Bericht zum Stand der Auseinandersetzung über die Rentenreform in Frankreich
27. Januar 2020 | Armin Duttine
Die Auseinandersetzung um die Rentenreform in Frankreich spitzt sich zu. Dabei wird von Medien in Frankreich und in Deutschland nicht immer ausgewogen berichtet. Es kursieren zum Teil falsche Nachrichten, oder bestimmten Ereignissen werden Behauptungen hinzugedichtet.
Transportiert werden in den Medien und von Seiten bestimmter Akteure folgende Eindrücke:
- 1. Der Protestbewegung ginge die Luft aus und würde die Unterstützung verlieren.
- 2. Es würde nun mit Gewalt, insbesondere gegen stärker kompromissbereite Gewerkschaften und Regierungsvertreter*innen gearbeitet werden.
- 3. Die Regierung hätte den Plan, das Renteneintrittsalter von heute 62 auf 64 Jahre zu erhöhen, aufgegeben.
Die Behauptungen 1 und 3 sind schlichtweg falsch. Die Behauptung 2 ist je nach Sichtweise, was Gewalt ist, richtig oder falsch bzw. nicht so einfach zu entscheiden.
Zu 1. Der Protestbewegung ginge die Luft aus und würde die Unterstützung verlieren
Ja, es ist so, dass Streiks suspendiert wurden. Diese dauern ja auch seit dem 5. Dezember 2019 an. Dies ist der längste Streik seit 1968. Sie sind aber gerade am Freitag, den 24.01.2020 anlässlich der Verabschiedung der Rentenpläne durch das französische Kabinett wieder aufgeflammt und die Streiks z.B. bei der französischen Bahn SNCF und dem Pariser Nahverkehrsunternehmen RATP sind wiederaufgenommen worden. Neu ist, dass die acht größten Seehäfen von der CGT – sie stellt dort praktisch alle Mitglieder – für mehrere Tage blockiert werden. Weiterhin im Streik sind z.B. Erziehungs- und Postbeschäftigte. Weiterhin ist aber auch die Beteiligung aus der Privatwirtschaft an den Streiks relativ gering. Dort kommt es zumeist nicht zu sich verlängernden Streiks (»grève reconductible«), sondern nur zu kurzfristigen, z.T. nur stundenweisen Aktionen (wie z.B. in der Metallindustrie). Damit wird das seit vielen Jahren vorherrschende Streikmodell fortgeführt, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst die Hauptlast des Streiks tragen – dies jedoch mit Unterstützung der Bevölkerung. Man spricht auch vom Stellvertreterstreik (»grève de procuration«).
Auch sind es die gleichen Gewerkschaften wie zuvor, die zum Protest und Streik aufrufen – die CGT, FO, FSU, Solidaires und die Gewerkschaft der Führungskräfte CFE-CGC. Nicht beteiligt sind weiterhin die CFDT, UNSA und CFTC, wobei die UNSA-Beschäftigten bei der RATP wieder in den Streik getreten sind. Was die Streikbewegung hemmt, ist, dass den Streikenden schlicht das Geld ausgeht, da es kein Streikgeld gibt. Hier springen nun verstärkt von den Gewerkschaften oder von unabhängiger Seite organisierte Streikkassen ein. Aber auch Bürger*innen engagieren sich und führen Spendenaktionen wie z.B. Spendenpartys durch.
Trotz der Schwierigkeiten, den Protest aufrecht zu erhalten, kann jedoch nicht die Rede davon sein, dass die Französ*innen nicht weiterhin die geplante Reform kritisieren. 61 Prozent fordern, dass die Regierung die Pläne zurücknehmen soll (vgl. ▸https://www.bfmtv.com/politique/sondage-bfmtv-69percent-des-francais-estiment-qu-emmanuel-macron-ne-sera-pas-reelu-en-2022-1845356.html ). Dieser Wert ist in den letzten Tagen sogar angestiegen.
Bedenklich stimmen Forderungen aus dem Arbeitgeberlager, das Streikrecht in Frankreich einzuschränken. Auf der anderen Seite zeigt dies, dass die Streiks eine Wirkung haben, die die Arbeitgeberseite beunruhigt.
