Dokumentation
Aufruf: Europa geht anders!
16. Mai 2013 | Redaktion
Zahlreiche Politikerinnen und Politiker sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehreren europäischen Ländern haben einen Aufruf unterzeichnet, mit dem sie sich für Demokratie und soziale Sicherheit in Europa und gegen den Merkelschen "Wettbewerbspakt" aussprechen. Der Aufruf wurde am 15. Mai der Öffentlichkeit vorgestellt. Ich dokumentiere ihn im Folgenden.
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Europa geht anders!
Demokratie und Soziale Sicherheit in Europa statt weiterer Sozialabbau durch „Wettbewerbspakt“!
Europa kommt nicht aus der Krise. Die Menschen in Europa befinden sich in der Mitte eines verlorenen Jahrzehnts. Mit jedem Jahr seit Krisenbeginn verschlechtern sich die Nachrichten. Die Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union erreicht Rekordniveaus: 26 Millionen Menschen haben keinen Arbeitsplatz, rund 10 Millionen mehr als vor der Finanzkrise. Monat für Monat steigt die Zahl der Erwerbslosen um fast 200.000. In Spanien und Griechenland beträgt die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen bereits fast 60 Prozent. In den meisten Ländern sinken seit Jahren die Reallöhne. In Zahlen lässt sich das damit verbundene menschliche Elend nicht fassen: In Athen sind hunderttausende Menschen auf Suppenküchen angewiesen, in Spanien kommt es trotz leerstehender Wohnungen zu massenhaften Zwangsräumungen. Heizen können sich viele Menschen im Winter nicht mehr leisten. Das sind Verhältnisse, die in Europa als längst überwunden galten!
Die Krise, die Europa erfasst hat, kam nicht überraschend. Sie ist das Ergebnis einer neoliberalen Politik, die auf den Wettbewerb der Staaten, Marktgläubigkeit und eine weitgehend unregulierte Finanzindustrie setzte. Das Vertrauen auf die Überlegenheit der Märkte hat sich als kolossaler Irrtum erwiesen. Die kontinuierliche Umverteilung von unten nach oben hat in eine Sackgasse geführt. Angewachsen sind riesige Privatvermögen einerseits und (Einkommens-)Armut, ungesicherte Arbeitsverhältnisse, Ausbeutung und wachsende Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite.
Die wachsende Ungleichheit und ruinöse Sparpolitik beeinflussen auch die Geschlechterverhältnisse. Kürzungen und Abbau bei öffentlichen Leistungen und Einrichtungen wie Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Pflege, öffentlicher Verkehr oder Unterstützungen für Menschen mit wenig Einkommen treffen Frauen härter, weil sie ohnehin schon wirtschaftlich schlechter gestellt sind als Männer. Wird der Wohlfahrtsstaat zurückgedrängt, ist auch die wirtschaftliche Eigenständigkeit von Frauen betroffen. Der Abbau des Sozialstaates ist ein Rückschritt für Geschlechtergerechtigkeit und ein Abbau von Frauenrechten.
Die Reaktion der Europäischen Union auf die Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine folgenschwere Kürzungspolitik. Ihre Inhalte lassen erkennen, wer sie formuliert: neoliberal orientierte Staats- und Regierungschefs, Think-Tanks, Medien, Unternehmerverbände, die Finanzindustrie, Teile der EZB und der EU-Kommission. Öffentliche Ausgaben werden eingeschränkt, Privatisierungen vorangetrieben, eine Politik der eingefrorenen Löhne und Lohnsenkungen forciert, ArbeitnehmerInnenschutz wird aufgeweicht, Entlassungen und Betriebsschließungen stehen auf dem Plan. Die Sozialleistungen werden in ganz Europa abgebaut und ausgehöhlt. In dem so entstandenen Klima der Angst um den Arbeitsplatz, um ein gesichertes Einkommen letztlich auch um die nackte Existenz, werden die Beschäftigten, PensionistenInnen und sozial Benachteiligten innerhalb eines Landes und zwischen unterschiedlichen Ländern gegeneinander ausgespielt.
Nicht Teil dieser ‚Reformen’ sind allerdings die Besteuerung von Vermögen, von hohen Einkommen und Unternehmensgewinnen. So steigt die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung und eine der zentralen Krisenursachen nimmt damit weiter zu.
Trotzdem wird diese ungerechte und schädliche Kürzungspolitik noch weiter verschärft und soll weiter verschärft werden und verpflichtend auf alle Mitgliedsstaaten ausgeweitet werden. Teilweise ist dies schon gelungen: Mit einem Paket aus mehreren EU-Rechtsakten und Verträgen wurden die Mitgliedsländer zu drastischen Einschnitten verpflichtet. Die EU-Kommission kann Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten erlassen, wenn die von nationalen Parlamenten beschlossene Wirtschaftspolitik nicht den Vorgaben der Kommission entspricht und „strukturelle Budgetdefizite“ nach Kommissionsauffassung auftreten. Weil das demokratisch kaum durchzusetzen wäre, sind die dafür ordnungsgemäß vorgesehenen Verfahren umgangen worden und das Europäische Parlament hat in diesen neuen Verfahren nur Anhörungs- aber keine Mitentscheidungsrechte.
