Bettina Wagner: „Mobile Beschäftigte sind besonders leicht von Ausbeutung betroffen“
3. April 2013 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Bettina Wagner über die Lebens- und Arbeitssituation von mobilen Beschäftigten und die Hintergründe temporärer Arbeitsmigration in Europa. Bettina Wagner ist Arbeitswissenschaftlerin. Sie promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin im Bereich der Arbeitssoziologie. Seit August 2010 ist sie im DGB-Beratungsbüro für Entsandte Beschäftigte in Berlin tätig.
Was sind denn eigentlich mobile Beschäftigte?
Bettina Wagner: Mobile Beschäftigte sind Staatsangehörige aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die sich vorübergehend in Deutschland aufhalten, um hier zu arbeiten. Dabei verlagern sie nicht notwendigerweise auch ihren Lebensmittelpunkt hierher. Im Augenblick kann man bei mobilen Beschäftigten zwischen vier verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen unterscheiden: freizügige ArbeitnehmerInnen, entsandte ArbeitnehmerInnen, Saisonarbeitskräfte und (Schein-) Selbstständige. Je nach Status gibt es unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen und dementsprechend auch Hindernisse und Probleme.
Im Rahmen der EU-Erweiterungsrunde von 2004 wurde die Möglichkeit geschaffen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, eine der Grundfreiheiten in der Europäischen Union, übergangsweise einzuschränken, um den nationalen Arbeitsmarkt ausreichend auf den Zuwachs von Arbeitsuchenden vorzubereiten. Während der Übergangszeit von maximal sieben Jahren können diese Staatsbürger/innen nur nach erfolgreichem Antrag der Arbeitserlaubnis EU in Deutschland arbeiten. Seit Mai 2011 gilt diese Einschränkung jedoch nur noch für Beschäftigte aus Rumänien und Bulgarien, und zwar bis Januar 2013.
Die zweite Möglichkeit, vorübergehend in Deutschland zu arbeiten, ist als entsandte/r Beschäftigte/r. Durch die Dienstleistungsfreiheit hat eine polnische oder spanische Firma demnach die Möglichkeit, ihre Leistungen grenzübergreifend anzubieten, einen Auftrag in Deutschland anzunehmen und für die Durchführung dieses Auftrags die eigenen Mitarbeiter für maximal zwei Jahre aus dem Herkunftsland zu entsenden. Entsandte Arbeitnehmer haben grundsätzlich ihren Arbeitsvertrag im Herkunftsland abgeschlossen und sind demnach auch arbeits- und sozialrechtlich an die Gesetze im Herkunftsland gebunden. Dies wird vor der Entsendung geprüft und bescheinigt.
Die dritte Gruppe umfasst die saisonal Beschäftigten, hier gibt es seit diesem Jahr unabhängig von der Übergangsregelung keine Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Betriebe, die Saisonarbeitskräfte benötigen, müssen diese lediglich bei der Zentralen Arbeits- und Fachvermittlung anmelden.
Die vierte Gruppe von mobilen Beschäftigten, die jedoch den größten Zuwachs erfährt, ist die Gruppe der Soloselbstständigen. Durch die Niederlassungsfreiheit kann jede/r Staatsbürger/in eines Mitgliedsstaates in Deutschland ein Gewerbe anmelden und dann Dienste auf dem Markt anbieten. Die steigende Anzahl der Gewerbeanmeldungen von Bürgerinnen und Bürgern aus den neuen Mitgliedsstaaten der EU lässt vermuten, dass während der noch geltenden Übergangsregelungen die Niederlassungsfreiheit als Alternative genutzt worden ist.
Was ist die besondere Problematik der mobilen Beschäftigten?
