Rezension
Anthroposophie. Eine kurze Kritik
9. Januar 2020 | Bernd Hüttner
2019 feierte die Waldorfbewegung die Gründung der ersten Schule in Stuttgart 1919. Kritiken an der Anthroposophie in Buchform gibt es nur sehr wenige, etwas bekannter ist das bereits 1999 erschienene Buch von Peter Bierl. Deswegen ist es umso mehr zu begrüßen, dass André Sebastiani nun eine handliche Kritik vorgelegt hat.
Er untersucht die Hintergründe dieser, so der Autor, »okkulten Weltanschauung«, die vor allem wegen Waldorf und der demeter-Landwirtschaft derzeit die einflussreichste »esoterische« Bewegung hierzulande sei. Anthroposophie ist für Sebastiani »im Kern eine elitäre, dogmatische, irrationale, esoterische, rassistische, antiaufklärerische Weltanschauung« (S. 164). Bei der Begründung seiner Kritik konzentriert sich Sebastiani nach einer Einführung in die Anthroposophie an sich auf die Pädagogik. Die Teile zur Medizin und vor allem zur Landwirtschaft fallen dann im Vergleich doch deutlich schwächer aus. Er weist nach, dass die »soziale Dreigliederung« ein biologistisches Gesellschaftsverständnis hat und mit modernen Demokratietheorien unvereinbar ist. In der Waldorfpädagogik gibt es weder in der einschlägigen Ausbildung noch in der Praxis einen Methoden- oder Theoriepluralismus, wie er für andere Disziplinen einer aufgeklärten Gesellschaft üblich sei. Eurythmie spiele außerhalb der Waldorfszene zu Recht keinerlei Rolle. Die Temperament- und Jahrsiebtlehre sei schon in den 1920er Jahren entwicklungspsychologischer Unsinn gewesen und verfestige autoritäre Muster.
Anthroposophie versuche sich heute zwar vermehrt als Wissenschaft darzustellen, sei aber keine. Sie beruhe letztendlich auf einem Zirkelschluss: die übersinnlichen Erkenntnisse führen zur anthroposophischen Weltanschauung, und diese wiederum stützt, wenn nicht ermöglicht erst, diese Erkenntnisse. Kriterien wie empirische und intersubjektive Überprüf- und Nachvollziehbarkeit kann die Anthroposophie nicht erfüllen. Sie sei letztendlich eher eine Religion als eine Wissenschaft.
Sebastiani belegt seine Kritik, die man sich freilich an manchen Stellen etwas fundierter und auch pointierter gewünscht hätte, mit vielen Nachweisen und nennt auch Literatur. Die hohe Fluktuation unter den Lehrer_innen an Waldorfschulen streift er nur. Dass die Anthroposophie in über 100 Jahren keine dissidenten Strömungen und auch keine wesentliche inhaltliche Weiterentwicklung vorzuweisen hat, ist bemerkenswert, im Buch auch nur sehr am Rande Thema. Fehlt der Anthroposophie wegen ihrer verbohrten Orientierung auf ihren 1925 verstorbenen Gründer Steiner die Fähigkeit zur Modernisierung? Apropos Steiner. Diesen charakterisiert Sebastiani zu Recht als »gescheiterten Akademiker«. Gravierender dürfte aber sein, dass der Universaldilettant Steiner, wie zum Beispiel in der ▸Biographie von Miriam Gebhardt nachzulesen ist, eine traumatisierende Kindheit hatte, um sich danach dann Erziehungs- und auch allen anderen Fragen zu widmen.
Bibliografische Angaben
André Sebastiani: Anthroposophie. Eine kurze Kritik; alibri Verlag, Aschaffenburg 2019, 176 Seiten, 10 Euro.
Bernd Hüttner ist Politikwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Bremen und ist Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Webseite: www.bernd-huettner.de.