Christian Baron: „Auch viele akademische Linke verschleiern ihre Privilegien“
27. April 2017 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Christian Baron über die Verachtung der Linken gegenüber der Arbeiterklasse. Baron ist linker Kulturjournalist und Autor des Buches „Proleten, Pöbel, Parasiten. Wie die Linken die Arbeiter verachten“.
Die Grundthese Ihres Buches ist, dass es in der Linken arbeiterfeindliches Denken und eine Kultur der Arbeiterfeindlichkeit gibt. Sie verknüpfen das mit Ihrer persönlichen Biografie und persönlichen Erlebnissen: Sie berichten offen von selbst erfahrener Gewalt, vom Verfall ihrer einst von Industrie geprägten Herkunftsstadt Kaiserslautern, von ihren Minderwertigkeitsempfindungen an der Universität, vom teilweise und zeitweise schwierigen Verhältnis zu ihrer Familie, von kaum verhohlener Verachtung vieler Linker gegenüber Ihrer Herkunft aus der Arbeiterklasse. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Christian Baron: Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, ob ich meine Beobachtungen wissenschaftlich aufarbeiten kann oder nicht. Relativ schnell habe ich gemerkt, dass das ohne einen universitären Hintergrund mit den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten und Ausstattungen nicht machbar ist. Zugleich habe ich meine Überlegungen zur Verachtung der Linken gegenüber den Arbeitern in zahlreichen Gesprächen mit anderen Linken weiterentwickelt. Dabei sind mir auch immer wieder Beispiele aus meiner eigenen Biografie eingefallen. Ich habe bemerkt, dass diese Verbindung aus Erzählung und Analyse anhand konkreter Lebensbeispiele funktionieren kann. Weil ich ja selbst auch studiert habe, war mein erster Impuls, dass man das doch wissenschaftlich aufarbeiten können müsste. Aber der andere Weghat sich schnell als sehr fruchtbar erwiesen. Beispiele sind gesprudelt, Zusammenhänge haben sich mir beim Schreiben auf diese eher journalistische Weise erschlossen.
War es schwer, sich derart nackt zu machen, wie Sie es in Ihrem Buch tun? Sie lassen tausende Leserinnen und Leser an sehr persönlichen Erlebnissen teilhaben, die andere Menschen lieber verdrängen möchten…
Christian Baron: Ja, vor allem, weil das Dinge sind, über die ich mir selbst über viele Jahre hinweg keine Gedanken mehr gemacht habe. Die Verknüpfung aus Persönlichem und meinem Links-Sein hat in mir so eine Art psychologischen Prozess in Gang gesetzt. Das war teilweise sehr schmerzhaft, aber es hat erst einmal mir persönlich geholfen. Was für das Buch zunächst unwichtig ist. Ich glaube aber, letztendlich hat es auch dem Buch und der Sache geholfen, weil ich mich so auf dieser erzählenden Ebene sehr tief in die Thematik eingraben konnte. Und zwar ohne dass ich das nur mit Zahlen, Daten und Wissenschaft machen musste, was ja immer eine sehr distanzierte Art ist. Ich habe einen radikal subjektiven Ansatz gewählt. Der war emotional sehr aufwühlend, aber es ist meines Erachtens genau der Ansatz, den dieses Buch braucht. Man darf das nicht abwehren, sondern darf keine Angst vor Emotionen haben. Man muss sie zulassen und entsprechend schreibend verarbeitend. Den Mut dazu musste ich mir aber erst einmal abringen. Ich habe mir diese persönliche Ebene lange vom Hals gehalten. Noch die erste Fassung des Buches, sie war vor etwa zweieinhalb Jahren fertig, enthielt diese persönliche Ebene nicht. Ich habe bemerkt, dass das nicht aufging, es war eine rein polemische Suada. Da ist mir nur der Ausweg geblieben, mich persönlich ins Spiel zu bringen. Das birgt natürlich immer die Gefahr, dass man mir vorwirft, ich wolle mich gegen Kritik immunisieren. Aber es funktioniert eben nur so. Nicht zuletzt die antisexistischen und antirassistischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte haben ja auch nur so funktioniert: Menschen haben sich persönlich in die Schlacht geworfen und ihr eigenes Schicksal offengelegt. Sie haben klargemacht, wer da spricht.
Woher kommt nun gerade bei Linken diese Arbeiterfeindlichkeit?
Christian Baron: Das ist natürlich ein sehr starker Begriff, aber wir können ihn schon benutzen. Ich spreche ja auch sehr bewusst von Verachtung. Ich glaube, ein zentrales Problem der deutschen Linken ist, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten vergessen hat, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Sie hat sich einreden lassen, dass das heute nicht mehr der Fall sei. Dass der Klassenkampf keine Rolle mehr spiele. Wir haben infolge dessen eine sehr stark identitätspolitisch geprägte Linke in Deutschland, die die soziale Frage vernachlässigt. Das ist für mich das zentrale Problem. Diese Entwicklung hat zu einer Entfremdung gegenüber Menschen und Gruppen geführt, die aufgrund eben dieser Klassengesellschaft in der Linken unterrepräsentiert sind. Menschen ohne akademische Bildung sind in Deutschland selten in linken Gruppen aktiv. Dadurch haben sich quasi Parallelgesellschaften entwickelt. Das ist kein bewusstes „Ich hasse jetzt die Arbeiter“. Es ist eine Entfremdung, die sich – so würde man soziologisch sagen – in Distinktionsstrategien ausbildet. Man will sich unterscheiden von „denen da“.
