Andreas Fisahn: »Marx hatte ein widersprüchliches Staatsverständnis«
9. Mai 2018 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Andreas Fisahn über Staat und Recht bei Karl Marx. Fisahn ist Rechtswissenschaftler und Professor für Öffentliches Recht in Bielefeld.
In Ihrem Buch arbeiten Sie Marx‘ und Engels‘ Überlegungen zum Staat, zum Recht und zur Demokratie in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft heraus. Was – außer der 200. Geburtstag des Erstgenannten – war Ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben?
Fisahn: Ehrlich gesagt hat mich mein Doktorand, Ridvan Ciftci, in den Hintern getreten, damit ich das Buch schreibe. Er meint, Einführungen ins Kapital und Kapitallesezirkel sind schwer nachgefragt. Was aber fehlt, ist eine Einführung in die Staats- und Demokratietheorie, wenn man das so bezeichnen kann, von Marx und Engels. Es gibt keine ausgearbeitete Staatstheorie von Marx und Engels. Marx hatte vor, das »Kapital« um einen Band zum Staat zu ergänzen. Dazu ist er bekanntlich nicht mehr gekommen. Die Aussagen zu Staat, Recht und Demokratie sind mehr oder weniger verstreute Bemerkungen, die auch nicht zwingend zueinander passen. Da war es schon eine spannende Aufgabe, die verschiedenen Stellen zusammenzubringen. Gegenüber älteren Versuchen dieser Art hatte ich einen banalen Vorteil: Die Digitalisierung der Texte vereinfacht die Suche der relevanten Passagen auch in abgelegenen Werken kolossal. So hatte ich schnell die meines Erachtens wichtigen Passagen zusammen und musste sie nur noch in eine sinnvolle Reihenfolge bringen.
Sie betonen an mehreren Stellen, dass Staat und Recht in der bürgerlichen Gesellschaft eine gewisse Autonomie gegenüber den ökonomisch und politisch Mächtigen haben – ja sogar haben müssen. Daraus ergeben sich, so schreiben Sie, Möglichkeiten, gegen das Kapital Veränderungen und Verbesserungen zu erkämpfen. Worin gründet dieser Optimismus bei Marx und Engels?
Fisahn: Nun weiß ich gar nicht, ob sie optimistisch waren. Aber klar ist, dass sie an der Seite der realen Arbeiterbewegung für Verbesserungen auch innerhalb des Kapitalismus eintraten – für das Verbot der Kinderarbeit ebenso wie für den Acht-Stunden-Tag. Das betrifft zunächst das Verhältnis Kapital und Arbeit. Ebenso plädierten Marx und Engels aber für die Menschenrechte oder das allgemeine Wahlrecht, das zu ihren Zeiten auf der Agenda der Arbeiterbewegung stand. Sie verbanden damit zwei Hoffnungen, nämlich, dass die Arbeiterklasse die Mehrheit auch im Parlament erringen wird und die Staatsmacht dann in ihrem Sinne nutzen kann. An anderen Stellen jedoch klingt eher an, dass der Staat als »Maschine der Klassenherrschaft« eh nur gegen die Arbeiterklasse agiere. Der Staat scheint dann eine Maschine zur Unterdrückung der einen Klasse, der Arbeiter, durch die andere Klasse, die Bourgeoisie, zu sein. Das ist einer der Widersprüche im Staatsverständnis von Marx und Engels.
Es hilft da ins Kapital zu schauen, um zu sehen, wie Marx Maschine versteht. Er unterscheidet die Maschine vom Instrument oder Werkzeug. Das Werkzeug ist verlängerter Arm seines Nutzers, es »gehorcht« ihm, führt die Operationen aus, für die es eingesetzt wird. Die Maschine dagegen ist ein komplexes Gebilde, das ständige Aufmerksamkeit und Wartung verlangt. Der Arbeiter, der die Maschine bedient, ist an ihren Takt gebunden und muss die von der Maschine vorgegebenen Operationen ausführen, soll die Maschine nicht stehen bleiben oder beschädigt werden. Wer einen Computer besitzt, weiß, dass Maschinen so ihre ganz eigenen Vorstellungen haben, wie sie funktionieren. Kurz: Die Maschine macht sich den Arbeiter zum Untertan, er wird zum »Anhängsel der Maschine«. Würde man die »Maschine der Klassenherrschaft« so interpretieren, wäre der Widerspruch aufgelöst. Die Staatsmaschine entwickelt eigene Gesetzmäßigkeiten. Der Staat ist dann weiter auch ein Herrschaftsapparat, aber behält seine Selbstständigkeit auch gegenüber den ökonomisch Mächtigen, gegenüber der »Bourgeoisie«, wie Marx und Engels diese nannte. Ich fürchte nur, Marx und Engels haben das Maschinenbild des Staates nicht so verwendet.
Kann es nach Marx und Engels so etwas wie ein »Allgemeinwohl« geben?
