Interview
Bernhard Reinsberg: »Ein starker Zusammenhang zwischen IWF-Präsenz und Massendemonstrationen«
17. Februar 2021 | Georgios Chatzoudis
Bernhard Reinsberg über den Einfluss des Internationalen Währungsfonds auf die Sicherheit von Staaten. Reinsberg ist promovierter Politikwissenschaftler an der Universität Glasgow.
Herr Dr. Reinsberg, Sie untersuchen zurzeit in einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojekt die Auswirkungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) auf die Sicherheit von Staaten. Bevor wir zu einigen Einzelheiten kommen, was genau verstehen Sie hier unter Sicherheit? Der IWF ist doch kein Akteur der Sicherheitspolitik, oder? Welche Vorüberlegungen haben Sie da geleitet?
Reinsberg: Der Internationale Währungsfonds (IWF[1]) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um durch Überwachung der Wirtschafts- und Währungspolitiken der Mitgliedsländer zur Stabilität des internationalen Finanzsystems beizutragen. Zudem bietet der IWF seinen Mitgliedsländern technische Unterstützung an, um sie bei der Formulierung und Umsetzung einer effektiven Wirtschafts- und Finanzpolitik zu stärken. Diese Tätigkeiten zielen auf die Krisenprävention ab.
Nach dem Zerfall des Bretton-Woods-Währungssystems hat sich die Rolle des IWF grundlegend gewandelt. Die globale Ölpreisentwicklung hatte viele Länder in die Verschuldung getrieben, so dass diese rasch Hilfskredite benötigten. In diesem Zusammenhang hat der IWF zunehmend die Rolle eines »Geldgebers der letzten Instanz« vollführt, der notleidenden Volkswirtschaften im globalen Süden mit Krediten unter die Arme greift. Diese Kredite gab es jedoch nur zu strikten Konditionen[2], die zum Teil massiv in das institutionelle Gefüge der Entwicklungsländer eingegriffen haben.
Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist es, dass diese Eingriffe nicht nur Folgen für die lokale Wirtschaft haben, sondern auch für staatliche Institutionen[3] selbst. Insofern ist der IWF ein Akteur, der für die Sicherheit mitverantwortlich ist - und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits können IWF-Programme die Sicherheit eines Staates im klassischen Sinne beeinflussen, zum Beispiel durch Einsparungen beim Militär und der Verwaltung und durch ein erhöhtes Risiko von politischer Instabilität[4] sowie coups d’état[5]. Andererseits können die Programme die individuelle Sicherheit der Bürger ganz direkt beeinflussen. In der Wissenschaft wird hierfür auch der Begriff der human security[6] gebraucht. Zum Beispiel können die vom IWF geforderten Sparmaßnahmen die Lage der notleidenden Bevölkerung verschlimmern. Kritiker[7] betonen, dass die rigide IWF-Sparpolitik die Ebola-Krise in Westafrika weiter beschleunigt hat. Selbst in Griechenland - einem vergleichsweise reichen Land - kam es im Zuge der IWF-Programme zu erhöhten Krankheitsausbrüchen[8]. Sparmaßnahmen im Bereich der Polizei können ebenfalls die Sicherheit verschlechtern, selbst wenn dies nur die gefühlte Sicherheit betrifft.
Der IWF ist also in der Tat ein sicherheitsrelevanter Akteur. Ein verengter Blick auf rein wirtschaftliche Fragen im Zusammenhang mit IWF-Programmen greift daher zu kurz. Unser Projekt hat es sich zum Ziel gesetzt, einerseits die Folgen des Handelns des IWF für die Sicherheit von Staaten und ihren Bürgern zu erforschen, und andererseits den sicherheitspolitischen Diskurs im IWF aufzuspüren.
Ihrer These nach können die Maßnahmen beziehungsweise Auflagen des IWF zu Staatszerfall und sozialen Unfrieden führen. Das widerspricht nicht nur der Selbstdarstellung des IWF, sondern auch vieler Stimmen aus Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft. Demnach sei der IWF vor allem dazu da, Staaten, die überschuldet beziehungsweise nicht mehr zahlungsfähig sind, mit Krediten zu stützen und zu stabilisieren. Wie kommen Sie nun dazu, das Gegenteil zu behaupten?
