Altersarmut: Anmerkungen zum beschwichtigenden „Gutachten“ des BMWi
20. Dezember 2012 | Patrick Schreiner
Es ist bisweilen schon erstaunlich, welch simple Textzusammenstellungen zu „Gutachten“ geadelt werden – und welchen Niederschlag in Medien und Öffentlichkeit solche Machwerke erhalten können. Jüngstes Beispiel: Die Verlautbarungen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie zur Altersarmut. „Alles nicht so schlimm“, lässt sich die Grundaussage des Textes zusammenfassen. Es lohnt sich, den Text ein wenig genauer anzusehen. - Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
Seit mindestens dem sommerlichen Vorstoß von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zur drohenden Altersarmut ist letztere ein breit diskutiertes Thema. Und obwohl es jede Menge weiterer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten gibt, scheint sich die Diskussion auf das Thema Altersarmut zu konzentrieren. Es kann daher nicht überraschen, wenn das BMWi und sein neoliberal zusammengesetzter Beirat ausgerechnet hiergegen schießen. Ähnliches gilt für das Themenfeld Armut/Reichtum, hier hat die Bundesregierung – wohl auf Betreiben vor allem des Bundeswirtschaftsministers Philip Rösler (FDP) – jüngst den ersten Entwurf für den 4. Armuts- und Reichtumsbericht deutlich abgeschwächt und entschärft. Das aktuelle „Gutachten“ zur Altersarmut und die faktische Zensur des Armuts- und Reichtumsberichts zielen in die gleiche Richtung: Beschwichtigung angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit und Armut in Deutschland. Wolfgang Lieb hat Recht, wenn er auf den Nachdenkseiten hinter diesen Aktivitäten der Bundesregierung das Motto erkennt: "Es kann nicht sein, was nicht sein darf".
Die „Ergebnisse“ des „Gutachtens“ zur Altersarmut, das eigentlich eher den Charakter einer Programmschrift trägt, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Altersarmut ist derzeit kein „drängendes Problem“, von einigen sozialen Gruppen abgesehen.
- Wenn Altersarmut zukünftig zu einem Problem wird, so nicht wegen der zurückliegenden Rentenreformen, sondern wegen „negativer Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt“.
- Die meisten der derzeit diskutierten Lösungsvorschläge, etwa auch von der Leyens Vorschläge, sind teuer und nutzlos.
Erstaunlich ist durchaus, wie sehr – und auf welch unkritische Weise – die Medien auf dieses aktuelle „Gutachten“ zur Altersarmut angesprungen sind (die nachfolgend genannten Daten beziehen sich auf die Angaben auf den Webseiten):
Die Legende von den armen Alten
(Frankfurter Rundschau, 18. Dezember, auf der Webseite trägt der Artikel allerdings den weniger reißerischen Titel "Armut im Alter steigt nur wenig". Vermutlich wurde er im Nachhinein geändert, denn in der URL ist der ursprüngliche Titel noch enthalten.)
Jeder Dritte fürchtet Altersarmut - zu Unrecht
(Die Welt, 18. Dezember)
Gutachten: Altersarmut kein akutes Problem
(Hamburger Abendblatt, 19. Dezember)
Experten sehen in Altersarmut kein Problem
(Tagesschau.de, 18. Dezember)
Erfundener Gegner
Erstaunlich ist dieses große Medieninteresse vor allem deshalb, weil das „Gutachten“ weder nennenswert Neues zu berichten hat noch in seinen Berechnungen transparent ist.
Dies beginnt schon damit, dass der Text Argumente widerlegt, die weitgehend frei erfunden sind. Dass Altersarmut (restriktiv definiert im Sinne eines Einkommens unter der Grundsicherung im Alter) heute kein Massenphänomen darstellt, ist völlig richtig, das wurde aber von gewerkschaftlicher oder linker Seite auch nie anders behauptet. Soweit ich das überprüfen konnte, hat auch von der Leyen im Zusammenhang mit Altersarmut immer von einem in erster Linie zukünftigen Problem gesprochen. Wenn das „Gutachten“ mehrfach an prominenter Stelle „widerlegt“, dass es heute massenhafte Altersarmut (im Sinne eines Einkommens unter der Grundsicherung im Alter) gibt, so imaginiert es sich selbst einen Gegner (etwa S. 3-4).
