsprach den neuen Ideen von Sauberkeit und Hygiene, deutet aber auch auf den Wunsch hin, die Arbeiterkultur umzugestalten. Die Mietwohnungen erwiesen sich schlussendlich als zu teuer für Arbeiterfamilien, somit zogen oft Beamte der Mittelschicht ein.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Städte zerstört, es kamen Geflüchtete dazu, und damit war die Wohnungsnot noch größer. Was waren die baupolitischen Gegenstrategien in der BRD?
Staub: Erst mal galt es, überhaupt Wohnraum zu schaffen. Das Statistische Bundesamt zählte in einer Erhebung von 1950 Nissenhütten, Gartenlauben, ausgebombte Gebäude und Ähnliches noch als Wohnraum. Um den Wohnungsbau anzukurbeln, wurde deshalb das Erste Wohnungsbaugesetz 1950 als finanzielles Instrument verabschiedet. Baupolitisch gab es in den 1950er Jahren zwei Richtungen. Ein Teil der Architektenschaft wollte an radikale Ideen der 1920er Jahre anknüpfen. Sie strebten an, durch Hochhäuser viel Wohnraum mit wenig Bodenverbrauch zu schaffen, wobei Platz für großzügige Parklandschaften blieb. Also Wohnungen mit viel Licht und Luft zu schaffen, was ja als erstrebenswert galt. Die zweite Richtung sah das Einfamilienhaus, genannt »Familienheim«, als ideale Wohnform vor, was durch das Zweite Wohnungsbaugesetz 1956 festgeschrieben wurde. In den Bundestags-Debatten dazu spürt man einen deutlichen Druck, mittels des Einfamilienhauses die Ideologie der patriarchalen, kinderreichen »Normalfamilie« zu fördern. Das Einfamilienhaus bot auch Platz für einen Garten, also das Ländliche im Miniformat, weil das ländliche Wohnen immer noch als das gesündeste galt. Das war, glaube ich, auch spezifisch deutsch: dieser Wunsch, auch ländliche Werte ein bisschen in die Städte reinzubringen.
Schaut man sich die deutsche Gartenstadt-Bewegung der Jahrhundertwende an, sieht man wie konservativ dieser Gedanke sein konnte. Theodor Fritsch, einer der großen deutschen Gartenstadtplaner, sah die Gartenstädte als Mittel dazu, gesellschaftliche Ordnung zu schaffen und die Bevölkerung mit dem Boden zu verankern. Die Siedlungen, die er plante, waren hierarchisch organisiert. Im Zentrum waren der Bürgermeister, der Arzt und der Pastor, mit besseren Häusern. Die Arbeiter wohnten einfacher und am Rande. Das war in England mit dem Gartenstadtplaner Ebenezer Howard konzeptionell ganz anders. Hier wurden Siedlungen mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Verbundenheit geplant, also aus einem egalitäreren sozialen Gedanken heraus.
Das Nazi-Regime hatte die Diffamierung des Urbanen und die Idealisierung des Landlebens ja auch erfolgreich weiter propagiert. So war es vermutlich kein Wunder, dass zehn Jahre später die Adenauer-Regierung immer noch das kleine Landleben in der Stadt favorisierte.
Staub: Ja, in den Debatten zum Zweiten Wohnungsbaugesetz haben besonders die CDU-Abgeordneten immer wieder betont, man müsse doch die Bevölkerung mit Grund und Boden verbinden. Dabei waren große Teile dieser unbehausten Bevölkerung Flüchtlinge aus dem Osten. Was muss man da verankern? Sie waren ja schon hierher geflüchtet und brauchten keine Überredung, um sich mit dem Boden zu verbinden. Ich glaube, dass es auch politisches Kalkül war. Das Zweite Wohnungsbaugesetz hat zu forcieren versucht, dass die Leute kaufen, also Boden besitzen, und nicht mieten oder pachten. Wer Boden besitzt, will keine politischen Unruhen mehr. Wer sich mit Rasenmähen und dergleichen beschäftigen muss, hat wenig Zeit, sich in der Kneipe zu politisieren.
Für die Architekturmoderne, die sich aus den 1920er Jahren überhaupt noch hatte herüberretten können, gab es also keine großen Fürsprecher mehr?