Das mag sofort einleuchten bei eher sozialdemokratischen oder grünen Linken, und sicherlich auch bei linken Poststrukturalistinnen. Aber Sie prügeln (amüsant und heftig) auch auf klassische marxistische Linke an der Universität ein. Bei denen sollte man ja aber eigentlich meinen, die haben eine Vorstellung von Klassenkampf?
Christian Baron: Ja, das tragen die ja auch sehr offensiv vor sich her. Das Problem bei den akademischen Marxisten ist zumindest in Deutschland der Anspruch, sie müssten die Arbeiterklasse bilden und qualifizieren. Sie glauben, das theoretische Wissen zu haben, und deshalb müssten sie ihre Weltsicht weitergeben. Und zwar an die da unten, mit denen sie bisher nicht so viel zu tun hatten – weil die Klassengesellschaft sie eben vom Studium ausgeschlossen hat. Und denen müssen sie jetzt erklären, was der Marx da so geschrieben hat und wie sie die Revolution zu machen haben. Denn die seien ja das revolutionäre Subjekt. Die Widersprüche in der Arbeiterklasse selbst werden dann negiert. Die Verachtung der Marxisten gegenüber der Arbeiterklasse ist weniger ein Über-die-Menschen-Lachen als ein Idealisieren. Sie hängen einem Proletkult an, der überhaupt nicht mehr zeitgemäß ist. Sie haben offenbar in weiten Teilen immer noch die Vorstellung einer Arbeiterklasse als Ansammlung starker Männer mit starken Armen, die morgens in die Fabrik gehen und widerwillig arbeiten. Sodass nur die Marxisten mit den blauen Bänden in die Fabrik gehen müssten, um die Revolution auszulösen. Aber das funktioniert natürlich nicht. Ein zweiter Punkt ist, dass dieser Proletkult zum Irrtum führt, Arbeiter seien per se links, man müsse ihnen das nur sagen. Das ist natürlich Quatsch. Gerade in der Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten stellt sich das jetzt als Problem heraus. Arbeiter sind eben nicht per se links.
Würden Sie zustimmen, wenn ich sage, dass in Ihrem Buch zwei Bestandteile der Verachtung von Arbeitern immer wieder auftauchen: eine ideologische, politische Ebene und eine eher kulturelle. Ich meine mit letzterem beispielsweise Bad-Taste-Partys, Augenrollen bei bestimmten Vornamen oder wenn akademische Linke in Diskussionsrunden bestimmte Wörter fallen lassen, um zu prüfen, wer damit vertraut ist und wer nicht.
Christian Baron: Ja, ich denke, das trifft es ganz gut. Ein weiteres Beispiel: Es gibt ja durchaus linke Gruppen, die nicht mehr diesen Proletkult betreiben. Die sprechen dann von den 99 Prozent, die sie angeblich vertreten. Damit verschleiern sie letztlich kulturell die Privilegien, die sie haben. So wird mir gesagt, ich solle mich nicht über die Akademiker echauffieren. Die seien ja auch gezwungen, ihre Arbeitskraft an den Kapitalisten zu verkaufen. Das ist natürlich analytisch korrekt. Aber die feinen Unterschiede, die es gibt und die sich vor allem kulturell auswirken, die fußen eben auch auf ökonomischem Kapital, wie Bourdieu das mal beschrieben hat. Die Akademiker, die zunehmend auch prekarisiert werden, in Armut leben, haben die Möglichkeit, nach dem Studium zu sagen, ich ziehe jetzt nochmal einige Zeit ins Reihenhaus zu meiner Mutter, und irgendwann kommt dann der gute Job. Das können natürlich die, deren Eltern den ganzen Tag am Band stehen, nicht sagen. Das sind diese Unterschiede, die durch manche Linke mit ihrer undifferenzierten Vorstellung von Klassengesellschaft kulturell wieder verschleiert werden. Eine komplizierte Strategie, die hier angewendet wird.
Haben Sie sich diese Strategie schon zu Studienzeiten bewusst gemacht, oder erst später?