Dies dürfte durchaus taktisch motiviert sein: Wenn schon heute Altersarmut kein nennenswertes Problem ist, warum sollte es das dann zukünftig sein? Dies ist die Schlussfolgerung jedenfalls, wenn man das „Gutachten“ nur oberflächlich liest. Betrachtet man die verschiedenen Presseberichte zum Thema, so muss man leider feststellen: Diese Taktik hatte Erfolg.
Die eigentliche mathematische Analyse
Eine genauere Betrachtung verdient auch und vor allem die rechnerische Analyse der Auswirkungen der zurückliegenden Rentenreformen. Das „Gutachten“ kommt zum Ergebnis, dass diese Reformen für die Alterskohorte 1965-1979 nur in sehr geringem Maße die Altersarmut zu erhöhen drohen – wenn überhaupt. Dabei ist grundsätzlich anzumerken, dass die präsentierten Berechnungen äußerst intransparent sind und daher von interessierten Dritten nicht überprüft werden können (unter anderem aus diesem Grund hat der Text es nicht verdient, „Gutachten“ genannt zu werden). Insgesamt erscheinen die errechneten Werte aber sehr niedrig, so dass Zweifel an ihrer Richtigkeit durchaus angebracht sind.
Diese Zweifel werden zumindest indirekt genährt, wenn man sich eine andere Stelle des „Gutachtens“ genauer ansieht. Wenig überraschend sprechen sich die Autoren nachdrücklich gegen einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn aus, was aber im Folgenden gar nicht der entscheidende Punkt ist (S. 10):
Um eine Rente auf Grundsicherungsniveau zu erhalten, braucht man in den alten Bundesländern 23,2 und in den neuen Bundesländern 26,1 Entgeltpunkte. Dies entspricht während eines 40jährigen Erwerbslebens einem sozialversicherungspflichtigen Bruttoentgelt von jährlich 18.500 Euro in Westdeutschland und 20.800 Euro in Ostdeutschland. Bei einer durchschnittlichen Jahresarbeitszeit von 1667 Stunden entspricht dies einem Bruttostundenlohn von 11,10 Euro in West- und 12,50 Euro in Ostdeutschland. Ein Mindestlohn, der eine Rente von 850 Euro im Monat sichert, läge dementsprechend bei 14,40 Euro je Stunde in den alten bzw. 16,20 Euro in den neuen Bundesländern. Es ist unvorstellbar, dass so hohe Mindestlöhne keine negativen Beschäftigungseffekte auf dem Arbeitsmarkt hervorrufen würden, welche die Sicherung der Lohnhöhe durch eine höhere Arbeitslosigkeit wieder konterkarieren.
Um die Frage der Sinnhaftigkeit eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns soll es an dieser Stelle, wie gesagt, nicht gehen. Im Hinblick auf das „Gutachten“ und sein argumentatives Vorgehen interessanter ist etwas anderes: Der Lohn, ab dem eine Altersrente von 850 Euro gewährleistet wäre, liegt angeblich pro Stunde mit 14,40 Euro (West) und 16,20 Euro (Ost) in der Tat vergleichsweise hoch. Und selbst ein Stundenlohn, der eine Rente auf Grundsicherungsniveau gewährleistet, beträgt immerhin noch 11,10 Euro (West) und 12,50 Euro (Ost). Nehmen wir an, diese im „Gutachten“ nicht weiter kommentierten Daten sind zutreffend, was mir auch einigermaßen realistisch zu sein scheint. Tatsächlich sind diese Daten mehr als interessant, denn sie zeigen, dass die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Verdienst unterhalb dieser Schwellen liegt, enorm groß sein muss:
- Bei Vollzeitbeschäftigten lag laut DIW im Jahr 2010 der Medianlohn in Gesamtdeutschland bei 16,29 Euro, bei Teilzeitbeschäftigten bei 14,58 Euro pro Stunde. Diese Medianlöhne bewegen sich damit in etwa bei der Höhe, die das „Gutachten“ als notwendige Löhne für eine Altersrente von 850 Euro nennt. Der Medianlohn teilt alle Löhne in zwei gleich große Gruppen. Daraus folgt, dass etwa die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine Altersrente von 850 Euro erreichen werden.