Was die Proteste auch deutlich machen, ist, dass die Beschäftigten selbst wieder das Heft in die Hand nehmen. An der Gelbwesten-Bewegung haben sich stark auch kleine Selbständige beteiligt bzw. deren Proteste haben auf der Straße und nicht in den Betrieben stattgefunden. Die Arbeiterbewegung in Frankreich ist also wieder zurück.
Von Seiten der Opposition kann man eine Annäherung der Positionen der Sozialist*innen, der Grünen und der Kommunist*innen verzeichnen. Nicht an solchen politischen Annäherungen beteiligt sich aber weiterhin die größte linke Bewegung France Insoumise (FI).
Bedenklich stimmen muss, dass der Rassemblement National (früher Front National) aus den Protesten Vorteile ziehen könnte. Im Gegensatz zu früher unterstützt der RN nun verbal die Proteste der Gewerkschaften und versucht, dies mit einer gehörigen Prise Fremdenfeindlichkeit zu ergänzen. Die protestierenden Gewerkschaften machen klar, dass sie eine Beteiligung des RN an ihren Demonstrationen nicht erwünschen. Im Fokus steht beim RN die Kritik an der Politik Deutschlands, das die Parteiführerin Le Pen für die sozialen Ungleichgewichte in Europa verantwortlich macht. Auch der FI-Politiker Jean-Luc Mélenchon macht damit Politik, indem er z.B. gegenüber der Zeitung Die Welt betont: »Das deutsche Imperium hat Europa ins Schwanken gebracht.«(1) Man wird sehen, welche Ergebnisse die kommenden Kommunalwahlen im März 2020 ergeben werden.
Zu 2. Es würde nun mit Gewalt, insbesondere gegen stärker kompromissbereite Gewerkschaften und Regierungsvertreter*innen gearbeitet werden
Es kam zwei Mal zu einem Eindringen von protestierenden Gewerkschafter*innen in den Hauptsitz der CFDT. Hierbei waren u.a. Mitglieder des Streikkollektivs SNCF-RATP sowie der Energiegewerkschaft der CGT beteiligt. Bei der ersten Aktion wurde kurz in den Eingangsbereich der CFDT eingedrungen. Nach Darstellung des CFDT-Vorsitzenden Laurent Berger seien CFDT-Beschäftigte verbal und körperlich angegriffen worden. Dies wird von Teilnehmenden dementiert. Auf Youtube ist diese Aktion gefilmt worden: ▸https://www.youtube.com/watch?v=jLHj_HIS6BM. Jede und jeder sollte sich selbst einen Eindruck davon verschaffen, ob dies eine gewalttätige Aktion gewesen ist. Bei der zweiten Aktion wurde von CGT-Aktivist*innen die Stromversorgung im Gebäude der CFDT unterbrochen. Die CFDT hat Anzeige erstattet.
Es ist auch so, dass die Basis der Beschäftigten zunehmend unabhängig von den Gewerkschaftsführungen die Proteste in die Hand nehmen. So werden Auftritte oder private Termine von Regierungsmitgliedern bis zum Präsidenten benutzt, um seinen Protest auszudrücken. Am kreativsten kann vielleicht die Aktion bei Radio France angesehen werden, wo die Direktorin Sibyle Veil bei ihrer geplanten Neujahrsrede nicht zu Wort kam, da der Chor des Radios Verdis »Gefangenenchor« so lange lautstark sang, bis sie aufgeben musste. Freiberufliche Anwält*innen schmissen der Justizministerin Nicole Belloubet ihre Roben vor die Füße. Fußballfans vertrieben die Sportministerin Roxana Mărăcineanu aus einem Stadion.
