CDU-Vize geht IfW-»Studie« auf den Leim: Carsten Linnemann im Fake-Netzwerk
7. November 2022 | Johannes Steffen
Am 3. November veröffentlichte das Institut für Weltwirtschaft (IfW) ein Papier zu »Bürgergeld und Lohnabstandsgebot«. Das Handelsblatt übersetzte es in die Headline: »Wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt« . Und am späten Abend des 3.11. hatte CDU-Vize Linnemann bei »Maybrit Illner« seinen »großen« Auftritt im ZDF.
Carsten Linnemann gab dort zum Besten:
Wir haben heute Morgen im Handelsblatt vom Institut der Weltwirtschaft in Kiel – ganz seriös – die einfach mal acht verschiedene Konstellationen ausgerechnet haben. Die kommen zu dem Schluss, dass in sechs verschiedenen Konstellationen es besser ist, man nimmt das Bürgergeld, als wenn man arbeitet. Und da reden wir nicht um zwei, drei Euro. Da gibt es eine Familie, einmal mit drei Kindern, einer arbeitet Vollzeit, Geringverdiener, der hat, wenn er arbeiten geht, 880 Euro weniger, als wenn er das Bürgergeld bekommt. Selbst wenn man gar keine Kinder hat, ein Paar, einer arbeitet im Niedriglohnbereich, aber Vollzeit, die haben immer noch 230 Euro weniger, als derjenige, der in Deutschland arbeitet.
Ist Arbeit in Deutschland eigentlich gar nichts mehr wert? Frau Illner, ich sage es Ihnen ganz ehrlich, eigentlich müsste man ein Denkmal bauen, für die Menschen, die in Deutschland arbeiten gehen. Wie wollen Sie das jemandem rechtfertigen, einem Geringverdiener, der in Deutschland jeden Morgen um sechs Uhr aufsteht, auf den Wecker klopft und arbeiten geht? Wollen Sie dem das rechtfertigen, das der 800 Euro weniger hat? Natürlich könnten Sie jetzt sagen, der kann ja zum Amt gehen und aufstocken, aber was ist das denn für ein Gesellschaftsbild? 40 Stunden arbeiten und dann gehe ich noch aufstocken, um das gleiche zu bekommen wie jemand, der nicht arbeitet? Da bin ich raus. Das ist nicht meine Politik und hat mit sozialer Marktwirtschaft gar nichts, aber auch rein gar nichts mehr zu tun.
Die Rechnungen des IfW, denen ▸Carsten Linnemann vor einem Millionenpublikum »ganze Seriosität« attestiert, um sie dann für seine parteitaktischen Zwecke zu nutzen, haben mit Sachkenntnis und erst Recht mit Wissenschaft – um es mit Linnemanns Worten zu sagen – »gar nichts, aber auch rein gar nichts mehr zu tun«.
Das Muster ist immer das gleiche: Es gibt eine öffentliche Debatte, das akademische Personal mit einem Institutsnamen im Rücken, enthusiastischem Eifer im Herzen und wenig bis gar keiner Fachkenntnis in der Sache schneidert »wissenschaftliche Belege« – und Politik braucht sich argumentativ nur noch zu bedienen. – Werfen wir also einmal einen Blick auf das Rechenwerk, das Linnemann so gut zupass kommt.
Fallkonstellation: Die Autoren des IfW betrachten verschiedene Haushaltskonstellationen mit jeweils nur einem zum allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn (12 Euro/Stunde) Erwerbstätigen. Wohnort ist Hamburg und es besteht Kirchensteuerpflicht. Der Bruttolohn wird durchgehend mit 1.920 Euro angesetzt, was einer 37-Stunden-Woche entspricht. Bei Haushalten mit Kindern wird das Alter der Kinder so gewählt, dass bei der Bedarfsermittlung einmal ausschließlich die für Minderjährige niedrigste Regelbedarfsstufe 6 (alle Kinder unter sechs Jahre) und einmal die höchste Regelbedarfsstufe 4 (alle Kinder mindestens 14 Jahre) zum Zuge kommt. Anschließend werden die verfügbaren Einkommen der Haushalte miteinander verglichen – also der nicht erwerbstätige Haushalt im Bürgergeldbezug mit dem Erwerbstätigenhaushalt. Die Differenz wird von den Autoren als »Lohnabstand« bezeichnet.
Bedarfsberechnung und Bedarfskomponenten: An Bedarfskomponenten des Bürgergeld-Haushalts werden berücksichtigt
- der Regelbedarf (Summe der Regelsätze) sowie
- die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU), die sich aus Bruttokaltmiete und Heizkosten zusammensetzen.
Den Mehrbedarf Alleinerziehender kennen die Autoren augenscheinlich nicht. Auch scheint ihnen entgangen zu sein, dass in Paar-Haushalten den beiden Erwachsenen jeweils die Regelbedarfsstufe 2 (künftig 451 Euro) zusteht – zusammen also 902 Euro – und nicht dem einen die Regelbedarfsstufe 1 (künftig 502 Euro) und dem anderen die Regelbedarfsstufe 2; sie setzen damit den Regelbedarf der Eltern mit 953 Euro um 51 Euro zu hoch an.
