Arbeitsintensität und Arbeitszeit aus wirtschaftspolitischer Perspektive
14. November 2019 | Patrick Schreiner
Seit langem dominiert arbeitsmarktpolitisch der Grundsatz, dass für alle gut sei, was für Unternehmen gut ist. Folge eines solchen Denkens ist unter anderem die Intensivierung, zeitliche Flexibilisierung und Ausdehnung von Arbeit – was nicht nur den Beschäftigten schadet, sondern auch ökonomisch fragwürdig ist.
Arbeit und Profit
Im Kapitalismus versuchen Unternehmen, möglichst hohe Profite zu erwirtschaften. Dazu gebrauchen sie Arbeitskraft: Unternehmen beschäftigten Menschen, um Waren und Dienstleistungen zu produzieren und zu verkaufen. Profit entsteht, wenn die erzielten Umsätze die Kosten für Arbeitskraft und Vorleistungen übersteigen.
Dabei stehen Unternehmen in wechselseitiger Konkurrenz. Sie können die eigenen Profite (und damit mittel- und langfristig das eigene Überleben) nur dann sichern, wenn sie »wettbewerbsfähig« sind. Ein Unternehmen muss – verglichen mit seinen Mitbewerbern – zu gleichen oder niedrigeren Kosten produzieren oder höhere Preise für die eigenen Waren erzielen. Letztere kann es beispielsweise durchsetzen, wenn die eigenen Produkte besser sind (oder als besser gelten). Für die Frage der Arbeitsintensität und der Arbeitszeit relevanter ist die Kostenseite der Produktion: Unter anderem durch die Steigerung der Intensität, die zeitliche Ausdehnung und die zeitliche Flexibilisierung von Arbeit kann ein Unternehmen Kosten drücken und damit Profite sichern bzw. erhöhen.
Eine Steigerung der Arbeitsintensität meint dabei ein Erhöhen der Arbeitsleistung bei gegebener Arbeitszeit. Dies kann beispielsweise durch eine andere Organisation von Arbeitsabläufen erreicht werden, oder aber schlicht durch schnelleres und intensiveres Arbeiten (einschließlich verkürzter Pausen). Bei den Beschäftigten führt dies in aller Regel zu mehr Stressbelastung. Die Möglichkeit, die Produktion bei gegebener Arbeitszeit technologisch zu erhöhen, also Arbeit durch Maschinen zu ersetzen, soll an dieser Stelle zunächst ausgeblendet bleiben.
Die zeitliche Flexibilisierung erlaubt es, Arbeitskraft nur dann zum Einsatz zu bringen (und nur dann zu bezahlen!), wenn sie seitens des Unternehmens tatsächlich gebraucht wird. Flexibilisiert wird etwa durch entsprechende Beschäftigungsmodelle wie Arbeit auf Abruf, Minijobs, Teilzeit, Befristungen und Leiharbeit (Schiersch 2014). Auch die Lockerung des Kündigungsschutzes, wie jüngst in Italien und Frankreich, ist eine Form der Flexibilisierung. – Die zeitliche Ausdehnung kann ebenfalls dazu dienen, Arbeit im Sinne des Unternehmens zielgenauer und flexibler einzusetzen. Dies ist etwa der Fall, wenn Beschäftigte Überstunden leisten, was betrieblich begründete Mehrarbeit an Wochenenden und Feiertagen sowie im Rahmen von Arbeitszeitkonten einschließt. Auch die Entgrenzung von Arbeit (etwa durch die Erreichbarkeit und das Schreiben von E-Mails in Freizeit oder Urlaub) gehört in diese Kategorie. Die Ausdehnung der Arbeitszeit kann aber auch schlicht dem Drücken der Lohnkosten dienen. Das ist der Fall, wenn längere Arbeitszeiten vereinbart werden, ohne die Löhne entsprechend nach oben anzupassen.
Letztlich gilt für die zeitliche Flexibilisierung von Arbeit, was Karl Marx zur Länge des Arbeitstages formuliert hatte: »Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse« (MEW 23: 249). Die Länge des Arbeitstages ist, wie auch die Höhe der Löhne sowie das Ausmaß der Flexibilität und Intensität von Arbeit, das Ergebnis von Auseinandersetzungen zwischen den Käufern und Verkäufern von Arbeitskraft, zwischen den Unternehmen und den abhängig Beschäftigten. Nicht zuletzt die jüngsten Versuche der Arbeitgeberverbände, die tägliche Höchstarbeitszeit zu flexibilisieren, zeigen, wie sehr solche Auseinandersetzungen zum Kapitalismus gehören.
Einzelwirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Perspektive
Das Ausmaß an Intensität sowie zeitlicher Flexibilität von Arbeit und die Länge der Arbeitszeiten sind für abhängig Beschäftigte von zentraler Bedeutung. Für sie geht es um Existenzsicherung, Lebensqualität und nicht zuletzt um Würde: Was darf den abhängig Beschäftigten abverlangt werden, um Profite zu sichern – und was nicht? Wenn Profite auf Kosten der Beschäftigten und ihren Familien erzielt werden, ist das nicht im Interesse der lohnabhängigen Mehrheit.
Diese Frage ist aber auch wirtschaftspolitisch relevant. Ein Unternehmen mag Kostenvorteile haben und Profite steigern, wenn es seine Beschäftigten – verglichen mit Mitbewerbern – flexibler einsetzen kann, wenn es ihnen mehr Arbeitsleistung bei gegebener Arbeitszeit abpresst oder wenn es sie für das gleiche Geld länger arbeiten lässt. Extraprofite und Wettbewerbsvorteile dieser Art führen aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene mitnichten zu Vorteilen. Dies gilt umso mehr, als unter den Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz und vor dem Hintergrund des Strebens nach Profit ein Teufelskreis aus immer mehr Arbeitsintensivierung, immer mehr Flexibilisierung und immer mehr Ausdehnung von Arbeit droht: Jedes Unternehmen hat ein Interesse daran, seine Kosten immer weiter zu drücken.
Wenn kapitalistische Konkurrenz tatsächlich zu gesamtwirtschaftlichen Wohlstandsgewinnen führen soll, dann braucht sie daher Lenkung: Dann muss sie ausschließlich Konkurrenz um möglichst hohe Qualität und möglichst effiziente Produktion sein.
Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive ist es legitim, wenn ein Unternehmen sich gegenüber seinen Mitbewerbern durchsetzt, weil seine Produkte besser sind. Das Gleiche gilt, wenn es sich durchsetzt, weil es effizienter produziert. So ist der Einsatz etwa von Maschinen, Computern und Robotern durchaus wohlstandsfördernd: Technologie erlaubt es, mit weniger Arbeitsaufwand mehr oder besser zu produzieren, also die Produktivität zu steigern. Dass dies keineswegs mit dem Verlust von Arbeitsplätzen einhergehen muss, zeigt ein Blick zurück. Obwohl wir heute ungemein effizienter produzieren als in der Vergangenheit, ist die Zahl der Erwerbstätigen und der Lohnabhängigen in den letzten Jahrzehnten nicht gesunken, sondern gestiegen (ver.di 2016a). Auch das Pro-Kopf-Einkommen der Beschäftigten war nie höher als heute – nicht trotz, sondern wegen zurückliegender Produktivitätsgewinne.
Damit kapitalistische Konkurrenz und Profitstreben allerdings zu einem solchen Mehr an Wohlstand (und nicht zum Verlust an Arbeitsplätzen) führt, müssen spezifische Bedingungen erfüllt sein. So muss jedes Plus an Produktivität mit einer entsprechenden Steigerung der Reallöhne einhergehen. Denn nur so entsteht die Nachfrage, die notwendig ist, damit Unternehmen auch tatsächlich mehr produzieren und entsprechend Arbeitsplätze schaffen. Eine Alternative dazu wäre die Verkürzung und Umverteilung der Arbeitszeit.