Reinsberg: Der IWF leistet wichtige Arbeit in der Überwachung der globalen Finanzmarktstabilität und der Bereitstellung von technischer Assistenz zum Beispiel was den Aufbau von Steuersystemen[9] anbelangt. Als Kreditgeber hat der IWF jedoch versagt - das muss man leider so sagen. Der Hauptkritikpunkt liegt darin, dass der IWF im Gegenzug zur Gewährung von Krediten weitreichende Reformen einfordert, die viele Probleme mit sich bringen, aber kaum etwas zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage beitragen. So haben einflussreiche Studien[10] belegt, dass IWF-Programme sogar das wirtschaftliche Wachstum reduzieren, selbst wenn man berücksichtigt, dass womöglich die ohnehin krisenanfälligeren Staaten solche Programme anfordern.
Weniger Beachtung in der Literatur haben jedoch die durch IWF-Programme herbeigeführten soziopolitischen Verwerfungen erfahren. In einem dreijährigen interdisziplinären Forschungsprojekt an der Universität Cambridge hatte ich mich mit diesem Thema eingehend beschäftigt. Entgegen der Erwartungen vieler Ökonomen hatten wir herausgefunden, dass insbesondere diejenigen IWF-Konditionen, die sehr stark in das institutionelle Gefüge von Staaten eingreifen, die Qualität der staatlichen Verwaltung verringern[11] und das Korruptionsrisiko erhöhen[12]. Besonders problematisch waren Bedingungen, welche die Staaten zum Abbau der öffentlichen Beschäftigung, zur raschen Privatisierung staatseigener Betriebe und der Liberalisierung von Märkten verpflichteten. In Anbetracht dieser Ergebnisse hat uns interessiert, ob IWF-Programme und ihre marktliberalen Reformen negative Auswirkungen auf die Sicherheit ausüben können.
Könnten Sie vielleicht an einem konkreten Beispiel zeigen, wie destabilisierend die IWF-Politik wirken kann? Nehmen wir das Beispiel des sozialen Friedens in einer Gesellschaft. Warum kann der IWF darauf einen Einfluss haben?
Reinsberg: In einem unserer Arbeitspapiere gehen wir mithilfe von systematischen statistischen Analysen der Frage nach, inwieweit IWF-Programme und ihre marktliberalen Reformen die Wahrscheinlichkeit von Massenprotesten[13] beeinflussen. Ein sehr gutes Beispiel ist Ecuador, wo sich Präsident Lénin Moreno nach Massenprotesten gezwungen sah, die kurz zuvor auf Empfehlung des IWF abgesetzten Subventionen für Benzin wieder einzuführen. Im Oktober 2019 hatten die Demonstrierenden die Hauptstadt Quito tagelang belagert und das öffentliche Leben völlig zum Erliegen gebracht.
Trotz zahlreicher Fälle[14] in der jüngeren Geschichte - neben Ecuador auch Ägypten, Haiti, Jordanien, Pakistan, Sri Lanka, oder Tunesien - ergibt sich global gesehen kein eindeutiges Bild. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass Regierungen in ökonomischer Schieflage auch ohne IWF-Beteiligung versuchen, unpopuläre Reformen durchzuführen, die dann zu Protesten führen. Unsere statistischen Methoden[15] berücksichtigen dies, um zu verhindern, dem IWF fälschlicherweise eine Mitverantwortung in die Schuhe zu schieben. Selbst wenn wir diese Probleme berücksichtigen, finden wir jedoch einen starken positiven Zusammenhang allein zwischen der Präsenz des IWF und der Zahl der Massendemonstrationen. Dies legt nahe, dass es das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins gegenüber einer kaum demokratisch legitimierten globalen Institution ist, welches die Menschen zu Protesten bewegt. Als eine der beiden Bretton-Woods-Institutionen wird der IWF von einem intergouvernementalen Exekutivgremium geführt, in dem die Vereinigten Staaten eine Vetomacht sind und reichere Länder den Großteil der Stimmen auf sich vereinigen. Zudem ist die Verwaltung[16] des IWF stark geprägt von Ökonomen, die ihre Ausbildung an US-amerikanischen Eliteuniversitäten absolviert haben. Darüber hinaus ist relativ wenig über die interne Arbeitsweise der IWF-Verwaltung bekannt - der Zugang zu Informationen ist begrenzt[17]. Aus diesen Gründen vermuten wir eine verstärkte Abneigung speziell gegenüber dem IWF in vielen Entwicklungsländern. Unsere Vermutung wird dadurch erhärtet, dass die Ausgestaltung der IWF-Programme selbst keine große Rolle für Proteste spielt. So können wir beispielsweise nicht zeigen, dass IWF-Programme mit strikteren Bedingungen zu mehr Protesten führen.