Fisahn: Das knüpft an die vorherige Frage an. Wenn der Staat nur die Maschine der Klassenherrschaft ist oder ein geschäftsführender »Ausschuss der herrschenden Klasse«, dann wird er auch nur in deren Interesse handeln. Macht er ja auch, mögen einige sagen. In der Tat gibt es strukturelle Grenzen. Der bürgerliche Staat ist auf Steuereinnahmen angewiesen, sinken die oder fallen sie weg, weil die Wirtschaft stagniert, gerät er in Schwierigkeiten. Wenn Kanzler Schröder damals posaunte, er mache keine Politik gegen das Kapital, hat er diese strukturelle Grenze der Reformfähigkeit in der ihm eigenen Wurstigkeit zum Ausdruck gebracht. Wenn aber Kinderarbeit verboten wurde, weil dem Staat sonst die Soldaten ausgegangen wären, geschieht dies nicht im unmittelbaren Interesse der Bourgeoisie, wohl im Interesse des Staates, aber es bringt wohl auch Vorteile für die geschundenen Kinder. Ähnliches gilt für den Bau von Schulen oder Krankenhäusern, sie dienen zumindest auch dem Allgemeinwohl. Marx und Engels sprechen von »illusorischer Gemeinschaftlichkeit«, die der Staat produzieren müsse, um zwischen den verschiedenen privaten und den besonderen und allgemeinen Interessen zu vermitteln. Staatliches Handeln im allgemeinen Interesse verhüllt gleichzeitig immer die Vorherrschaft der ökonomisch Mächtigen.
Weshalb muss der Staat diese »illusorische Gemeinschaftlichkeit« produzieren?
Fisahn: Dem Staat liegen reale Verbindungen zwischen Menschen zugrunde, die er nicht produziert. Das sind − außerhalb der Familie − mindestens die Verbindungen, die in einer arbeitsteiligen Gesellschaft notwendig entstehen. Die verschiedenen Produkte müssen ausgetauscht, repariert werden usw. – Menschen begegnen sich und gehen Verbindungen ein. Der Staat produziert über diesen realen Verbindungen auch etwas neues Gemeinsames, nämlich etwa die Nutzung des gleichen Geldes oder die Unterwerfung unter die staatlichen Steuergesetze – das unterscheidet die Staatsbürger des einen von den Staatsbürgern des anderen Staates (die EU lassen wir mal außen vor). Gleichzeitig wird dieses Gemeinsame überhöht zur Gemeinschaftlichkeit, so als hätten die Staatsbürger die gleichen Interessen, als ergäbe sich aus der Staatsangehörigkeit eine Homogenität ohne widersprüchliche Interessen. Die unangenehmste Erscheinung der »illusorischen Gemeinschaftlichkeit« produziert der Nationalismus, der die eine Nation über die andere erhebt, sich für besser hält als die anderen und voraussetzt, dass die Nation gleichartig ist oder ein gleiches Schicksal hat. Dabei unterscheidet sich das Schicksal eines Kindes aus Köln-Chorweiler noch immer deutlich von dem eines Kindes aus Berlin Zehlendorf – die Kinder gehören sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen an und sprechen im Zweifel auch eine unterschiedliche Sprache, nicht nur einen unterschiedlichen Dialekt. Ihre Gemeinschaftlichkeit ist illusionär – nur leider ist das eine sehr wirkmächtige Illusion. Die Menschen lassen sich leider oft gegeneinander, gegen die Fremden, die Anderen aufhetzen.
Sie sind selbst Rechtswissenschaftler, haben eine Professur für Öffentliches Recht in Bielefeld. Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen: In welchem Umfang ist es möglich, mit dem Recht etwas gegen die Interessen des Kapitals durchzusetzen?
Fisahn: Sie sagen ja selbst, ich lehre öffentliches Recht, da fehlt es an der direkten Auseinandersetzung mit »dem Kapital«. Aber ein Blick in die Geschichte zeigt doch, dass es mal besser und mal schlechter gelang, durch arbeitsrechtliche Regeln die Macht der Unternehmer zu bändigen. Man denke an den Kündigungsschutz. Auch wenn der in den letzten Jahrzehnten aufgeweicht wurde, die neoliberalen Wunschvorstellung vom beliebigen »hire and fire« haben wir noch längst nicht erreicht. Und nun ein Beispiel aus dem öffentlichen Recht: Die Koalitionsfreiheit, also das Recht Gewerkschaften zu gründen, um kollektive Arbeitsverträge durchzusetzen, ist verfassungsrechtlich garantiert – das war in der Geschichte des deutschen Kapitalismus keineswegs immer so und ist noch keineswegs globaler Standard. Dabei ist »das Recht« keine feststehende, konstante Größe. Es zeichnet eine Kompromisslinie zwischen den gesellschaftlichen Kräften nach, spiegelt in einem sehr verzerrten Bild − eben weil der Justizapparat eigene Gesetzmäßigkeiten entwickelt, auch eine Maschine ist − die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wider. Und einmal im Gesetz fixiert, ist dieses Gesetz Teil der sozialen Auseinandersetzung in der Gesellschaft. Das Gesetz lässt immer Interpretationsspielräume, die umkämpft sind, und ich glaube, es wäre dumm zu behaupten, dieser Kampf lohne sich nicht. Damit sind wir wieder am Anfang angekommen, beim Kampf um den Acht-Stunden-Tag – natürlich lohnt sich dieser, genauso wie um den Umfang des Streikrechts oder – im öffentlichen Recht – um das Demonstrationsrecht oder den Datenschutz.
Zum Weiterlesen
Andreas Fisahn: ▸Staat, Recht und Demokratie. Eine Einführung in das politische Denken von Marx und Engels. 191 Seiten, ISBN 978-3-89438-664-1, Preis 14,90 Euro.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.