Hinzu kommt eine zweite Bedingung: Den Unternehmen muss jede Möglichkeit genommen werden, sich einzelwirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, die nicht auch gesamtwirtschaftlich von Nutzen sind. Es muss also verhindert werden, dass Unternehmen Kosten einsparen, indem sie ihre Beschäftigten flexibler einsetzen, sie bei gleicher Bezahlung länger arbeiten lassen oder ihnen mehr Arbeitsleistung bei gleicher Arbeitszeit abverlangen als andere Unternehmen. Das beste Beispiel für eine Institution, die dies gewährleistet, ist der Flächentarifvertrag. Indem er Arbeits- und Entlohnungsbedingungen für (idealerweise) alle Unternehmen einer Branche einheitlich festlegt, stellt er genau dies sicher. Ähnliches lässt sich auch durch Gesetze erreichen. Beispiele dafür wären etwa die Begrenzung der täglichen Höchstarbeitszeit oder die frühere starke Beschränkung der Leiharbeit. Ein weiteres Beispiel könnte ein so genanntes Anti-Stress-Gesetz sein, wie es die Gewerkschaften zur Verhinderung psychischer Krankheiten fordern: Es soll sowohl die Ausdehnung der Arbeitszeit, insbesondere deren Entgrenzung, als auch die Intensivierung von Arbeit in allen Unternehmen gleichermaßen eindämmen.
Der neoliberale Umbau des Arbeitsmarkts…
Solche Vorkehrungen und Institutionen werden allerdings zunehmend geschwächt. Seit einigen Jahrzehnten ist gesamtwirtschaftliches Denken auf dem Rückzug: Was für ein Unternehmen aus dessen einzelwirtschaftlicher Sicht sinnvoll sei, das sei auch gesamtgesellschaftlich von Nutzen, so die weit verbreitete Annahme. Und wenn unter den daraus folgenden Politik-Konzepten (unter anderem) die Beschäftigten zu leiden haben, dann ist das für viele zwar Grund zu Krokodilstränen, nicht aber zum Umdenken.
Im Ergebnis erlebt nicht nur Deutschland seit Jahrzehnten eine Zunahme flexibler Beschäftigungsverhältnisse – flexibel im Sinne der Unternehmen (Krüsemann 2017; Bauer 2018). Einige Beispiele: Leiharbeit wurde schon in den 1990er Jahren liberalisiert, endgültig entfesselt dann in den 2000ern. Über alle Branchen hinweg ging das Arbeitsvolumen der Vollzeitbeschäftigten seit 1991 von über 47 Mrd. Stunden auf weniger als 41 Milliarden Stunden zurück, das der Teilzeitbeschäftigten – überwiegend Frauen – hingegen stieg von knapp über 4 Mrd. auf fast 12 Mrd. Stunden (Bundestags-Drucksache 19/8076; Kümmerling 2018). Generell ist die Zahl der Beschäftigten mit Nebentätigkeiten angestiegen – wobei hier Minijobs und Arbeit auf Abruf besonders weit verbreitet sind (Graf/Höhne 2019; Bundestags-Drucksache 19/269). Im Dienstleistungsbereich arbeitet lediglich ein knappes Viertel der Beschäftigten niemals abends, nachts oder am Wochenende (ver.di 2016b).
Intensivierung, Flexibilisierung und Ausdehnung von Arbeit führen überdies zu immer höheren Stressbelastungen. Über die Hälfte der Beschäftigten fühlt sich bei der Arbeit gehetzt – die wichtigsten Ursachen dafür sind Multitasking, eine unzureichende Personalausstattung, ungeplante Zusatzaufgaben sowie Zeitmangel. 32 Prozent der Beschäftigten machen sehr häufig oder oft keine oder nur verkürzte Pausen (DGB-Index Gute Arbeit 2015). Ein weiterer Grund ist die Entgrenzung von Arbeit: Ein Drittel der Beschäftigten muss auch in der Freizeit häufig erreichbar sein (DGB-Index Gute Arbeit 2014). Hinzu kommt die Internalisierung betrieblicher Vorgaben und Erwartungen. Mehr Autonomie auf Seiten der Beschäftigten führt keineswegs notwendig zu weniger Arbeitshetze oder einer besseren Work-Life-Balance. Sie steigert in vielen Fällen die Stressbelastung sogar, weil die Betroffenen (vermeintliche) betriebliche Notwendigkeiten – die Fertigstellung eines Projekts, die serviceorientierte Bedienung einer Kundin auch in die Pause hinein – zu ihren eigenen machen (Fischer 2017; Bauer 2018). So greift die einzelwirtschaftliche Logik sogar im Denken der abhängig Beschäftigten Raum.