Obwohl diese ‚Krisenpolitik’ die Krise in Europa verschärft und Europa in eine Rezession geführt hat, sollen diese Maßnahmen und Instrumente noch vertieft werden. Geht es nach Angela Merkel mitsamt den neoliberalen Entscheidungsträgern und der EU-Kommission, sollen beim Gipfel des Europäischen Rates im Juni 2013 Beschlüsse gefasst werden, nach denen sich alle Mitgliedsstaaten in bindenden „Verträgen für Wettbewerbsfähigkeit“ zu “Strukturreformen“ verpflichten. Damit sind beispielsweise Lohn- und Renten bzw. Pensionskürzungen, längere Arbeitszeiten, Privatisierungen, Kürzungen im Bildungswesen und Gesundheitssystem gemeint. Diesmal soll es sogar egal sein, ob Budgetdefizite bestehen oder nicht – wer mitmacht, muss die „Strukturreformen“ auch dann umsetzen, wenn das nationale Budget ausgeglichen ist.
Mit Zuckerbrot und Peitsche soll der Widerstand der Menschen überwunden werden:
- für eine zeitgerechte Umsetzung der „Strukturreformen“ soll den Mitgliedsländern nach derzeitigen Plänen finanzielle Förderungen gewährt werden,
- wenn die Parlamente die Anordnungen des „Reformbündnisses“ jedoch nicht umsetzen, drohen Verwarnungen und letztlich Sanktionen in Form von Geldbußen.
Wir sprechen uns gegen die Pläne für dieses, sogenannte EU-„Instrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit“ aus. Die bisherige Austeritätspolitik muss endlich beendet werden. Es braucht eine Kehrtwende hin zu einem demokratischen, sozialen und ökologischen Europa der Vielen! Und das heißt:
- eine europäische Umverteilung des Reichtums durch faire Einkommen und höhere Gewinn- und Vermögensbesteuerung
- Beendigung der Lohnsenkungspirale
- und damit Abbau der riesigen Ungleichgewichte (enorme Leistungsbilanzüberschüsse bzw. weniger Länder auf Kosten von -defiziten anderer Landes) zwischen den Ländern innerhalb der Währungsunion
- Stärkung der ArbeitnehmerInnenrechte, ArbeitnehmerInnenschutzbestimmungen und Gewerkschaftsrechte
- Wiederregulierung und Schrumpfung der Finanzmärkte,
- Umfassende Demokratisierung der europäischen (Wirtschafts-)Politik
- Vereinbarungen zur Verringerung der Erwerbsarbeitslosigkeit in allen EU-Staaten
- ein europäisches Investitionsprogramm zum Ausbau der Infrastruktur und zum ökologischen Umbau sowie
- eine – schrittweise zu entwickelnde – europäische Sozialunion.
Eine Vertiefung der Europäischen Union muss eine Stärkung der Demokratie und das Wohlergehen aller Menschen in Europa zur Voraussetzung haben.
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Hier kann der Aufruf unterzeichnet werden: http://www.europa-geht-anders.eu/
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Zu den Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern gehören unter anderem (die vollständige Liste findet sich auf der eben genannten Webseite):
- Ulrich Brand, Universität Wien
- Leni Breymeier, SPD und verdi
- Andreas Fischer-Lescarno, Universität Bremen
- Heiner Flassbeck, ehemals UNCTAD
- Dirk Hirschel, verdi
- Gustav Horn, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung
- Andrej Hunko, Die Linke
- Katja Kipping, Die Linke
- Elisabeth Klatzer, Wirtschaftsuniversität Wien
- Stephan Lessenich, Universität Jena
- Marie-Noelle Lienemann, Parti Socialiste
- Hilde Mattheis, SPD
- Matthias Miersch, SPD
- Robert Misik, Autor
- Lukas Oberndorfer, Arbeiterkammer Wien
- Alexis Passadakis, attac Deutschland
- Mehrdad Payandeh, DGB
- Nina Scheer, SPD
- Stephan Schulmeister, Ökonom
- Thorsten Schulten, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut
- Friederike Spieker, Wirtschaftspublizistin
- Ralf Stegner, SPD
- Axel Troost, Die Linke
- Sascha Vogt, Jusos in der SPD
- Peter Wahl, WEED
- Frieder Otto Wolf, Freie Universität Berlin
- Andrea Ypsilanti, SPD