Bettina Wagner: Grundsätzlich ergibt sich die besondere Problematik aus der Tatsache, dass der Lebensmittelpunkt perspektivisch im Herkunftsland bleibt. Dadurch entsteht in vielerlei Hinsicht eine Ausgangssituation, in der mobile Beschäftigte besonders leicht von Ausbeutung betroffen sein können. Die Vorbereitungen vor der Ankunft in Deutschland sind sehr allgemein, und der Großteil der Betroffenen spricht nur wenig oder gar kein Deutsch. Auch haben sie sich häufig nur wenig mit den für sie geltenden Rechten und Pflichten auseinandergesetzt. Zudem sind sie eher bereit, suboptimale Lebens- und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, da die Situation nur als vorübergehend angesehen wird. Dadurch entsteht ein Szenario, in dem mobile Beschäftigte ganz besonders gefährdet sind, in prekäre Arbeitsverhältnisse zu rutschen, Opfer von Lohnausbeutung oder sogar von Menschenhandel zum Zwecke der Arbeitsausbeutung zu werden.
Die mangelnde Transparenz und das Wissen über die Unterschiede zwischen der rechtlichen Lage im Heimatland und in Deutschland machen mobile Beschäftigte besonders angreifbar. Bei der klassischen Entsendung tauchen dabei die häufigsten Probleme im Bereich der Entlohnung und der Arbeitsbedingungen auf. In Branchen wie zum Beispiel in der Pflege wird der Mindestlohn umgangen, indem die Arbeitnehmer/innen nicht als Pflegekräfte, sondern als Haushaltshilfen mit gelegentlichen Pflegetätigkeiten entsandt werden. In vielen Branchen, wie zum Beispiel in der Fleischverarbeitung, wird unter dem Mantel der Entsendung systematisch Sozialbetrug begangen. Die Arbeitnehmer/innen werden im Heimatland für den Zweck der Entsendung eingestellt und dann wiederholt mit Zwei-Jahres-Verträgen über Werkvertragsabkommen an eine in Deutschland angesiedelte Firma entsandt. Bei saisonalen Beschäftigten ist vor allem die unklare Definition dessen, was unter saisonaler Beschäftigung fallen darf, problematisch. So kann fast jeder Betrieb, dessen Arbeitsaufkommen saisonal variiert, Saisonarbeitskräfte beschäftigen – zum Beispiel im Gastgewerbe oder in der Landwirtschaft.
Bei Soloselbstständigen ist die Problematik besonders komplex. Hier ist vermehrt zu erkennen, dass zwar Gewerbe angemeldet werden, faktisch jedoch mobile Beschäftigte in die Scheinselbstständigkeit geraten. So arbeiten Gewerbetreibende aus den neuen Mitgliedstaaten häufig zu einem vereinbarten Stundenlohn ohne eigenes finanzielles Risiko oder eigene Arbeitsmaterialien, weisungsgebunden, ohne selbst über die Art oder den Umfang der Tätigkeit sowie die Arbeitszeit bestimmen zu können. Da es jedoch keine rechtliche Definition von Scheinselbstständigkeit gibt, muss in jedem einzelnen Fall anhand der tatsächlichen Umstände geprüft werden, ob eine Selbständigkeit vorliegt oder ob es sich um ein faktisches Arbeitsverhältnis handelt. Die Soloselbstständigkeit wird von den jeweiligen Auftraggebern häufig als gezielte Strategie zur Umgehung von arbeits-, ordnungs- und sozialrechtlichen Regelungen genutzt. Sie hat sich inzwischen als bevorzugte Einstellungsbedingung von Beschäftigten aus den Mitgliedstaaten der europäischen Union etabliert.
Gibt es verlässliche Daten oder zumindest Vermutungen über die Herkunft der Betroffenen sowie über die Branchen und Regionen, in denen sie eingesetzt werden?
Bettina Wagner: Verlässliche Daten sind nur bedingt verfügbar, da nicht jeder dieser Beschäftigungsstati statistisch erfasst wird. Bei freizügigen Arbeitnehmer/innen gab es im Juni 2011 laut Bundesagentur für Arbeit 850.532 Beschäftigte aus anderen Mitgliedsstaaten der EU, die in Deutschland sozialversicherungspflichtig gemeldet waren. Hingegen gibt es noch keinen Gesamtüberblick über die genaue Anzahl der in Deutschland tätigen entsandten Beschäftigten, sondern es liegen nur branchenspezifische Teildatensätze vor. So sind 2011 nach Angaben der Sozialkasse Bau 69.308 Beschäftigte allein in der Baubranche nach Deutschland entsandt worden. Zu den saisonalen Beschäftigten hat die Bundesregierung 2011 angegeben, dass 2009 rund 282.698 Saisonarbeitskräfte aus den neuen Mitgliedstaaten der EU zugelassen worden seien, davon 184.241 aus Polen und 89.172 aus Rumänien.