Christian Baron: Ich würde sagen, dass ich von einem Großteil der marxistischen Lehre nach wie vor überzeugt bin. In einer Gruppe, in der ich damals aktiv war, gab es einen Schlüsselmoment, der mir genau diese Problematik vor Augen geführt hat. Ich habe mich damals mit einem Genossen getroffen, wir haben auch über Privates gesprochen. Er erzählte, dass er nun nach Berlin ziehe. Ich sagte, da seien die Mieten ja teuer und fragte, wie er das hinbekäme. Er wurde ganz verschämt, sah mich nicht mehr an, und kam irgendwann mit der Sprache heraus: Seine Eltern hatten ihm eine Wohnung gekauft. Beide waren Lehrer und verrentet. Er schämte sich dafür, nie mehr Miete bezahlen zu müssen. Er wusste natürlich um meine Situation. Und empfand es als unangenehme Offenlegung, dass er gar nicht der Arbeiter sei, als der er sich ausgab. Das war für mich der Schlüsselmoment, von dem an ich solche Mechanismen hinterfragte. Es gibt in der Linken Strategien, die aus verständlichen psychologischen Gründen angewendet werden, derer man sich aber irgendwann bewusst werden muss. Es sind Strategien des Verdrängens und Beiseiteschiebens der eigenen privilegierten Herkunft, verschleiert durch das große Sprechen darüber, was Marx und Lenin und andere so alles gesagt hatten.
Die Rezensionen zu Ihrem Buch loben oder verteufeln dieses – es scheint nichts dazwischen zu geben. Wie waren die Reaktionen der Linken, der Freunde, der Bekannten, mit denen Sie darüber gesprochen haben?
Christian Baron: Am interessantesten waren die Reaktionen von Linken, die ich gar nicht kenne. Denn Freunde kritisieren mal einzelne Punkte, sagen aber vielleicht nicht immer ganz die Wahrheit, wenn sie das Buch nicht mögen. Diejenigen, die auf Lesungen mit mir diskutieren oder mir E-Mails schreiben, sagen häufig: Ich teile nicht alles, aber es bricht in der gesellschaftlichen Linken etwas auf. Alleine dafür hat es sich schon gelohnt, auch wenn man sich an vielen Stellen bei der Lektüre ärgert. Das ist ja auch durchaus so gewollt. Der polemische Ton, der für linke Zusammenhänge eher ungewohnt plakative Titel, meine diskutable Definition von Arbeiter oder mein pauschalisierendes Herangehen wird überwiegend positiv wahrgenommen. Das hat mich überrascht. Andere hingegen, etwa die so genannten Antideutschen, verteufeln mich rundweg. Sie lassen erkennen, dass sie sich auf den Schlips getreten fühlen. Das gilt auch für das queer-aktivistische Spektrum. Die lehnen meine Grundthese ab und sagen, es gebe keine Verachtung der Arbeiter durch Linke. Das sei eine Phantasiethese, die man wissenschaftlich belegen müsse, damit man sie anerkennen könne. Dass ich biografisch schreibe und erlebte Beispiele schildere, reiche nicht aus und sei nicht legitim, wolle man eine Diskussion voranzubringen. Das ist natürlich insofern witzig, als Identitätspolitik ja gerade davon lebt, dass man von konkreten Schicksalen und von sich selbst ausgeht. Die schönste Reaktion, die ich bekommen habe, die kam übrigens nicht von einem Linken. Sie wurde mir von einem Freund übermittelt, der Kontakte zum nach rechts offenen Spektrum hat. Er berichtete mir von einem älteren Mann, der ganz begeistert von meinem Buch gesprochen habe. Das Buch und die darin formulierte Kritik an den Linken habe verhindert, dass er rechts geworden sei. Das war jemand, der mit Rassismus und Nationalismus nichts anfangen kann, aber das Empörungsempfinden dieses nach rechts offenen Spektrums teilt.
Eine Ihrer Schlussfolgerungen aus Ihren Ãœberlegungen zur Verachtung der Arbeiter ist, dass wir einen linken Populismus brauchen. Von den meisten Linken wird das ja eher kritisch gesehen.
Christian Baron: Die Linke ist die einzige politische Strömung, die keinen Populismus hat. Die Rechten haben ihn, und die Liberalen auch. Die Linken hingegen haben aus meiner Sicht das Problem, dass sie mit der Identitätspolitik, die sie betreiben, und mit dem sehr differenzierten Argumentieren, weil der Kapitalismus ja so komplex sei, über keine eigenen Begriffe verfügen, die eingängig sind, sodass die Menschen sie begreifen. Und es mangelt ihnen an Mut zu radikalen Forderungen. Die Linke muss aus ihrer Defensive herauskommen. Das gelingt nicht, indem man sich an den Rockzipfel der SPD hängt. Und es gelingt nicht, indem man sich zu Tode differenziert. Und es gelingt erst recht nicht, wenn man sich blind an den liberalen Populismus andockt. Der hat auf eine sehr raffinierte Art die Identitätspolitik für sich vereinnahmt. Wenn Mark Zuckerberg – als ein Vertreter dieses liberalen Populismus – Donald Trump wegen seiner rassistischen Einwanderungspolitik kritisiert, dann bekommt er von Linken viel Zuspruch. Was nur leider nicht erwähnt wird: Zuckerberg ist nur so lange gegen Rassismus, wie die Eigentumsverhältnisse nicht in Frage gestellt werden und er billige Arbeitskräfte aus dem globalen Süden für sich schuften lassen kann. Dieser liberale Populismus ist eben auch eine Strategie, um bestimmte Privilegien abzusichern. Und das lässt sich nur durch eine linke populistische Gegenstrategie bekämpfen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.