Bastiaan van Apeldoorn: „Viele Menschen wollen eine andere Politik und ein anderes Europa“
4. Oktober 2012 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Bastiaan van Apeldoorn über gescheiterte Konzepte der europäischen Integration. Bastiaan van Apeldoorn ist Sozialwissenschaftler an der Freien Universität Amsterdam. Zu seinen Schwerpunkten gehören Politische Ökonomie, Geopolitik und die Europäische Integration.
Welche Grundausrichtung hatte die Wirtschaftspolitik in Europa in den vergangenen 10 bis 20 Jahren; an welchen Prinzipien richtete sie sich aus?
Bastiaan van Apeldoorn: Europäische Wirtschaftspolitik kann als neoliberal charakterisiert werden. Sie hatte das Ziel, Märkte zu öffnen und Marktprozesse zu vertiefen. Die europäische Integration war seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zunehmend vom Neoliberalismus geprägt. Der Integrationsprozess verfolgte dabei zwei Hauptziele: Die Schaffung und Vertiefung des europäischen Binnenmarkts sowie die Schaffung einer Währungsunion. Dies ging damit einher, dass soziale, ökologische oder andere denkbare Ziele nur noch als zweitrangig galten. Regulierungsmechanismen, mit denen man Marktergebnisse hätte korrigieren können, wurden gerade nicht zu einem zentralen und effektiven Bestandteil der europäischen Integration gemacht. Das Ergebnis war ein asymmetrisches Europa: Dem transnationalen Kapital wurde maximale Freiheit gegeben; dem gegenüber traten die Staaten in Konkurrenz zueinander, um dieses mobile Kapital durch eine marktfreundliche Politik für sich zu gewinnen. Dies ging auf Kosten der abhängig Beschäftigten wie auch der einfachen Bürgerinnen und Bürger.
Europa bildet heute einen ökonomisch integrierten Raum mit einem Binnenmarkt und der freien Mobilität von Kapital, von Waren und – in geringerem Umfang – von Dienstleistungen. Makroökonomische Instrumente (wie Fiskalpolitik und Geldpolitik) hingegen wurden durch die Regeln der Währungsunion in ihren Möglichkeiten drastisch beschnitten. Währungen abzuwerten und dadurch Volkswirtschaften zumindest prinzipiell wieder wettbewerbsfähiger zu machen, ist in einer Währungsunion ohnehin nicht mehr möglich. Damit verbleibt als einziger Anpassungsmechanismus der Eingriff in die Löhne bzw. in den Arbeitsmarkt. Das einzige, was Regierungen in ökonomisch schwierigen Situationen noch machen können, um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Länder zu erhöhen, ist das Mäßigen oder Senken von Löhnen, das Senken von Sozialleistungen sowie die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen. Genau diese Politik des Abbaus sozialer Sicherheit wurde von der Europäischen Union vorangetrieben. Vorgebliches Ziel war es, „sozialen Zusammenhalt“ mit mehr „Wettbewerbsfähigkeit“ zu verbinden. Dies war die so genannte Lissabon-Strategie, der nun die so genannte Strategie „Europa 2020“ folgt. Anstatt aber sozialen Zusammenhalt zu fördern, hat diese Strategie für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunehmende Armut und soziale Unsicherheit geschaffen. Und auch aus volkswirtschaftlicher Sicht muss sie als gescheitert bezeichnet werden.
Sie sprechen in Ihren Veröffentlichungen immer wieder von "Finanzialisierung". Was ist damit gemeint? Welche Konsequenzen hat Finanzialisierung für Sozialstaat, Arbeitsmarktregulierung und Demokratie in Europa?
Bastiaan van Apeldoorn: Finanzialisierung kann auf verschiedene Weise definiert werden. Eine Möglichkeit ist, darunter den Umstand zu fassen, dass Finanzkapital bzw. Geldkapital mittlerweile politisch und ökonomisch wichtiger geworden sind als Industriekapital bzw. Produktivkapital. Mit anderen Worten: Kapitalbesitzende versuchen zunehmend, direkt aus Geld noch mehr Geld zu machen, anstatt es zuerst in die Ausweitung der Produktion zu investieren. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, zum Beispiel die Vergabe von Krediten, aber auch der – oft kurzfristige – Handel mit Aktien, Staatsanleihen sowie den so genannten Derivaten. Diese zunehmend spekulativen Formen des Kapitals haben für Banken, Hedge Fonds und andere Finanzinstitutionen, wie auch für deren Eigner, riesige Profite generiert. Im Kontext weltweiter Liberalisierung der Märkte und folglich der Globalisierung von Finanzmärkten bedeutete dies aber zugleich auch, dass der Finanzsektor – im Vergleich zur Realwirtschaft – zu einer enormen Größe angewachsen ist. Eine Größe, die sich als völlig untragbar herausgestellt hat.
