Analysen zur Eskalation der Auseinandersetzungen um die Zukunft Griechenlands
30. Juni 2015 | Patrick Schreiner
Die so genannten "Verhandlungen" zwischen Griechenland und seinen Gläubigern sind abgebrochen. Die Europäische Währungsunion steckt in der größten Misere ihrer Geschichte. Griechenland steht vor einer ungewissen Zukunft. Nachfolgend einige Verweise auf lesenswerte Artikel und Analysen zum Thema.
In zahlreichen Kommentaren der Mainstream-Medien wird derzeit die alte Mär in Dauerschleife wiedergegeben, dass Griechenland habe keine Anstrengungen unternommen habe; die wirtschaftliche Misere des Landes sei auf unzureichende "Reformen" zurückzuführen. Griechenland habe sich nicht bemüht, habe getrickst und gelogen, anstatt sich zu reformieren. Dass dies eine glatte Lüge ist, haben wir schon vor einiger Zeit dargestellt: Griechenland hat bis zur Wahl von SYRIZA die "Reform"-Vorgaben der damaligen "Troika" aus IWF, EU-Kommission und EZB selbst nach deren eigener Darstellung in hohem Maße erfüllt. Das war eben genau das Problem: Denn dieses Befolgen der neoliberalen Agenda führte zu sozialer Verelendung (etwa zu mehr Suiziden und HIV-Neuinfektionen sowie zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems), zu wirtschaftlichem Einbruch und zur Explosion der Staatsverschuldung. Was wiederum zur Konsequenz hatte, dass die von der damaligen "Troika" angestellten Berechnungen, die Grundlage der angeblichen "Rettungsprogramme" waren, vorne und hinten nicht aufgingen.
Diese schon älteren Anmerkungen und Links seien einleitend vorangestellt. Um sich einen Überblick über die Ereignisse der letzten Tage zu verschaffen, sei zunächst auf das Neue Deutschland verwiesen, das eine Art Tagebuch veröffentlicht hat (leider nur für AbonnentInnen lesbar). Einige Artikel, die die aktuelle Situation und Eskalation genauer analysieren, werden im Folgenden aufgeführt:
Norbert Häring macht auf seinem Blog deutlich, dass (und wie) es die europäischen Gläubiger von Anfang an darauf abgesehen hatten, die griechische SYRIZA-Regierung zum Scheitern zu bringen. Ein Beispiel, dass linke, nicht-neoliberale Politik möglicherweise besser funktioniert, durfte es nicht geben. Unter anderem deshalb hätten die "Institutionen" - IWF, EU-Kommission, EZB - sowie die europäischen Regierungen kurz vor einer Einigung, die sich noch Mitte der letzten Woche angedeutet hatte, ihre Forderungen nochmals kurzfristig verschärft:
Nachdem das Kompromissangebot aus Athen sehr weit ging, aber es noch so aussah, als könne die Regierung dort ein Verabschiedung gerade so überleben, setzten die Vertreter der drei EU-Institutionen eins darauf und verlangten ultimativ eine ganze Reihe von Verschärfungen und zum Teil sinnwidrigen Änderungen. Sie hatten fast alle die Wirkung, die Belastung der griechischen Elite zu senken und die der Armen und vor allem Ärmsten zu steigern. Sie waren unverkennbar böswillig und auf Abwahl der Regierung gerichtet, die entweder so etwas vereinbart, oder aber es ablehnt und damit den Rauswurf aus dem Euro provoziert, den das griechische Volk ebenso wenig will. Dafür wurden in Brüssel schon Vereinbarungen mit den Oppositionsführern geschmiedet, die per Blankozustimmung ankündigten, jede Vereinbarung im Parlament zu unterstützen, der die Regierung zustimmen würde. Damit war klar, dass auch eine Vereinbarung, der große Teile der Abgeordneten der Regierungsparteien nicht zustimmen würden, eine Mehrheit bekommen würde. Die Regierung würde darüber natürlich zerbrechen, und die Gläubiger hätten beides: ein Abkommen und eine neue Regierung, die es umsetzen würde.
Die verschärfenden Forderungen der "Institutionen" hat der grüne Europa-Parlamentarier Sven Giegold (unter Rückgriff auf eine Ausarbeitung seines Bundestagskollegen Sven-Christian Kindler) dargestellt. Eine etwas ausführlichere Analyse dieser Dokumente hat Jens Berger auf den Nachdenkseiten veröffentlicht (und dabei zugleich eine Falschaussage des SPD-Politikers und Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, aufgezeigt.) All diese Artikel zeigen: Nicht die griechische Regierung hat erratisch agiert, wie etwa auf Spiegel Online behauptet wurde, sondern die Gläubiger Griechenlands haben die Situation bewusst eskalieren lassen.
