Auf der Suche nach Neukölln - Die Konstruktion eines „Problembezirks“
5. November 2012 | Sebastian Friedrich
Am 30. Oktober erhielt der Sozialpädagoge und Publizist Sebastian Friedrich den mit 1000 Euro dotierten Gräfin-von der Schulenburg-Preis für seine Abschlussarbeit „Auf der Suche nach Neukölln. Die Konstruktion eines ‚Problembezirks‘“. Die Arbeit, entstanden an der Evangelischen Hochschule Berlin, untersucht das in den Medien dominante Bild des Berliner Stadtteils Neukölln. Friedrich analysiert darin die Stereotypen und Ideologien, die hinter der Deutung Neuköllns als "Problembezirk" stehen. annotazioni.de dokumentiert im Folgenden seinen Kurzvortrag, den er anlässlich der Nominierung für den Preis am 30. Oktober in Berlin hielt.
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Das Thema meiner Diplomarbeit - "Problembezirk Neukölln“ - ist im Oktober 2012 hochaktuell. Ein Buch mit dem bemerkenswerten Titel „Neukölln ist überall“ eines gewissen Heinz Buschkowsky (SPD) rangiert derzeit auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste Sachbuch, der Autor saß in den letzten Wochen in beinahe jeder großen Polittalkshow und präsentierte sich als mutiger zupackender Bezirksbürgermeister, der es wage, die unangenehmen Wahrheiten beim Namen zu nennen. Wie schon während der „Sarrazindebatte“ im Herbst 2010 funktioniert Neukölln auch in der momentanen Debatte als Symbol für den medialen Diskurs. Neukölln gilt als Ort, an dem sich alles Schlimme dieser Gesellschaft verdichtet. Es gilt als zentraler Ort, an dem „Parallelgesellschaften“, „Ausländerkriminalität“, „islamischer Fundamentalismus“ und „soziale Verwahrlosung“ verortet und dadurch anschaulich werden.
Ich habe mich auf die Suche nach diesem dominanten Bild von Neukölln gemacht und gefragt, seit wann Neukölln als „Problembezirk“ gilt und welche Stereotypen, Ideologien und Diskurse hinter dieser Deutung stecken. Für die Suche bediente ich mich aus dem methodologischen Werkzeugkasten der Diskurstheorie Michel Foucaults und der angelehnten Methodik der Kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger und ergänzte das Forschungsprogramm um raumtheoretische Überlegungen. Empirischer Ausgangspunkt der Studie war die mediale Repräsentation von Neukölln im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Dafür habe ich sämtliche - nämlich 334 - Beiträge ab 1990 bis zum Jahr 2011 diskursanalytisch ausgewertet, in denen der Begriff "Neukölln" fiel.
Kommen wir zu den ersten Ergebnissen meiner Studie. Die Anzahl der Artikel über Neukölln nimmt im Zeitverlauf stark zu. Das gestiegene Interesse hängt mit einer gesteigerten Problematisierung zusammen, was sich exemplarisch an der Bezeichnungspraxis darstellen lässt. Schaut man sich an, mit welchen Attributen Neukölln versehen wurde, sieht man, dass dieser Stadtteil in den 1990er Jahren zunächst als „Arbeiterbezirk“ gelabelt wird, spätestens ab 2006 setzt sich allerdings das Attribut des „Problembezirks“ durch.
Die negative Darstellung von Neukölln als „Problembezirk“ beginnt mit dem Artikel „Endstation Neukölln“ im Jahr 1997. Im Beitrag wird wesentlich ein Zusammenhang von Einwanderung, Kriminalität und sozialer Verwahrlosung hergestellt. In der Folgezeit wurde - vor allem auch nach dem 11. September - vermehrt über „islamische Parallelgesellschaften“ berichtet.
Die „Rütlidebatte“ im April 2006 stellt für den Neuköllndiskurs das zentrale Ereignis dar. Spätestens diese Debatte markiert Neukölln als zentralen Repräsentanten eines „Problembezirks“ im gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Diese Deutung wirkt bis heute nach. Zwar wird vermehrt auch darauf hingewiesen, dass Neukölln ja mittlerweile hipp sei und dort viele Künstler_innen und Student_innen wohnten, allerdings frischten die „Sarrazindebatte“ 2010 und sicher auch die aktuelle Debatte um das Buch von Heinz Buschkowsky das Bild von Neukölln als „Problembezirk“ wieder auf. Die Hauptthemen blieben: Kriminalität, Migration und soziale Ungleichheit.
Soviel zu den ersten eher allgemeinen inhaltsanalytischen Ergebnissen meiner Suche. Kommen wir zum explizit diskursanalytischen Teil meiner Studie: Was sagt die Art und Weise der Konstruktion von Neukölln über die Verhandlung der Hauptthemen aus?