Staub: Die Großen der Baumoderne waren während der Nazizeit fast alle geflüchtet. Die Gruppe um Ernst May ist zunächst nach Russland gegangen. May ging dann nach Kenia, bevor er 1953 nach Deutschland zurückkehrte. Viele der Bauhaus-Großen, zum Beispiel Mies van der Rohe, Walter Gropius und Marcel Breuer, gingen in die USA. Interessanterweise wurde hier die Hochhausmoderne, ästhetisch gesehen, als Wahrzeichen für Corporate America genutzt, also als Architektur-Sprache der großen Firmen.
Die USA beeinflussten in dieser Zeit ihrerseits aber auch die deutsche Wohnungsbaupolitik. Das war mir vollkommen neu, bis ich es in einem Aufsatz von Ihnen gelesen habe.
Staub: Ich habe für mein erstes Buch (»Conflicted Identities: Housing and the Politics of Cultural Representation«) auch in den US-Archiven zu den Marshallplan-Programmen, die mit Deutschland zu tun hatten, recherchiert. Leider ist nicht alles aufbewahrt worden, aber genug, dass ich sagen kann: Es ging um mehrere Aspekte. Erstens wollten die USA ein stabiles Westeuropa und in Deutschland einen stabilen politischen, aber auch wirtschaftlichen Partner. Dabei standen auch Möglichkeiten für die eigenen Firmen im Vordergrund, wie es ja bis heute überall in der Entwicklungshilfe passiert. Zweitens kannten die Leute in den Marshallplan-Behörden die hochpolitischen 1920er-Jahre-Debatten um die deutsche Wohnungsbaureform offensichtlich nicht.
In den USA ermöglichten nach dem Zweiten Weltkrieg finanzielle Instrumente wie die »G.I. Bill« vielen (zumindest weißen) Familien, ihr eigenes Haus in einer Vorortsiedlung zu kaufen. Viele jüngere Leute wollten ja Familien gründen, nachdem der Krieg solche Pläne ausgebremst hatte. Die Häuser in den neuen Siedlungen waren für heutige Verhältnisse recht bescheiden, aber dennoch etwas Eigenes. Für die amerikanische Wirtschaft entstand die Möglichkeit, massenweise Konsumgüter zu verkaufen: Jedes Haus brauchte eine Waschmaschine, einen Staubsauger, Spielsachen für den Garten und vieles mehr. Studien belegen, wie in den USA der Häuser-und-Haushalt-Konsum forciert wurde und zu einem Wirtschaftsboom führte. Aus dieser Erfahrung heraus versuchten die Amerikaner, ein ähnliches Muster nach Deutschland zu exportieren und das Haus als immer zu erneuernden Konsumtempel zu definieren.
Welche konkreten Möglichkeiten sah der Marshallplan denn vor, um die BRD-Baupolitik in diesem Sinne zu beeinflussen?
Staub: In der frühen Nachkriegszeit gab es für Industriearbeiter oft keinen Wohnraum in der Nähe der Arbeitsstelle. Im Rahmen der »Economic Cooperation Administration« (ECA) des Marshallplans bot die US-Regierung im Jahre 1950 deutschen Gemeinden die Möglichkeit, sich für ein Wohnsiedlungsprogramm zu bewerben. 15 Städte wurden ausgewählt. Alle mussten ein entsprechendes Areal zur Verfügung stellen, wobei diese fast alle am Stadtrand lagen.
In einem zweiten Schritt wurden Architekturwettbewerbe ausgerufen, bei denen deutsche Architekten Konzepte für diese Viertel entwickeln sollten. Es galt, bessere Wohnformen möglichst günstig zu bauen. Und, was ungewöhnlich war, die Wettbewerbsteilnehmer mussten auch einen Finanzierungsplan einreichen, mit einer Garantie, dass, wenn sie ausgewählt wurden, sie auch zu diesen Kosten bauen würden. Gefordert wurden Siedlungen mit Einfamilienhäusern, was die Baukosten natürlich erhöhte. Bemerkenswert ist, dass diese Hervorhebung des Einfamilienhauses als angestrebte Wohnform mit Hilfe der Amerikaner schon 1950 stattfand, also sechs Jahre vor dem Zweiten Wohnungsbaugesetz.
Um Kosten niedrig zu halten, waren die geplanten Reihenhäuser im Schnitt nur circa 50 Quadratmeter groß. Aber selbst das erwies sich als zu teuer, und letztlich befanden sich circa zwei Drittel der geforderten Wohneinheiten in Mehrfamilienhäusern. Diese sahen allerdings ästhetisch oft wie große Einfamilienhäuser aus, mit Lochfassaden und Steildach.