- Zieht man Untersuchungen des IAQ zum Niedriglohnsektor heran, kommt man zu ähnlichen bedenklichen Ergebnissen. 2010 lag die Niedriglohnschwelle in Deutschland bei 9,54 Euro (West) bzw. 7,04 Euro (Ost). 23,0 Prozent (West) bzw. 22,6 Prozent (Ost) der Beschäftigten – zusammen 7,8 Mio. Menschen – hatten einen Verdienst unter diesen Niedriglohnschwellen. Führt man sich vor Augen, dass für eine Altersrente auch nur auf Höhe der Grundsicherung ein weitaus höherer Stundenlohn notwendig ist, so ist klar: Die Zahl derer, die eine Altersrente auf Grundsicherungsniveau oder darunter zu erwarten haben, ist weitaus höher als ein knappes Viertel der Beschäftigten.
Selbst wenn man nun bei beiden genannten Gruppen etwa jobbende Schülerinnen, Schüler und Studierende berücksichtigen und herausrechnen muss, ist klar: Die zu befürchtende Altersarmut droht, ein Massenphänomen zu werden. Diese Altersarmut, die sich an den angegebenen potentiellen Mindestlohnschwellen ablesen lässt, hat durchaus auch etwas mit der zurückliegenden Absenkung des Rentenniveaus zu tun.
Wie das „Gutachten“ dennoch zu dem Ergebnis kommt, dass eine Zunahme der Altersarmut selbst unter widrigen Umständen allenfalls in geringem Umfang zu befürchten ist, muss vor dem Hintergrund der eben aufgeführten Zahlen ein Rätsel bleiben. Auch, weil die Berechnungsweisen schlicht nicht offengelegt werden. Wichtig erscheinen in diesem Zusammenhang allerdings mindestens folgende Punkte:
- Die Berechnungen im „Gutachten“ beschränken sich auf die Folgen lediglich der Rentenreformen der Jahre 2001 bis 2007.
- Das „Gutachten“ unterstellt für seine Berechnungen, dass die Einkommensverteilung des Jahres 2010 auch weiterhin gegeben ist. Dies ist empirisch natürlich falsch, methodisch allerdings durchaus nicht, denn es soll ja ausschließlich die Zunahme der Altersarmut durch die zurückliegenden Rentenreformen quantifiziert werden. Dennoch: Damit wird die Zunahme der Altersarmut durch den wachsenden Niedriglohnsektor und die zunehmend ungleiche Einkommensverteilung ausgeblendet. Gerade hier quantifiziert das „Gutachten“ also nicht – mit dem wohl erwünschten taktischen Effekt, dass die Medien sich vorrangig auf die errechneten, beschwichtigenden Zahlen stürzen und das wohl noch größere Problem der immer ungleicheren Einkommensverteilung nur nachrangig behandeln. Auch hier zeigte sich leider, dass diese Taktik aufgegangen ist.
- Das „Gutachten“ unterstellt, dass „alterstypische sonstige Einkünfte“ auch in Zukunft unverändert bleiben. Diese Unterstellung ist realitätsfern aus zwei Gründen: (1) Nicht nur die Einkommensverteilung, sondern auch die Vermögensverteilung wird immer ungleicher. Dadurch werden zukünftig voraussichtlich weniger Rentnerinnen und Rentner über eigene Kapitaleinkünfte und selbstgenutztes Wohneigentum verfügen. Dies erhöht die Gefahr von Altersarmut. (2) Der Anteil von Frauen, die über die Renten ihrer Ehemänner abgesichert sind, wird aus rechtlichen Gründen und aufgrund veränderter Familien- und Lebensverhältnisse sehr stark zurückgehen. Dazu kommt, dass gerade Frauen von prekärer Beschäftigung und unsteten Erwerbsbiografien betroffen sind. Beides erhöht gerade für sie die Gefahr von Altersarmut drastisch.
- Das „Gutachten“ definiert als „altersarm“ ausschließlich jene Menschen, deren Einkommen der Höhe der Grundsicherung im Alter entspricht oder darunter liegt. Die Grundsicherung im Alter aber entspricht dem Existenzminimum. Dies ist eine sehr restriktive Definition, die all jene – wohl in ihrer Anzahl zunehmenden – Einkommen ausblendet, die unterhalb der Grenze der Armutsgefährdung (60 Prozent des Medianeinkommens), aber noch oberhalb des Existenzminimums liegen. Hier wird Armut wegdefiniert, wie Wolfgang Lieb zu Recht in seinem oben verlinkten Artikel schreibt.