Finanzialisierung geht aber auch über den Finanzsektor als solchen hinaus. So haben auch Unternehmen, die nicht dem Finanzsektor zuzuordnen sind, Teile ihrer Profite in den Finanzmärkten angelegt. Zugleich wurde die Bezahlung der Manager von Aktiengesellschaften an die kurzzeitige Entwicklung des Börsenkurses ihres Unternehmens gebunden. Resultat des Ganzen war und ist, dass der Finanzsektor nicht mehr die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der Realwirtschaft bedient, indem er Konsum und Investitionen finanziert, sondern er längst seine eigene interne spekulative Dynamik entwickelt hat. Dies ging zu Lasten von gesamtwirtschaftlichem Wachstum, von Arbeitsplätzen und Löhnen.
Die Finanzmärkte haben sich in den letzten Jahren zu einem gigantischen Schneeballsystem entwickelt, das 2008 mit der Pleite von Lehman Brothers und dessen Folgen zusammengebrochen ist. Doch trotz dieser größten Krise seit den 1930er Jahren können wir nirgendwo eine echte Re-Regulierung des Finanzsektors beobachten. Ganz im Gegenteil hat man in Europa im Zuge der Staatsschuldenkrise das Vertrauen dieser Finanzmärkte faktisch sogar zum sakrosankten Maßstab erhoben. Dies ist eine bewusste politische Entscheidung. Würden wir hingegen die strikte Regulierung der Finanzmärkte wieder einführen, die seit den 1930er Jahren aufgebaut worden war, hätten wir eine völlig andere Situation.
Wie passt bzw. passte der Euro bzw. die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion in die neoliberale Grundausrichtung europäischer Wirtschaftspolitik der letzten Jahre?
Bastiaan van Apeldoorn: Die so genannte Wirtschafts- und Währungsunion ist faktisch eine reine Währungsunion. Sie hat die neoliberale Sozial- und Wirtschaftspolitik verstärkt und institutionalisiert. Die Einführung einer einheitlichen Währung wurde, wie es auch beabsichtigt war, zu einem Meilenstein finanzieller Liberalisierung. Finanzkapital wurde freier, als es jemals zuvor war. In der Tat, die Währungsunion wurde zu einem ganz grundlegenden Element dieses neoliberalen Europa.
Welche Maßnahmen wären notwendig zur Bekämpfung der Krise? Wie müsste Europa gestaltet werden?
Bastiaan van Apeldoorn: Zunächst einmal müsste man die wirklichen, die strukturellen Ursachen der Krise zur Kenntnis nehmen und damit aufhören, die Krisenstaaten Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien zu beschimpfen. In den nördlichen Staaten Europas gibt es einen Mythos, der von der Merkel-Regierung und den Regierungen anderer Gläubigerstaaten gepflegt wird: Ich meine den Mythos, dass in erster Linie mangelnde Haushaltsdisziplin in Verbindung mit Korruption oder sogar „Faulheit“ in Südeuropa zur Krise geführt habe. Mit solchen Behauptungen lenkt man natürlich auch von der eigenen Verantwortung ab. Sieht man sich allerdings Daten und Fakten zur Staatsverschuldung an, so stellt man beispielsweise fest, dass Spanien und Irland vor der Krise sehr viel besser dastanden als etwa Deutschland. Das Problem dieser Länder waren über alle Maßen aufgeblähte Finanz- und Immobiliensektoren.
Eine wichtige strukturelle Ursache der aktuellen Krise ist der enorme ökonomische Unterschied zwischen Nord und Süd, der sich durch die Währungsunion sogar drastisch ausgeweitet hat. Deutschland, die Niederlande und andere Staaten haben auf Kosten der abhängig Beschäftigten eine aggressive Exportstrategie verfolgt – sie haben Löhne gedrückt, Sozialleistungen gesenkt und ähnliches. Dies machte es für die schwächeren Ökonomien zunehmend schwierig, wettbewerbsfähig zu bleiben. Auf der einen Seite hatte man hierdurch Länder mit Außenhandelsdefiziten, die diese Defizite zunehmend durch Kredite finanzieren mussten. Auf der anderen Seite hatte man Länder mit Außenhandelsüberschüssen, aus denen diese Kredite an die Außenhandelsdefizitländer vergeben wurden. Mit der Finanzkrise 2008 ist dieses System zusammengebrochen.