… und seine ökonomischen Folgen
Obwohl die beschriebenen Veränderungen am Arbeitsmarkt wieder und wieder als Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand dargestellt werden, trifft bei genauerer Betrachtung das Gegenteil zu. Denn es spricht einiges dafür, dass die Flexibilisierung, Intensivierung und zeitliche Ausdehnung von Arbeit zu geringeren Produktivitätssteigerungen führen. Der wichtigste Grund: Wenn Arbeit billig(er) zu haben ist, reduzieren Unternehmen oft ihre Investitionen in Maschinen und Weiterbildung. Eine arbeitsmarktpolitische Strategie, die auf billig und flexibel setzt, führt daher mittel- und langfristig zu geringerem Wohlstand, als es unter anderen Bedingungen möglich wäre (Schiersch 2014; Kleinknecht 2015; Pini 2013).
Eine neoliberale Arbeitsmarktpolitik schadet daher nicht nur den abhängig Beschäftigten, sondern sie schmälert auch die gesamtwirtschaftliche Verteilungsmasse – die dann auch noch ungleicher verteilt wird: »Die negative Konsequenz von Arbeitsmarktreformen (wie etwa ‚Hartz‘) ist jedoch, dass im Zuge des geringeren Produktivitätswachstums der Spielraum für Einkommenssteigerungen kleiner wird. Tatsächlich weisen die Länder mit stärker flexibilisierten Arbeitsmärkten ein relativ bescheidenes Reallohnwachstum und eine stärkere Tendenz zu mehr Ungleichheit in der Einkommensverteilung auf« (Kleinknecht 2015: 4).
Dass sich die Frage der Verteilung gleichwohl auch unabhängig von Arbeitsintensität und Arbeitszeit stellt, sei nicht verschwiegen. Selbst wenn die Verteilungsmasse nicht durch eine falsche Arbeitsmarktpolitik geschmälert wird, können die Einkommen zwischen Kapital und Arbeit oder die Lohneinkommen zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen sehr ungleich verteilt sein. Dass das ist nicht im Interesse der Beschäftigten ist, versteht sich von selbst – ist aber ein eigenes Thema.
Literaturangaben
Bauer, Frank (2018): Zur Regulierung von flexiblen Arbeitszeiten. In: IAB-Stellungnahme 7 (2018).
Bundestags-Drucksache 19/269: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Fabio De Masi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeitszeitvolumen in Deutschland.
Bundestags-Drucksache 19/8076: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, Sylvia Gabelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeitszeitvolumen in Deutschland.
DGB-Index Gute Arbeit (2014): Arbeitszeitgestaltung – Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten, die Verlässlichkeit von Verträgen.
DGB-Index Gute Arbeit (2015): Multitasking, unzureichende Personalausstattung, Arbeit ohne Pause – Profilmerkmale der Arbeitshetze.
Fischer, Michael (2017): Arbeitszeitfragen in beschleunigten Zeiten. In: Romahn, Regine (Hg.): Arbeitszeit gestalten. Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis.
Graf, Sebastian/ Höhne, Jutta et al. (2019): Mehrfachbeschäftigungen in Deutschland. Struktur, Arbeitsbedingungen und Motive. In: WSI Report 47 (2019).
Kleinknecht, Alfred (2015): Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt schaden der Innovation. In: WISO direkt 7 (2015).
Krüsemann, Markus (2017): »Jobwunder«? Vom Umverteilen und Downsizing der Arbeit. https://www.blickpunkt-wiso.de/post/jobwunder-vom-umverteilen-und-downsizing-der-arbeit--2076.html (10.5.19).
Kümmerling, Angelika (2018): Geschlechtsspezifische Unterschiede in den Arbeitszeiten. In: IAQ-Report 8 (2018).
MEW – Marx-Engels-Werke, Band 23: Das Kapital I.
Pini, Paolo (2013): Produttività e regimi di protezione del lavoro. https://keynesblog.com/2013/03/20/produttivita-e-regimi-di-protezione-del-lavoro/ (4.8.16).
Schiersch, Alexander (2014): Atypische Beschäftigung und Unternehmenserfolg. In: DIW Roundup 45 (2014).
ver.di (2016a): Digitaler Kapitalismus ohne Arbeit? In: Wirtschaftspolitische Informationen 2 (2016).
ver.di (2016b): Arbeitszeit und Belastung. Eine Sonderauswertung auf Basis des DGB-Index Gute Arbeit 2014/15 für den Dienstleistungssektor.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.