Das Ergebnis sei vorweggenommen: Diese Kriminalität, Migration, soziale Ungleichheit werden immer wieder in einen ethnisierenden und kulturalisierenden Sinnzusammenhang gesetzt. Zugleich werden Rassismus und Klassenverhältnisse ausgeblendet.
Nehmen wir das Thema Kriminalität. Wird darüber berichtet, findet eine reflexartige Verknüpfung zur vermeintlichen oder tatsächlichen Herkunft der Täter statt. Durch diese Verknüpfung wird suggeriert, die Herkunft sei ursächlich für Kriminalität. Ähnlich dieser Ethnisierung von Kriminalität werden auch Erwerbslosigkeit und Armut von Migrant_innen primär als Versäumnisse dieser selbst präsentiert. Sie hätten sie sich nicht genügend angestrengt - oder sie seien zu gläubig, denn im Islam sei Bildung nicht so wichtig. Armut und soziale Probleme werden vor allem als kulturelle und ethnische Konflikte präsentiert. Wir haben es also mit einer Ethnisierung sozialer Probleme zu tun.
Die Studie zeigt auch, dass Rassismus bzw. strukturelle und institutionelle Diskriminierung nicht thematisiert werden. Wenn man so will, interessiert „Rassismus als Integrationshindernis“, wie es im Untertitel des Buches „Mediale Barrieren“ des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) heißt, nicht. Ebenso bleiben Strukturen sozialer Ungleichheit bzw. Klassenverhältnisse außen vor. Strukturelle Ursachen, wie die veränderte Produktionsweise im Postfordismus, die Krise des Sozialstaats, neoliberale Deregulierungen, Privatisierungen usw. werden kaum bis gar nicht thematisiert.
Diese Deutungen spiegeln sich in den postulierten Lösungsvorschlägen wider. Deutlich wird das bei der Problembeschreibung der „sozialen Ballung“ bzw. der Forderung nach „Entmischung“. Das Problem bestehe darin, dass Neukölln kulturell und sozial nicht mehr gemischt sei. Die dominante Gegenposition dementiert: Es lebten mittlerweile viele Künstler und Studierende da.
Aus einer diskursanalytischen Perspektive ist nicht von Interesse, was objektiv zutrifft. Vielmehr steht die Analyse der Aussage im Zentrum: Beide sich auf den ersten Blick wiederstreitende Positionen haben gemein, dass sie zwar soziale Ungleichheit thematisieren, aber an keiner Stelle kritisieren. Es wird nicht Armut als solche kritisiert, sondern die Ballung zu vieler Armer. Vorhandene soziale Ungleichheit wird unwidersprochen hingenommen und beinahe als Naturgesetz verstanden. Hinzu kommt der normative Grundgehalt der asymmetrischen Thematisierung von Segregation. So ist Neukölln zwar Thema, es finden sich aber keine Artikel über Bezirke, in denen soziale Segregation in eine andere Richtung zu beobachten ist. Ich habe keine Beiträge gefunden, in denen etwa die „Ballung“ der Mittel- und Oberschicht in manchen Gegenden kritisiert wird. Die sich abschottende Oberschicht etwa in Berlin-Zehlendorf ist kein Thema.
Was hat das mit Sozialer Arbeit tun? Keine Frage, dass es in Neukölln soziale Probleme gibt, dass es Menschen in Armut gibt oder dass es Kriminalität gibt. Das zu leugnen, war nicht das Ziel meiner Suche. Soziale Arbeit muss sich aber Fragen stellen: Was sind ihre Erklärungsmodelle für die Probleme, die sie bekämpfen soll? Wie verhält sich Soziale Arbeit zu dominanten Deutungen, wie ich sie gerade dargestellt habe? Inwieweit schlagen sie sich in Konzepten und Methoden - und Arbeitsfeldern nieder? Das gilt insbesondere für Gemeinwesenarbeit oder für Quartiersmanagements.
Es bedarf weiterer Auseinandersetzungen mit Gesellschaftsbildern sozialer Arbeit - basierend auf grundlegenden Prinzipien. Das können Menschenrechte sein oder das Ideal sozialer Gleichheit und Gleichwertigkeit. Eine Sozialarbeit, die selbstbewusst sein und ernst genommen werden will, muss sich meiner Meinung nach stets politisch einmischen: Erst wenn sie Position bezieht und wenn sie nicht schlicht Symptome bekämpft, sondern nach den Ursachen sozialer Ungleichheit fragt, kann es gelingen, wirkliche Profession zu werden. Die Soziale Arbeit mit den sich entwickelnden Sozialarbeitswissenschaften scheinen mir auf einem guten Weg zu sein. Dennoch ist es unbedingt notwendig, sich mehr mit Gesellschaftstheorie, Gesellschaftsanalyse und nicht zuletzt Gesellschaftskritik zu befassen. Es besteht einiger Nachholbedarf. Wir sollten uns auf die Suche machen.
2013 wird voraussichtlich eine überarbeitete Fassung der Abschlussarbeit in Buchform erscheinen.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.