Die ECA-Wettbewerbe sollten zeigen, wie man billiger und auch besser bauen konnte. Grundrisstechnisch war bei den Einfamilienhäusern auf 50 Quadratmetern allerdings nicht viel Innovation zu bieten. Die Architekten haben aus der Not heraus schon ein paar Skurrilitäten versucht, wie zum Beispiel eine Badewanne in der Küche.
Dann gab es noch das Bauprogramm der »Mutual Security Agency« (MSA) für Bergarbeiter, also eine wirklich proletarische Zielgruppe. Wie sah das in der Praxis aus?
Staub: Bergbau war ein Industriezweig, der als sehr wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der BRD angesehen wurde. Wohnungen für die Bergleute fehlten, so finanzierte im Rahmen des Marshallplans 1953–1955 das MSA-Programm neuen Wohnraum. Das MSAProgramm wurde von Soziologen wissenschaftlich begleitet. Die Bergleute wurden gefragt: »Wollt ihr lieber mieten oder kaufen?« Die meisten wollten ein freistehendes Haus mieten und nicht kaufen. Schlussendlich wurden aber Reihenhäuser zum Kauf angeboten, also wieder eine Behausungsform der Mittelschicht. Da die Hypothek für das Haus fast doppelt so teuer war wie die Miete für eine vergleichbare Wohnung, führten viele der Hausbesitzer:innen kleine Betriebe weiter oder nahmen Mieter:innen auf, wie es in der Arbeiter:innenkultur der Vorkriegszeit üblich gewesen war.
Gespeist aus deutscher wie US-Tradition leben wir nun seit rund 70 Jahren mit Einfamilienhaussiedlungen und allem, was dazugehört: den Autos, den Konsumzwängen, der Vereinzelung. Im Jahr 2022 wissen wir, das ist alles überhaupt nicht nachhaltig – aber jeder Abriss wäre auch eine Ressourcenverschwendung. Was also tun mit dieser vorhandenen Eigenheim-Bausubstanz?
Staub: Natürlich habe ich keine schnelle Lösung parat, aber ich glaube, es gibt ein paar Ansatzmöglichkeiten. Häuser können für neue Bewohner-Generationen radikal umgebaut werden. Siedlungen könnten durch Neubauten verdichtet werden, auch ließe sich weitere Infrastruktur einbringen. Umbauten sollen energie- und klimatechnisch konzipiert sein, nach Möglichkeit mit Passivmitteln. Baumaterialien sollen wiederverwertbar und abbaubar sein, mit möglichst kurzen Transportwegen. Auch brauchen wir eine ordentliche Verkehrsinfrastruktur, damit Leute, wenn sie irgendwo im Vorort wohnen, schnell in die nächste Stadt können, auch ohne Auto. Schon 1964 gab es eine groß angelegte Studie zur Verkehrsplanung in Deutschland im Zusammenhang mit den damals neuen Wohnsiedlungen. Viele gute Ideen wurden einfach ignoriert, weil sie politisch nicht erwünscht waren. Stattdessen entstanden Instrumente wie die Pendlerpauschale, und ich frage mich, ob das in Deutschland irgendwann mal abgeschafft wird.
Eins betone ich immer: dass man mit den Leuten, für die man baut, neue Konzepte entwickeln muss, auch wenn das Zeit und Mühe kostet. Die Baubranche arbeitet oft noch nach Kriterien, die rein männlich und durch Wirtschaftsinteressen geprägt sind. Wir müssen verstehen lernen, wer unsere gebaute Welt bewohnt und belebt: also Frauen, Kinder, ältere Menschen sowie Migrant:innen, die ja seit Jahrzehnten einen wesentlichen Teil der deutschen Gesellschaft ausmachen. Ein solches Umdenken wäre für mich ein wichtiges Stück Nachhaltigkeit.
Das Interview erschien zuerst in OXI 1/2023 (OXI-Webseite: ▸https://oxiblog.de/oxi-abo/ ). Wir danken für die Genehmigung dieser Zweitveröffentlichung. Auf Deutsch sind Alexandra Staubs Forschungsergebnisse unter anderem hier nachzulesen: Hnilica, Sonja/Timm, Elisabeth (Hg.): »Das Einfamilienhaus«, Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2017.
Sigrun Matthiesen ist Diplom-Journalistin und arbeitet derzeit vor allem als Redakteurin für "OXI - Wirtschaft anders denken".