Welche politischen Maßnahmen wären vonnöten, um Lohndumping und Ausbeutung mobiler Beschäftigter zu unterbinden?
Zunächst einmal sollte bei allen zukünftig beitretenden EU-Staaten grundsätzlich auf die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit verzichtet werden. Es hat sich gezeigt, dass diese Einschränkungen lediglich zur Verlagerung des Mobilitätsstatus’ in die (Schein-) Selbstständigkeit führen, was wiederum Lohndumping und Ausbeutung noch einfacher macht. Zudem sollten alle Branchen in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufgenommen und ein branchenübergreifender Mindestlohn eingeführt werden. Letzterer ermöglicht es, statusunabhängig sicherzustellen, dass mobile Beschäftigte nicht ausgebeutet oder die heimischen Löhne unterboten werden. Des Weiteren wäre in Deutschland eine Arbeitsinspektion einzuführen. Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in Deutschland nur die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die zwar – wie der Name schon sagt – Schwarzarbeit und Finanzbetrug untersucht, nicht aber die Einhaltung von rechtlichen Vorgaben bei den Arbeitsbedingungen. Hier wäre eine Arbeitsinspektion dringend notwendig, um der Ausbeutung von mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entgegenzuwirken.
Welchen Beitrag können Beratungsbüros leisten, um die Situation mobiler Beschäftigter zu verbessern?
Bettina Wagner: Ein dichtes Netz an Beratungsbüros ist im ganzen Bundesgebiet notwendig, um der systematischen Ausbeutung von mobilen Beschäftigten entgegenzuwirken. Dabei braucht es sowohl proaktive als auch problembezogene Beratung. So ist es bei entsendeten Beschäftigten zum Beispiel entscheidend, möglichst frühzeitig Informationen anzubieten und bereits vor Vertragsabschluss über die bestehenden Rechte aufzuklären, um etwaigem Arbeits- und Sozialversicherungsbetrug vorzubeugen. Wir beobachten in unserem Berliner Beratungsbüro einen ständigen und hohen Zuwachs an Anfragen von mobilen Beschäftigten. Gleichzeitig wächst die Komplexität der arbeitsrechtlichen Sachverhalte, mit denen die Beraterinnen konfrontiert werden.
Wir informieren die Arbeitnehmer/innen über ihre Rechte und Pflichten im deutschen Arbeits- und Sozialrecht. Eine notwendige Bedingung für die erfolgreiche Beratung und Unterstützung von mobilen Beschäftigten ist dabei, dass das Beratungsangebot in der jeweiligen Muttersprache erfolgt. Durch die Informationsarbeit des Beratungsbüros wird ein wesentlicher präventiver sowie auch problembezogener Beitrag zum reibungslosen Verlauf des Arbeitsverhältnisses im Interesse der Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber geleistet. Bei konkreten Fällen des Lohnbetrugs oder der Missachtung von individuellen Rechten arbeiten wir eng mit den Gewerkschaften der einzelnen Branchen und auch mit unabhängigen Anwälten zusammen, um die mobilen Beschäftigten zu unterstützen.
Der frühere niedersächsische Arbeitsminister Jörg Bode (FDP) allerdings sah keinen Handlungsbedarf und verweist die Betroffenen an Zoll und Polizei.
Bettina Wagner: Zoll und Polizei sind hier nur sehr bedingt zuständig. Sie sind beide nicht mit der fallspezifischen Aufklärung über die Rechte und Pflichten im Arbeits- und Sozialrecht befasst. Daher ist dieser Vorschlag schlichtweg falsch. Allein ein dichtes und bundesweit existierendes Netz an Beratungsstellen kann diesen Bedarf decken.
Dieses Interview erschien zuerst in WISO-Info 4/2012.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.