Unsere Forschung legt also nahe, dass es einen Unterschied machen kann, wie der IWF als Kreditgeber in den betroffenen Ländern auftritt. Der IWF kann einen Einfluss darauf haben, ob Proteste gewaltsam eskalieren. In diesem Zusammenhang sollte sich der IWF genau überlegen, welche Maßnahmen er den Regierungen abverlangt, ihr begrenztes politisches Kapital einzusetzen. Jahrzehntelang hieß die Devise »Viel hilft viel«, was sich leider als gefährlicher Trugschluss herausgestellt hat. Unabhängige Evaluierungen mittels Fallstudien und unsere eigenen statistischen Untersuchungen legen nahe, dass IWF-Programme mit mehr Konditionen eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, abgebrochen zu werden. In Zeiten der Globalisierung kann dies dramatische Folgen haben, da Investoren auf solche Signale reagieren und in massivem Ausmaß Gelder abziehen. Dies kann die Krise zusätzlich verstärken.
Kritiker werfen dem IWF nicht erst seit gestern eine Staaten und Gesellschaften destabilisierende Wirkung vor, einige würden in diesem Zusammenhang sogar von einer gezielten Agenda sprechen. Demnach sei der IWF vor allem ein Akteur zur Durchsetzung einer neoliberalen Politik - soll heißen: Die Vergabe von Krediten von einer Gegenleistung, also einer Umformung bzw. Reformierung des staatlichen und gesamtgesellschaftlichen Gefüges, abhängig zu machen, die in der Trias Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung kulminiert. Dringt diese langjährige und vor allem politisch motivierte Kritik nun auch bis in die Wissenschaft durch?
Reinsberg: Diese Stimmen hat es in der Wissenschaft schon immer gegeben. Nur wurden sie durchaus etwas übertönt von der doppelzüngigen Rhetorik[18] des IWF und den wissenschaftlichen Studien derjenigen, die den Thesen des IWF sympathisch gegenüberstanden und sich daher weniger mit den destabilisierenden Wirkungen der IWF-Reformen befasst haben. Unsere Forschung hat diese Lücke nun mit Hilfe systematischer Datenerhebung und neuester statistischen Verfahren gefüllt.
Was wir jedoch im Zuge unserer Forschung ausklammern müssen, ist die Frage, inwieweit das Ausmaß der Reformen in IWF-Programmen tatsächlich Ausdruck einer gezielten Agenda sind -zum Beispiel um Märkte für US-amerikanische Unternehmen zu öffnen. Diese Frage lässt sich besser durch Detailarbeit in den historischen Archiven beantworten[19], wie es einige Forscher unlängst getan haben. Für uns festzuhalten bleibt, dass im Zeitalter des Neoliberalismus dieses Bündel an Maßnahmen, das auch als Washington Consensus bekannt ist, in nahezu alle IWF-Programme integriert wurde, oftmals ohne die nötige Folgenabschätzung für die Sicherheit.
Blickt man zurück auf den Umgang der wichtigsten internationalen Akteure im Zusammenhang mit der europäischen Finanzkrise der vergangenen Jahre - IWF, Europäische Union bzw. Eurogruppe sowie Europäische Zentralbank -, fällt auf, dass der IWF in mehreren Fragen von den Positionen der beiden anderen Akteure abwich und entgegen seiner sonstigen Agenda beispielsweise für eine Lockerung von Austeritätsprogrammen sowie für eine lockerere Geldpolitik eingetreten ist. Sehen Sie Anzeichen dafür, dass beim IWF eine Art Selbstreflektionsprozess eingesetzt hat, der zu Korrekturen in der eigenen Politik führt? Lernt der IWF möglicherweise aus Krisen oder von anderen Akteuren der internationalen Politik?