- Das „Gutachten“ unterstellt, dass wegfallende Rentenansprüche zukünftig unter anderem durch eine Zunahme der Lebensarbeitszeit ausgeglichen werden. Diese Annahme ist allerdings fragwürdig. Auch wenn die Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich aktuell noch verbessert, so dürfte dies in erster Linie einer guten konjunkturellen Entwicklung geschuldet sein. Ob dies auch in Zukunft der Fall sein wird, ist alles andere als sicher – allem Gerede von einem Fachkräftemangel zum Trotz. Fraglich ist auch, ob dies zu armutsfesten Löhnen geschieht (armutsfest beziehe ich hier natürlich auch auf die spätere Rente). Zudem gibt es zahlreiche Beschäftigtengruppen, die aufgrund von gesundheitlich besonders belastenden Tätigkeiten schon heute das Regel-Renteneintrittsalter nicht erreichen. Gerade für sie droht sich die Gefahr von Altersarmut zu verschärfen.
- Das „Gutachten“ unterstellt, dass wegfallende Rentenansprüche zukünftig unter anderem durch wachsende zusätzliche Einkünfte aus Riester- und Betriebsrenten ausgeglichen werden. Diese Annahme ist allerdings gleichfalls fragwürdig. Untersuchungen zeigen, dass an Riester- und Betriebsrenten Menschen mit niedrigen Einkommen nur weit unterdurchschnittlich partizipieren. Damit bleiben gerade jene ausgeschlossen, die eine solche Zusatzvorsorge eigentlich am nötigsten hätten. Angesichts der schwierigen Situation an den Kapitalmärkten drohen zudem auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus historisch niedrige Zinsen, die die kapitalgedeckten Pfeiler der Alterssicherung unprofitabel machen können. Auch dies kann indirekt faktisch zu einer Senkung des Rentenniveaus führen.
Maßnahmen und Vorschläge
Dass der wachsende Niedriglohnsektor und die zunehmende Ungleichverteilung der Einkommen Probleme darstellen, räumen die Autoren des „Gutachtens“ – wie oben vermerkt – grundsätzlich durchaus ein. Die Gegenmaßnahmen, die von der Leyen mit ihrer „Lebensleistungsrente“ ergreifen will, lehnen sie allerdings zu Recht ab: Denn gerade diejenigen, die am meisten von Altersarmut betroffen sein werden, werden von dieser Rentenreform nicht profitieren (S. 14). Allerdings sind die Maßnahmen, die die Autoren des „Gutachtens“ vorschlagen, kaum zielführender. Als Gegenmaßnahmen schlagen sie nämlich nicht etwa eine Bekämpfung des Niedriglohnsektors und generell höhere Löhne vor, sondern holen die altbekannten neoliberalen Standardkeulen heraus (S. 9):
Da die zukünftige Altersarmut vor allem von der zukünftigen Arbeitsmarktsituation der gering verdienenden Menschen abhängt, sind Maßnahmen, die (a) zu einem höheren Einkommen im Erwerbsleben und (b) zu einem möglichst langen Erwerbsleben einer Person beitragen, zielführend zur Vermeidung von Altersarmut. Hier spielt Bildung eine entscheidende Rolle.
Und einer der Autoren des „Gutachtens“, Axel Börsch-Supan, wird in der Frankfurter Rundschau vom 18. Dezember wie folgt zitiert:
Weil wir jeden Euro nur einmal ausgeben können und die Mittel knapp sind, sollten wir dort investieren, wo es am nötigsten ist: in frühkindliche Bildung, in Integration von Migranten, in berufliche Aus- und Weiterbildung, in Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit.
Hier wiederholt sich ein Denkfehler, der für Neoliberale typisch ist. Sie verwechseln eine individuelle und eine gesamtvolkswirtschaftliche Perspektive. Individuell mag es hilfreich sein, sich weiterzubilden und eine Arbeit aufzunehmen. Gesamtvolkswirtschaftlich aber wird jede Weiterbildung und jede Arbeitsaufnahme lediglich zur Verdrängung anderer führen, solange nicht die Gesamtmenge an Arbeitsplätzen steigt und solange nicht die Gesamtsumme an Löhnen zunimmt. Weiterbildung und Arbeitsaufnahme führen damit zwar zu Vorteilen für die Individuen, sie können die gesamtvolkswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Probleme des wachsenden Niedriglohnsektors und der zunehmenden Ungleichverteilung der Einkommen aber nicht beheben.