Dass aber nicht alle SPD-PolitikerInnen wie Schulz oder Parteichef Gabriel der neoliberalen Agenda Merkels und Schäubles folgen, zeigt ein Interview mit der ehemaligen SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan, gewiss keine Parteilinke. Auch sie kommt darin unter anderem zur Einschätzung:
Finanzminister Wolfgang Schäuble hat von Anfang an die Absicht gehabt, Syriza an die Wand fahren zu lassen
Heiner Flassbeck zeigt auf Telepolis, dass die "Angebote" der Gläubiger überdies wirtschaftspolitisch hanebüchenen Unsinn darstellen - was einmal mehr die Vermutung Härings und Schwans unterstreicht, dass nicht wirtschaftliche, sondern politische Motive dahinterstanden. Flassbeck:
Insgesamt gibt es wiederum - wie schon von 2010 bis heute - keinen Hauch einer Vorstellung davon, wie man die griechische Wirtschaft so anregen könnte, dass sie in der Lage wäre, ohne weitere Katastrophe bei den sozialen Bedingungen im Land die Primärüberschüsse (also Überschüsse der staatlichen Ausgaben über die Einnahmen ohne Zins- und Tilgungszahlungen), die jetzt angestrebt werden (von ein Prozent 2015 bis zu vier Prozent in vier Jahren), zu erreichen. Nicht eine Maßnahme in dem Papier kann eine depressionsgeschüttelte Wirtschaft wieder zu einem normalen Leben erwecken.
Eine stärker wirtschaftspolitisch interessierte, ausführliche und inhaltlich sehr breite Analyse nimmt Thomas Sablowsky für die Rosa-Luxemburg-Stiftung vor. Er betrachtet die gesamten Verhandlungen seit Regierungsübernahme von SYRIZA und blickt zugleich auf mögliche Entwicklungen in der näheren Zukunft. Dabei betont er besonders die fatale Rolle der deutschen Bundesregierung und des deutschen Kapitals:
Die Bundesregierung ist die Hauptverantwortliche für das Desaster der Austeritätspolitik in Europa. Sie war schon im Herbst 2009 die erste Regierung, die, als die Talsohle der Rezession in Deutschland erreicht war, einen Übergang zur Austeritätspolitik einleitete und im Kreise der G 20 einforderte. Und sie ist bis heute die hartnäckigste Verteidigerin dieser aus makroökonomischer und gesamtgesellschaftlicher Perspektive zerstörerischen Politik. Aber diese Politik ist aus der Perspektive des Kapitals nicht nur irrational, denn sie senkt die Löhne und erhöht auf diese Weise die Profitabilität des Kapitals. Die Kapitalisten, die der Konkurrenz unterliegen, denken und handeln in erster Linie betriebswirtschaftlich, und daran orientiert sich auch das makroökonomische und politische Denken des Mainstreams der Repräsentanten der Bourgeoisie. Und deswegen wird der deutsche Kurs auch im Rest Europas unterstützt. Es ist bezeichnend, wie wenig etwa die Regierungen in Frankreich und Italien, in Ländern, die selbst krisengeschüttelt sind, der Bundesregierung entgegenzusetzen hatten.
Jens Berger analysiert auf den Nachdenkseiten die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen der jüngsten Eskalation. Er kommt zur Einschätzung, dass die Europäische Währungsunion vor ihrem Ende stehe ("Europa ist tot."). Griechenland müsse eine drastische Verschärfung seiner Wirtschaftskrise befürchten. Interessant auch Bergers Darstellung der finanzpolitischen Hintergründe der nun vermutlich ausbleibenden Rückzahlung einer Kredittranche an den Internationalen Währungsfonds: Anders, als die Mainstream-Medien derzeit nahelegen, müsse es in diesem Fall keineswegs kurzfristig zur Feststellung eines Staatsbankrotts kommen. Dass genau dies aber immer wieder behauptet wird, seitens der Medien wie auch seitens der Gläubiger, ist damit nichts anderes als ein weiterer Beitrag zur Eskalation.
Stephan Lindner fasst im attac-Theorieblog die Abläufe der letzten Tage zusammen und analysiert sie. Interessant an seiner Darstellung sind unter anderem die "technischen" Anmerkungen zu den Krediten an Griechenland.
Wolfgang Münchau schließlich erinnert auf Spiegel Online daran, dass durch den drohenden "Grexit", den Austritt/Rauswurf Griechenlands aus der Währungsunion, überhaupt erst Kosten für die Gläubiger (etwa Deutschland...) anfallen. Nicht zuletzt aus eigenem Interesse heraus müsste die Bundesregierung alles tun, um doch noch eine Einigung zu erreichen - anstatt ideologisch an der gescheiterten Austeritäts- und Kürzungspolitik festzuhalten:
Es geht jetzt um etwas ganz anderes: die Verhinderung eines griechischen Euro-Austritts, was für Deutschland und die anderen Kreditländer einen Totalausfall ihrer Forderungen bedeuten würde. Die knapp 90 Milliarden Euro, mit denen Deutschland insgesamt im Feuer steht, wären dann die Kosten von Merkels Krisenpolitik. Dazu kommt noch der Kollateralschaden. Der wird noch weitaus höher sein.
Man könnte über die ganze Misere lachen, wenn sie nicht so fatal wäre. Und doch - manchmal bringt Satire die Realität besser auf den Punkt als jede Analyse, wie der Postillon einmal mehr beweist:
Um zu bestimmen, ob Griechenland die mit den EU-Hilfen verbundenen Sparauflagen akzeptiert, will er eine sogenannte "Volksbefragung" abhalten. Bei einer solchen Volksbefragung soll - wie der Name schon sagt - ausgerechnet das Volk über seine eigenen Belange entscheiden – ein Umstand, der Griechenlands europäische Partner aufs Tiefste verstört.
Übrigens: Sowohl der amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Paul Krugman, als auch der US-Ökonom Joseph Stiglitz empfehlen den Griechen, im Referendum mit "Nein" zu stimmen und damit das vergiftete "Angebot" der Gläubiger abzulehnen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.