Hintergrund des Ganzen war und ist die Finanzialisierung und die Deregulierung der Finanzmärkte. In einem ökonomisch sehr ungleichgewichtigen, finanziell aber integrierten europäischen Markt kann Kapital sich völlig frei bewegen. Genau das war eine Ursache der Krise, und genau das wird uns derzeit einmal mehr zum Problem.
In welcher Weise ändert sich derzeit das Regieren in Europa?
Bastiaan van Apeldoorn: Wir erleben eine Vertiefung der Legitimationskrise, unter der das europäische Projekt seit vielen Jahren leidet. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die ökonomische Integration weitgehend auf den freien Handel von Gütern beschränkt. Ab den späten 1980er und frühen 1990er Jahren aber, mit der Schaffung des europäischen Binnenmarkts und der Währungsunion, ist die europäische Integration über den reinen Güterhandel weit hinausgegangen. Sie griff nun direkt in die sozialen und wirtschaftlichen Ordnungen der Mitgliedstaaten ein und suchte diese umzugestalten. Diese neoliberale europäische Politik wurde aber zunehmend als Bedrohung einzelstaatlicher Institutionen und Werte aufgefasst – in Teilen auch, weil diese Politik zu einer zunehmenden sozialen und ökonomischen Unsicherheit geführt hat. Entfremdung gegenüber Europa hat zugenommen. Und die derzeitige Krise hat ohne Zweifel die Legitimität der Europäischen Union weiter erodieren lassen. Die Antwort der europäischen Spitzen auf die Krise war ja gerade nicht, Legitimität zurückzugewinnen, indem man auf die Bedürfnisse und Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger eingegangen wäre. Vielmehr fasst man diese Bedürfnisse und Vorstellungen – und damit Demokratie an sich – als Problem auf, das eine effektive Krisenbekämpfung erschwere. Die hysterischen Reaktionen auf die Forderung des damaligen griechischen Ministerpräsidenten Papandreou nach einem Referendum zeigen dies überdeutlich. Und auch die Art und Weise, wie den technokratischen Regierungen in Griechenland und Italien gehuldigt wurde, ist ein Beispiel dieser antidemokratischen und kurzsichtigen Mentalität.
Werden wir mehr Demokratie und eine Abkehr von den gescheiterten wirtschaftspolitischen Konzepten der Vergangenheit erleben?
Bastiaan van Apeldoorn: Nun, das ist eine wichtige Frage. Und sie ist schwer zu beantworten. Ich möchte gerne optimistisch sein, fürchte aber, dass die Krise sich erst noch dramatisch verschlimmern muss, bis wir an einen solchen Wendepunkt kommen. Offensichtlich ist, dass die derzeitigen ökonomischen und politischen Eliten nicht aus dem Scheitern neoliberaler Politiken und der dahinterstehenden ökonomischen Konzepte gelernt haben. Sie sind weder in der Lage noch willens, mit einer wirklichen Lösung der Krise auch nur zu beginnen.
Sicher wünschen sich viele Menschen eine andere Politik und ein anderes Europa. Allerdings gibt es derzeit kein echtes Gegenprojekt. Gerade die Linke und die Gewerkschaftsbewegung waren ja die wesentlichsten Opfer des Neoliberalismus. Die Arbeitsmärkte wurden fragmentiert, Solidarität auf diese Weise reduziert. Sozialdemokratische Parteien haben sich zu sehr in Marktmythen verstrickt – jetzt suchen sie wieder nach ihren Wurzeln. In der Zwischenzeit zerstört die Krise vieles von dem, was an Idealen der europäischen Integration noch übrig ist. Möglicherweise ist es noch nicht zu spät, allerdings brauchen wir einen radikal anderen Weg als jenen, den die Regierungen mit jedem Eurogipfel immer weiter beschreiten. Es wird Europa nur geben können, wenn es endlich ein demokratisches und ein soziales Europa ist.
Dieses Interview erschien zuerst in WISO-Info 3 (2012).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.