Rechtsstand-Vergleich: Während die Berechnungen des IfW bei der Ermittlung des Bedarfs auf den Entwurf des Bürgergeld-Gesetzes (Rechtsstand 2023) zurückgreifen, erfolgt die Ermittlung von Steuern und Sozialabgaben, des Kinder- und Wohngelds auf Basis des geltenden Rechts (Rechtsstand 2022) - obwohl auch hier die Entwürfe für ein Inflationsausgleichsgesetz (InflAusG), ein Wohngeld-Plus-Gesetz sowie die erweiterte Midi-Job-Regelung (alle Rechtsstand 2023) bereits länger bekannt sind.
Vorgelagerte Sozialtransfers: Auffallend ist auch die augenscheinliche Unkenntnis bezüglich des Kinderzuschlags oder des Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende, die beide in den Berechnungen des IfW nicht vorkommen.
Alle Punkte zusammengenommen führen zu zum Teil eklatanten Fehl-Vergleichen, wie den folgenden Berechnungen von Portal Sozialpolitik – basierend auf den heute bekannten Werten für 2023 – zu entnehmen ist.
Bei der Bedarfsberechnung vernachlässigen die Autoren des IfW den Mehrbedarf Alleinerziehender und kommen so zu einem niedrigeren Gesamtbedarf.
In allen Konstellationen liegt das verfügbare Einkommen des Erwerbstätigen-Haushalts bei korrekter Rechnung deutlich oberhalb des verfügbaren Einkommens eines nicht erwerbstätigen Haushalts im Bürgergeldbezug – und das trotz des von Portal Sozialpolitik höher angesetzten Gesamtbedarfs (Berücksichtigung des Mehrbedarfs bei Alleinerziehenden). Die Spanne des Lohnabstands zwischen den IfW-Berechnungen und den korrekten Werten beträgt zwischen 146 Euro und 1.150 Euro.
Die Berechnungen des IfW vernachlässigen den Kinderzuschlag sowie den Unterhaltsvorschuss, greifen bei Ermittlung der Abgaben, des Kindergeldes und Wohngeldes auf 2022er Werte zurück und kommen so zu einem viel zu niedrigen verfügbaren Einkommen des Erwerbstätigen-Haushalts.
Bei Paar-Haushalten wird der Regel- und damit auch der Gesamtbedarf – wegen der falschen Regelbedarfsstufen-Zuordnung – durchweg um 51 Euro zu hoch ausgewiesen.
In allen Konstellationen liegt das verfügbare Einkommen des Erwerbstätigen-Haushalts oberhalb desjenigen eines nicht erwerbstätigen Haushalts im Bürgergeldbezug. Selbst der von Carsten Linnemann zitierte Fünf-Personen-Haushalt hat bei Erwerbstätigkeit nicht 880 Euro weniger als der Bürgergeld-Haushalt, sondern 254 Euro mehr. Die Spannweite des »Lohnabstands« zwischen Fake und korrekter Berechnung beträgt 1.138 Euro!
Aber: In fünf der sieben Fälle besteht Anspruch auf aufstockendes Bürgergeld – weil der Lohn viel zu gering ist, um zusammen mit den übrigen Transferzahlungen (Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld) die Leistungsberechtigung nach SGB II auszuschließen. Um dies zu erreichen, müsste der ausgewiesene Lohnabstand beim kinderlosen Paar mindestens 348 Euro und bei Paaren mit Kind mindestens 378 Euro betragen (Werte gelten ab Juli 2023).
Wer aufstockendes Bürgergeld bezieht kann nicht gleichzeitig Kinderzuschlag oder Wohngeld erhalten. Diese Sozialtransfers entfallen und werden durch das Bürgergeld ersetzt. Daher fällt der Aufstockungsbetrag durch das Bürgergeld entsprechend hoch aus – obwohl der Differenzbetrag zwischen tatsächlichem und erforderlichem Lohnabstand teilweise recht gering ist.
Bei erwerbstätigen Aufstocker-Haushalten mit einem Bruttolohn von mindestens 1.200 Euro (ohne Kind) bzw. 1.500 Euro (mit Kind) liegt das verfügbare Einkommen immer um 348 bzw. 378 Euro oberhalb des Gesamtbedarfs eines vergleichbaren nicht erwerbstätigen Haushalts. Machen die berechtigten Haushalte ihren Anspruch auf aufstockendes Bürgergeld geltend, dann wird die Spannweite des »Lohnabstands« zwischen Fake und korrekter Berechnung noch einmal größer.
Die Autoren haben ihren Beitrag nur einen Tag nach Veröffentlichung wieder zurückgezogen:
Die Autoren danken für Hinweise, die sie zu ihren Berechnungen erhalten haben. Illustriert werden soll nur der mangelnde Abstand zwischen Lohneinkünften und Bürgergeld. Eine ergänzte Version wird die Hinweise berücksichtigen, um Fehlinterpretationen vorzubeugen. Daher wird die Erstversion zunächst von der Website genommen.
Stellt sich dem erstaunten Beobachter die Frage: Wenn es »nur« um die Illustration des mangelnden Abstands zwischen Lohneinkünften und Bürgergeld geht, warum wurden dann Kindergeld und Wohngeld (mit Stand 2022 und damit falsch) in die Berechnungen aufgenommen – Kinderzuschlag und Unterhaltsvorschuss dagegen nicht?
Die Begründung für den Rückzug des Papiers ist ebenso fragwürdig wie die zurückgezogenen Berechnungen selbst. - Die Meldungen vom 3. November bleiben derweil in der Welt und sind nicht rückrufbar.
Der Artikel erschien zuerst auf ▸www.portal-sozialpolitik.de. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Johannes Steffen ist Experte für Sozialpolitik und betreibt http://www.portal-sozialpolitik.de/.