Reinsberg: Auf der Basis dieser Beobachtung allein lässt sich noch nicht schließen, dass der IWF nun eine weichere Gangart einschlägt. Die Krise der Europäischen Währungsunion war völlig anders gelagert: Hier kam der IWF erst relativ spät hinzu, um gemeinsam mit der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank die Troika zu bilden. Forscher haben viele Gründe genannt, warum die Europäer - trotz absehbarer Konflikte[20] innerhalb der Troika - den IWF einbezogen haben: Bedarf an technischem Know-how[21], gegenseitige Kontrolle der Troika-Institutionen, und innenpolitischen Gründe. Die Vermutung liegt nahe, dass die Einbeziehung des IWF eine geschickte Maßnahme der deutschen Bundesregierung war, um das Rettungspaket durch den Bundestag zu bringen. Dies funktionierte so gut, da der IWF eine Reputation als »harter Hund« genießt.
Seit der globalen Finanzkrise ist der IWF offener geworden, was auch ein Verdienst der damaligen Direktorin Christine Lagarde war. Insbesondere die Forschungsabteilung hat mit mehreren Studien auf sich aufmerksam gemacht. Ein Beispiel ist der verstärkte Fokus auf Einkommensungleichheit[22]. Ein anderes Beispiel ist eine Studie zur Neuberechnung des fiskalischen Multiplikators, der oft als maßgeblich für den Nutzen staatsfinanzierter Konjunkturprogramme herangezogen wird. Ungeachtet dieser Gedankenspiele hat sich an der Praxis des IWF als Geldgeber - vor allem in den ärmsten Regionen der Welt - kaum etwas geändert. Ein guter Beleg hierfür sind die Programme für die vom Corona-Virus getroffenen Staaten: 76 der 91 IWF-Programme seit März 2020 enthalten Bedingungen zur Reduzierung von Haushaltsdefiziten, die auch Gesundheitssysteme nicht ausschließen - ungeachtet der Tatsache, dass wir in Deutschland gerade Milliarden in die Hände nehmen, um die sozialen Verwerfungen der Corona-Krise abzumildern. Warum sollte dieser Weg den ärmeren Ländern verwehrt bleiben?
So wird es dabei bleiben müssen, dass sozialwissenschaftliche Forschung wie unsere die Arbeit des IWF kritisch begleitet und der nötige Druck über die IWF-Führungsorgane, Nichtregierungsorganisationen und die breite Öffentlichkeit ausgeübt wird, um nachhaltigen Veränderungen in den IWF-Politiken zu erreichen. Insbesondere in Bezug auf Sicherheit muss sich der IWF seiner herausragenden Rolle bewusst werden.
Nachweise
[1] https://www.imf.org/en/About#:~:text=The%20IMF's%20fundamental%20mission%20is,giving%20practical%20help%20to%20members
[2] https://www.brettonwoodsproject.org/topics/conditionality/
[3] https://www.journals.uchicago.edu/doi/abs/10.1086/701703
[4] https://www.jstor.org/stable/41428958
[5] https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0022002715600759
[6] https://books.google.de/books?hl=en&lr=&id=gJsuLTflHecC&oi=fnd&pg=PR5&dq=human+security&ots=X1c3PPCpFR&sig=x3BRr8UxMGVB3ak5L80n3D2CFCc#v=onepage&q=human%20security&f=false
[7] https://www.thelancet.com/journals/langlo/article/PIIS2214-109X(14)70377-8/fulltext
[8] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(11)61556-0/fulltext?version=meter+at+null&module=meter-Links&pgtype=article&contentId=&mediaId=&referrer=&priority=true&action=click&contentCollection=meter-links-click
[9] https://link.springer.com/article/10.1007/s12116-020-09307-4
[10] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0305750X06000210
[11] https://www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/701703
[12] https://doi.org/10.1111/rego.12265
[13] https://www.bbc.co.uk/news/world-latin-america-50038126
[14] https://www.brettonwoodsproject.org/2019/12/uprising-and-discontent-global-protests-erupt-against-imf-backed-policies/
[15] https://doi.org/10.1007/s11558-018-9332-5
[16] https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/09692290.2014.898214?src=recsys&journalCode=rrip20
[17] https://www.jstor.org/stable/4621731?seq=1
[18] https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/09692290.2016.1174953
[19] https://www.journals.uchicago.edu/doi/abs/10.1086/702900
[20] https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/09692290.2019.1632916
[21] https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/09692290.2014.965263
[22] https://www.imf.org/external/pubs/ft/sdn/2015/sdn1513.pdf
Das Interview ▸erschien zuerst auf L.I.S.A., dem Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Georgios Chatzoudis ist Journalist und Redaktionsleiter Online bei der Gerda-Henkel-Stiftung.