Und auch empirisch lässt sich zeigen, dass Bildung heute keineswegs mehr eine Garantie für höhere Löhne und bessere Beschäftigungschancen ist. Die weitaus meisten der Beschäftigten, die zu Niedriglöhnen arbeiten müssen, verfügen über eine vollwertige Ausbildung oder über ein Studium. Die Vorschläge des „Gutachtens“ zur Eindämmung der Gefahr wachsender Altersarmut sind daher völlig ungeeignet.
Zusammenfassung und Schlussbemerkung
Ich fasse abschließend die wichtigsten Kritikpunkte am „Gutachten“ des BMWi-Beirats zusammen:
- Das „Gutachten“ widerlegt mit Grandezza die Behauptung, es gebe heute schon massenhaft Altersarmut, obwohl niemand Relevantes diese Behauptung aufstellt.
- Das „Gutachten“ blendet wesentliche Faktoren aus, die zu einer zukünftig wachsenden Altersarmut beitragen können, nämlich die zunehmend ungleiche Vermögensverteilung und die Tatsache, dass Frauen immer weniger über ihre Ehemänner im Rentenalter abgesichert sind.
- Das „Gutachten“ unterschätzt die Auswirkungen auf die Altersrenten, die der wachsende Niedriglohnsektor und die zunehmende Ungleichheit bei der Einkommensverteilung haben dürften.
- Das „Gutachten“ geht weltfremd davon aus, dass die Absenkung des Rentenniveaus durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit und durch Riester-Renten sowie Betriebsrenten ausgeglichen werden können.
Abschließend sei noch auf eine besonders schräge Argumentation des „Gutachtens“ hingewiesen, anhand derer der neoliberale Geist dieses Machwerks vielleicht am besten veranschaulicht werden kann. An der betreffenden Stelle sprechen sich die Autoren gegen die etwa auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund geforderte Rente nach Mindesteinkommen aus. Bei dieser Form der Rente werden Geringverdienenden mehr Entgeltpunkte zugeteilt. Dadurch werden niedrige Löhne bei der Berechnung der späteren Rente aufgewertet, was die Gefahr der Altersarmut deutlich reduziert. Das „Gutachten“ sieht dies aber kritisch (S. 14-15):
Die Arbeitsanreize bleiben, was die Stundenzahl betrifft, in vollem Umfang gewahrt. Soweit die Betroffenen jedoch auch ihren Lohnsatz beeinflussen können, sei es durch Bildungsanstrengungen oder durch höhere Arbeitsintensität (etwa bei Akkordlöhnen), werden die entsprechenden Anreize in Vorschlag 2 [=Rente nach Mindesteinkommen, P.S.] vermindert, denn eine Steigerung des Lohns würde so lange nicht zu höheren Rentenansprüchen führen, wie der Lohn eine Schwelle nicht überschreitet, die derzeit bei ca. 13 Euro liegt.
Mit anderen Worten: Zwar lohnt es sich für die betroffenen Beschäftigten weiterhin, eine gewisse (hohe) Stundenzahl zu arbeiten. Es lohnt sich aber für sie nicht, sich für höhere (Stunden-) Löhne einzusetzen, etwa durch Fortbildung oder durch größere Anstrengung, denn diese höheren Löhne führen später ja nicht zu höheren Renten.
Schräger geht's wohl kaum. Ich jedenfalls freue mich, wenn mein Arbeitgeber meinen Lohn erhöht, über das Mehr auf meinem Konto, das ich am nächsten Monatsende zu erwarten habe. Ich stelle mir vor, was ich davon kaufe, wohin ich vielleicht sogar verreise, oder ich überlege mir, wie ich das Geld anlege. Natürlich freue ich mich auch über die Anerkennung, die diese Lohnerhöhung möglicherweise bedeutet. Und fast nie, jedenfalls ganz ganz selten, denke ich daran, welche positiven Auswirkungen diese Lohnerhöhung nun auf die Höhe meiner späteren Rente haben mag. Vermutlich sind das in etwa die Prioritäten fast aller arbeitenden Menschen – abgesehen natürlich von den schlauen Professoren, die das BMWi um sich versammelt.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.