Ampelkoalition will Minijobs attraktiver machen – und gefährdet damit sozialversicherungspflichtige Arbeit
25. Oktober 2021 | Patrick Schreiner
SPD, Grüne und FDP wollen laut Sondierungsergebnis Hürden für »versicherungspflichtige Beschäftigung« abbauen, indem sie Minijobs erleichtern. Was widersprüchlich klingt, ist es auch.
Vor einigen Tagen haben die drei Parteien, die eine Ampel-Koalition anstreben, ihr Sondierungsergebnis vorgelegt. Darin finden sich auch Verschlechterungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – unter anderem bei den Minijobs:
Bei den Mini- und Midi-Jobs werden wir Verbesserungen vornehmen: Hürden, die eine Aufnahme versicherungspflichtiger Beschäftigung erschweren, wollen wir abbauen. […] Künftig orientiert sich die Minijob-Grenze an einer Wochenarbeitszeit von 10 Stunden zu Mindestlohnbedingungen. Sie wird dementsprechend mit Anhebung des Mindestlohns auf 520 Euro erhöht. Gleichzeitig werden wir verhindern, dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse missbraucht oder zur Teilzeitfalle insbesondere für Frauen werden.
SPD, Grüne und FDP wollen Minijobs damit faktisch ausweiten. Indem sie die Minijob-Grenze an die Entwicklung des Mindestlohns binden, dynamisieren sie sie zugleich. Sie sorgen damit dafür, dass Minijobs dauerhaft attraktiv bleiben.
Für abhängig Beschäftigte ist das keine gute Nachricht, obwohl die Sondierer von »Verbesserungen« sprechen. Schließlich bringen Minijobs für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlreiche Nachteile mit sich. In einer ▸aktuellen Veröffentlichung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – dem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit – heißt es:
Minijobs bringen zugleich für die Beschäftigten zahlreiche Nachteile mit sich. Diese verbleiben oft im Niedriglohnsegment und arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus. Ihnen werden zudem häufig Arbeitnehmerrechte vorenthalten, zum Beispiel bezahlter Urlaub. Sie sind außerdem nur dann rentenversichert, wenn sie freiwillig zusätzliche Beiträge zur Rentenversicherung entrichten.
Wer einen Minijob hat, ist zudem weder gegen Arbeitslosigkeit noch in der Kranken- oder Pflegeversicherung versichert. Auch Kurzarbeitergeld erhalten Minijobberinnen und Minijobber nicht, was in der Corona-Krise für viele ein böses Erwachen bedeutete.
Widersprüchlich ist die Aussage im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP, dass man die »Verbesserungen« bei den Minijobs vornehme, weil man »Hürden« für »versicherungspflichtige Beschäftigung« abbauen wolle. Denn Minijobs sind – von Pauschalzahlungen des Arbeitgebers sowie (seltenen) freiwilligen Rentenbeiträgen der Minijobber/innen abgesehen – gerade nicht (sozial-) »versicherungspflichtig«. Wir können sicher ausschließen, dass Minijobs voll sozialversicherungspflichtig werden sollen – denn das käme ihrer Abschaffung nahe. Wie ist diese Formulierung dann aber zu verstehen? Möglicherweise wollen die zukünftigen Koalitionäre Minijobs fortan als »versicherungspflichtig« ansehen, obwohl diese es nicht sind. Möglicherweise sehen sie Minijobs aber auch als einen Einstieg in sozialversicherungspflichtige, reguläre Beschäftigung an.
Beides wäre verfehlt: Ersteres, weil Minijobs schlicht nicht sozialversicherungspflichtig im eigentlichen Sinne sind, schon gar nicht auf der Leistungsseite – wie eben schon erwähnt. Letzteres, weil Minijobs nur in äußerst geringem Umfang einen Einstieg in reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeit gewährleisten. In einer ▸Stellungnahme vom Februar 2021 hat das IAB festgestellt,
dass der Brückeneffekt deutlich geringer ausfällt, als bei der Einführung der Minijobs im Jahr 2003 gehofft wurde […] und er sich auch nur für eine Teilgruppe der Arbeitslosen bewahrheitet hat […]. Brülle (2013, S. 170) hält fest: Die geringfügige Beschäftigung ist mit »besonders geringen Übergangswahrscheinlichkeiten in ein Normalarbeitsverhältnis verbunden und unterscheidet sich damit auch von der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung deutlich. Die Distanz zum Kernsegment des Arbeitsmarktes, in dem reguläre Arbeitsverhältnisse dominieren, ist für diese Beschäftigungsform am größten.«
Seltsam mutet auch der nachfolgende, oben schon zitierte Satz im Sondierungspapier an:
Gleichzeitig werden wir verhindern, dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse missbraucht oder zur Teilzeitfalle insbesondere für Frauen werden.
Seltsam ist dies, weil Minijobs beides heute schon sind und mit ihrer Ausweitung auch bleiben werden: Sie sind Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse und Teilzeitfalle vor allem für Frauen. Man darf gespannt sein, welche Instrumente sich die Koalitionäre in spe dafür einfallen lassen werden, um dies zukünftig zu ändern. Doch ganz gleich, wie diese Instrumente aussehen: Sie werden kaum wirksam sein. Denn wenn es das Ziel von SPD, Grünen und FDP ist, Minijobs für Arbeitgeber wie für Beschäftigte attraktiver zu machen, dann wird dies im Vergleich dazu sozialversicherungspflichtige Arbeit weniger attraktiv werden lassen. Oder anders formuliert: Jede Arbeit, die in Form eines Minijobs erbracht wird, lässt sich auch sozialversicherungspflichtig erbringen. Werden erstere attraktiver, dann wird dies zu Lasten letzterer gehen. Auch das IAB hat dies in der eben zitierten Veröffentlichung einmal mehr nachgewiesen, hier bezogen auf kleine Betriebe:
Das zentrale Ergebnis der Studie ist, dass Minijobs das Volumen von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsformen reduzieren. […] Ein zusätzlicher Minijob in einem Kleinbetrieb ersetzt der Analyse zufolge im Mittel etwa eine halbe durchschnittliche sozialversicherungspflichtige Stelle (in den Analysen wird hierbei nicht zwischen Teil- und Vollzeitstellen unterschieden). Minijobs verdrängen also sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Beide Beschäftigungsformen sind demnach, zumindest in kleinen Betrieben, keine Komplemente. Hochgerechnet dürften Minijobs in kleinen Betrieben etwa 500.000 sozialversicherungspflichtige Jobs ersetzt haben.
Wenn die Ampelparteien Minijobs dynamisieren und ausweiten, wird dies gute, sozialversicherungspflichtige Jobs kosten. Dass sie zugleich schreiben, sie wollten Hürden für sozialversicherungspflichtige Arbeit abbauen, entpuppt sich damit als Augenwischerei.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.