Zu 3. Die Regierung hätte den Plan, das Renteneintrittsalter von heute 62 auf 64 Jahre zu erhöhen, aufgegeben
Mit den protestierenden Gewerkschaften hatten auch die nicht streikenden Gewerkschaften CFDT, UNSA und CFTC gefordert, das Renteneintrittsalter (2) nicht zu erhöhen. Die Regierung hat aber im Gegensatz zu zahlreichen Meldungen diese Forderung nicht erfüllt, sondern sie hat ihre Pläne hierzu nur ausgesetzt. Es soll bereits ab nächster Woche eine so genannte »Finanzierungskonferenz« von Gewerkschaften und Arbeitgebern stattfinden. Daran nehmen auch die protestierenden Gewerkschaften teil. Die Konferenz soll Lösungen zu folgenden Zielen vorschlagen: Fixierung der Rentenkosten auf 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und gleichzeitig keine Kürzungen für die einzelnen Rentner*innen. Es wird sich vermutlich herausstellen, dass diese Zielstellungen unvereinbar sind. Dem hat die Regierung bereits vorgebaut und angekündigt, dass sie auf dem Verordnungsweg ohne Abstimmung und Debatte im Parlament das »âge pivot« festsetzen wird. Das hat die Regierung als »nicht verhandelbar« dargestellt.
Überhaupt ist ein wesentliches Strukturelement der geplanten Reform, dass zukünftige Rentenanpassungen durch ein neues System ohne die Notwendigkeit eines Parlamentsbeschlusses möglich werden. Hierzu dient die Einführung des Punktesystems, indem der Wert eines Punktes je nach wirtschaftlicher und demografischer Entwicklung verändert wird. Auch das Renteneintrittsalter soll durch die Regierung nachjustiert werden können. Hierbei soll insbesondere auch die Entwicklung der Lebenserwartung einfließen. Regierungsprognosen rechnen damit, dass das Renteneintrittsalter auf 65,4 Jahre für den Jahrgang 1980 und auf 66 Jahre für den Jahrgang 1990 ansteigen wird. Vom System her würden Forderungen der EU-Kommission aus dem Weißbuch Rente, die z.B. auch von der Deutschen Bundesbank für Deutschland erhoben werden, in die Realität umgesetzt werden. Bedacht werden sollte, dass dies später auch Rückkopplungen auf Deutschland haben könnte.
Angesichts der Themenstellung der Finanzierungskonferenz hat die Regierung vorgebaut und treibt die Rentenreform weiter parlamentarisch voran. Am Freitag, den 24.01.2020 verabschiedet das Kabinett den Reformvorschlag. Dabei kritisiert selbst die konservative Opposition, dass zu viele Dinge unklar seien und dass insbesondere das finanzielle Gerüst der Reform unklar bleiben würde.
Anmerkungen
(1) Tatsächlich ist es aber so, dass die Sozialkürzungen in Deutschland angesichts des EU-Binnenmarkts das französische Wirtschafts- und Sozialmodell und das anderer Länder in der EU unter Druck setzt. Nicht nur ist das Renteneintrittsalter im Vergleich zu Deutschland weitaus höher, die durchschnittliche Rente ist mit 906 Euro monatlich in Deutschland auch deutlich geringer als in Frankreich, wo derzeit 1.389 Euro gezahlt werden.
(2) Technisch geht es um die Einführung eines Gleichgewichtsalters (»âge pivot«) von 64 Jahren – ein früherer Renteneintritt soll zu einem Malus führen, ein späterer zu einem Bonus. Das derzeitige Renteneintrittsalter liegt bei 62 Jahren und soll formal nicht geändert werden. Für eine volle Rente müssen Jahrgänge ab 1973 43 Beitragsjahre leisten, bei älteren Jahrgängen ist die Anzahl der Beitragsjahre kürzer mit einer Mindestdauer von derzeit 41,5 Beitragsjahren. Dies ist bereits bei früheren Reformen beschlossen worden.
Basis der Informationen sind insbesondere die Artikel in der aktuellen Ausgabe von Jungle World vom 23.01.2020 auf den Seiten 3-5 sowie weitere Artikel insbesondere dieser Zeitung.
Armin Duttine arbeitet als Gewerkschaftssekretär im Fachbereich Gemeinden in der ver.di-Bundesverwaltung und ist dort unter anderem für europäische Themen zuständig.